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Herbst 1989
Erinnerungen an die Wendezeit bringen mir die stärksten Erschütterungen meines Lebens wieder ins Bewußtsein.
Eine persönliche Krise hatte meine Gesundheit stark angeschlagen. In diese hinein erkannte ich im August 1989 die Anzeichen einer großen gesellschaftlichen Krise im Innern der DDR. Die Anzahl der Ausreisewilligen schwoll an und wurde öffentlich sichtbar. Neben solchen, durch die Medien der BRD dokumentierten Ereignissen wie z. B. der Beginn des „Auslaufens" der DDR - nach oder während des Festes der Pan-Europa-Union - von 600 DDR-Bürgern am 19. August 1989 (sie konnten unter den Augen der ungarischen Grenzer nach Österreich flüchten und dort mit Unterstützung der BRD-Botschaft die Reise in die Bundesrepublik Deutschland antreten) gab es auch Zeichen, die sichtbar machen sollten: „Wir wollen raus!" Der Ausreisewillige band an seine Autoantenne ein kleines weißes Band. Daß diese Pkws nicