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Der 9. November 1989 - Mauerfall oder Grenzöffnung?1

In meinem Beitrag2 möchte ich mich mit der Frage befassen, wie in den zurückliegenden Wochen im Zusammenhang mit der Wende 1989 und den Feierlichkeiten zum 10. Jahrestag des sogenannten Falls der Mauer „geschichtliche Aufarbeitung" betrieben wurde. Dazu drei Beispiele.

Die sogenannte Öffnung der Mauer

Man sprach am 9. November 1999 bei den Feierlichkeiten mit Absicht nicht von der Öffnung der Grenzübergangsstellen an der Grenze der DDR zur BRD sowie an der Grenze zu West-Berlin sondern bewußt in der Sprache des Kalten Krieges vom Fall der Mauer.

Die Ehrengäste bei diesen Feierlichkeiten, Helmut Kohl, Michail Gorbatschow und George Bush hatten überall ihre Auftritte. Aus meiner damaligen Verantwortung heraus kann ich jedoch einschätzen, daß diesen Politikern so gut wie keine unmittelbaren Berührungspunkte, keine Einflußnahme und keine Verdienste bei der Öffnung der Grenzübergangsstellen am 9. November 1989 zuzurechnen sind.

Folgende Tatsachen beweisen diese Feststellung:

Helmut Kohl befand sich damals in Warschau, zweimal hat er nachweislich nachfragen lassen, ob es stimme, daß die DDR-Führung die Grenzen geöffnet habe. George Bush hat sich ebenfalls mehrmals erkundigt, ob die Information aus Deutschland richtig sei und erst durch das Fernsehen, durch die Bilder aus Berlin, erfuhr er konkret, daß die Grenzübergangsstellen geöffnet seien.

Was Michail Gorbatschow betrifft, so habe ich das zum Teil selbst erlebt. Auf die Frage beim großen Fernsehauftritt, was er am 9. November 1989 abends getan habe, gab er dem Moderator trotz Nachhaken keine Antwort. Nachweislich hat Gorbatschow am 9.11.1989 abends keine Information über die Öffnung der Grenzübergangsstellen erhalten. Er hat die erste Nachricht darüber am 10. November entgegengenommen.

Als Leiter der operativen Führungsgruppe des Nationalen Verteidigungsrates befand ich mich am 10. November 1989 ab 6.45 Uhr im Arbeitszimmer von Egon Krenz. Dort hat der sowjetische Botschafter Kotschemassow mit mir drei Telefongespräche geführt. Um 9.00 Uhr fragte mich Kotschemassow: „Wer hat die Genehmigung zur Öffnung der Berliner Grenze gegeben bzw. mit wem wurde dieser Schritt abgestimmt?" Mit ihm seien nur Maßnahmen besprochen worden, die die Grenze zur BRD betreffen. Berlin habe einen besonderen Viermächtestatus und die Handlungsweise der DDR-Organe habe der Autorität der Sowjetunion Schaden zugefügt.

Meine Antwort war, ich würde dieses Problem Egon Krenz vortragen. Er möge gegen 9.30 Uhr noch einmal anrufen. Bei seinem zweiten Anruf teilte ich ihm mit, daß Außenminister Oskar Fischer beauftragt worden sei, ihm den Sachverhalt zu erklären.

Gegen 9.45 Uhr erhielt ich den dritten Anruf von Botschafter Kotschemassow. Er teilte mir mit, Moskau sei über unsere Handlungsweise verstimmt. Im Interesse der Aufrechterhaltung guter Beziehungen zwischen der DDR und der Sowjetunion wäre es zweckmäßig, sofort ein Telegramm an Michail Gorbatschow zu schicken und unser Vorgehen zu begründen. Wir haben in der operativen Führungsgruppe dieses Telegramm sofort vorbereitet. Während der Tagung des ZK der SED habe ich Egon Krenz dieses Dokument zur Unterschrift vorgelegt.

Aus all dem ergibt sich die Frage: Worin bestanden die Verdienste der oben genannten Politiker bei der Öffnung der Grenzübergangsstellen? Warum haben sie nicht den Mut aufgebracht, offen und ehrlich zu sagen, daß sie von der Öffnung der Grenze durch die Partei- und Staatsführung der DDR überrascht wurden? Die Antwort ist klar. Die Wahrheit paßt nicht in das Bild über die DDR und die führenden Politiker der DDR.

Es ist doch typisch für die „Aufarbeitung" der jüngsten Geschichte, daß kein einziger Verantwortlicher, der die Öffnung der Grenzübergangsstellen veranlaßte, an der Feierstunde des Deutschen Bundestages teilnahm. Es nahm auch keiner derjenigen teil, die verhindert haben, daß es unter den von Schabowski verursachten chaotischen Zuständen zur Anwendung der Schußwaffe kam.

Zum angeblichen Befehl aus Moskau, daß die Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte während der Wende 1989 ihre Kasernen nicht verlassen durfte

In fast allen Zeitungen und Zeitschriften konnte man lesen, Gorbatschow und Schewardnadse hätten verhindert, daß während der Wende 1989 die Panzer gerollt seien. Dafür wurden sie mit hohen Orden der Bundesrepublik ausgezeichnet und mit dem Doktortitel geehrt. Am 14. November 1999 konnte man z. B. im „Berliner Kurier" lesen: Orden für Schewardnadse - Berlin sagt Danke. Er und sein Freund Gorbi hätten damals die Panzer zurückgehalten. Das mache Schewardnadse zu einem Vater der Einheit.

Es wird behauptet, Honecker und Krenz hätten die NVA deshalb nicht eingesetzt, weil die Russen in Wünsdorf den Befehl aus Moskau hatten, in ihren Kasernen zu bleiben.

Abgesehen davon, daß es während der Wende 1989 weder bei Honecker noch bei Krenz Überlegungen gab, die NVA und die Westgruppe im Innern der DDR einzusetzen, so hätten die annähernd 400.000 Mann der bewaffneten Kräfte der DDR doch voll ausgereicht, bestimmte Aufgaben allein zu erfüllen.

Wie verhielt es sich tatsächlich? Wer hat von wem welche Befehle erhalten oder hat wem welche Bitten vorgetragen?

Egon Krenz und ich haben am 13. Oktober 1989 nach der Beratung mit der Bezirkseinsatzleitung Leipzig gegen 17.00 Uhr Erich Honecker den Befehl 9/893 vorgelegt. Nach der Unterzeichnung meldete ich Erich Honecker, daß der Minister für Nationale Verteidigung befohlen habe, in der jetzigen politischen Situation keine größeren Truppenbewegungen und Truppenübungen der NVA durchzuführen. Die Westgruppe führe aber ihre Übungen mit größeren Truppenbewegungen durch. Wenn deren Truppenteile ihre Kasernen, insbesondere in den Räumen Leipzig/Dresden/Potsdam/Berlin verließen, könne das zu falschen Schlußfolgerungen führen. Es wäre zweckmäßig, wenn auch die Westgruppe in dieser Periode keine größeren Truppenbewegungen durchführen würde.

Erich Honecker beauftragte mich, deren Oberkommandierenden, Armeegeneral Snetkow, zu bitten, nach Möglichkeit in den kommenden Tagen und Wochen keine größeren Truppenübungen durchzuführen. Am 14. Oktober habe ich diese Bitte Armeegeneral Snetkow vorgetragen, der für unser Anliegen volles Verständnis zeigte und versicherte, er werde den Nachgeordneten die erforderlichen Weisungen geben. Gleichzeitig brachte er zum Ausdruck, daß die Westgruppe immer bereit sei, bei Notwendigkeit den Waffenbrüdern der Nationalen Volksarmee die erforderliche Hilfe und Unterstützung zu gewähren.

Schlußfolgernd kann festgestellt werden: Die Partei- und Staatsführung der DDR hat den Oberkommandierenden der Westgruppe gebeten, die Truppen nach Möglichkeit in den Kasernen zu belassen. Von einem Befehl aus Moskau für diese Maßnahme war niemals die Rede.

Zu Todesfällen an der Staatsgrenze

Egon Krenz, Heinz Keßler, Klaus-Dieter Baumgarten und auch ich haben wiederholt betont: Jeder Tote an der Grenze war ein Toter zuviel. Das war und ist unsere ehrliche Überzeugung, die wir auch überall vertreten.

Man kann darauf warten, daß im Interesse einer ideologisch genehmen geschichtlichen Aufarbeitung zu bestimmten politischen Höhepunkten immer neue, höhere Zahlen über die Toten an der Staatsgrenze genannt werden. Sprach man beim Honecker-Prozeß 1992 noch von 284 Toten (wobei diese Zahl nach meiner Kenntnis der Realität nahe kommt)4, so waren es beim Politbüro-Prozeß 1996/97 schon 490 Tote -also doppelt so viele. Vor der Bundestagswahl im August 1998 sprach man bereits von 938 Toten. Der Bundespräsident sprach am 9. November 1999 bei der Festveranstaltung von annähernd 1.000 Toten an der Grenze.

Zur Aufhellung der Wahrheit möchte ich in diesem Zusammenhang eine persönliche Erfahrung, ein konkretes Beispiel anführen. In der Zeit von 1979 bis 1989, also im Verlaufe von 11 Jahren, in denen ich die Funktion des Chefs des Hauptstabes des MfNV innehatte, gab es an der Staatsgrenze der DDR zur BRD bzw. zu Berlin-West 24 Tote durch den Einsatz der Schußwaffe und 4 Tote durch die Auslösung von Minen. Wir hatten also in 11 Jahren insgesamt 28 Tote, das heißt im Jahr 2-3 Tote, zu verzeichnen. Nach den oben genannten Veröffentlichungen müßte man jedoch von jährlich 25-30 Toten an der Grenze ausgehen. Auch hier sehen wir anschaulich: Der Kalte Krieg ist vorbei, aber das Denken in den Kategorien des Kalten Krieges hat überlebt.

Abschließend möchte ich noch kurz auf eine andere Frage eingehen. Nicht wenige ehemalige Angehörige der Streitkräfte der DDR werden durch Gerichte als Zeugen zu Prozessen bestellt. Das betrifft auch mich. Bisher wurde ich zu 11 Prozessen als Zeuge geladen. An 29 Verhandlungstagen habe ich dem jeweiligen Gericht, den Staatsanwaltschaften sowie den Verteidigern Rede und Antwort gestanden. Erst vor kurzem war ich zum Grenzer-Prozeß in Stendal geladen, in dem sieben Oberste des Grenzkommandos Nord angeklagt wurden. Im Verlauf von vier Stunden war ich bestrebt, dem Gericht und der Staatsanwaltschaft die militärische Grenzsicherung als Verpflichtung im Warschauer Vertrag darzulegen. Durch das Landgericht Frankfurt/Oder habe ich bereits die nächste Ladung als Zeuge erhalten.

Die politische Strafverfolgung und die Prozesse gegen Angehörige der DDR-Streitkräfte werden also zügig fortgesetzt. Jede Illusion ist hier fehl am Platze. In keinem Land des früheren Warschauer Vertrages beobachten wir solche politischen Strafprozesse, wie sie in Deutschland praktiziert werden. Kein anderer Staat, der in der Systemauseinandersetzung gesiegt hat, geht mit seinem früheren Gegner so um wie die BRD.

Fritz Streletz


Redaktionelle Anmerkungen:

1 Leicht gekürztes und bearbeitetes Redemanuskript vom 4.12.1999

2. Nachdruck des Textes mit Genehmigung des Autors aus: „ Was war die NVA?" Berlin 2001, S. 581-583; Herausgeber: Arbeitsgruppe Geschichte der NVA und Integration ehemaliger NVA-Angehöriger in Gesellschaft und Bundeswehr beim Landesvorstand Ost des Deutschen Bundeswehrverbandes.

3 Nach Befehl Nr. 9/89 über „Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung in Leipzig" haben die Bezirkseinsatzleitung Leipzig und die Kreiseinsatzleitungen der Stadt mit sofortiger Wirkung „die Führungsbereitschaft in ihren stationären Objekten herzustellen". Zusätzlich wird angewiesen, „alle Maßnahmen vorzusehen, um
geplante Demonstrationen im Entstehen zu verhindern. Der aktive Einsatz polizeilcher Kräfte und Mittel erfolgt nur bei Gewaltanwendung gegenüber Objekten auf Befehl des Vorsitzenden der Bezirkseinsatzleitung LEIPZIG. Der Einsatz der Schusswaffe im Zusammenhang mit möglichen Demonstrationen ist grundsätzlich verboten." (Anmerkung der Redaktion des unter 1 genannten Herausgebers)

4 Die Ermittlungsbehörden der BRD haben in einigen zehntausend Ermittlungsverfahren den Nachweis erbracht, wie viele Bürger der DDR beim Versuch, die Grenzen der DDR zur BRD und zu Westberlin illegal zu überschreiten, durch Schusswaffeneinsatz bzw. durch Minen ums Leben gekommen sind (284), und zwar in dem Zeitraum 1961 (Grenzschließung) bis 1989 (Grenzöffnung), in dem Erich Honecker Mitglied bzw. Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates war. Alle im weiteren genannten darüber hinausgehenden Zahlen berücksichtigen auch die Toten, die bei Fluchtversuchen in der Ostsee oder Elbe ertranken, an der Grenze Ungarn-Österreich und auch anderswo ums Leben kamen. Die Zahl 1.000 dürfte allerdings eine Erfindung sein. Aussagekräftiger sind folgende Zahlen: Von 1992 bis 2000 wurden 190 Prozesse gegen Angehörige der Grenztruppen und der NVA durchgeführt. Die Gerichte verkündeten 26 Haftstrafen, 152 Freiheitsstrafen mit Bewährung und 83 Freisprüche. Diese Zahlen widersprechen eindeutig der Angabe von 1.000 „Mauertoten", da ein großer Teil der Verurteilten (Kommandeure, Stabsoffiziere) selbst nicht geschossen hat


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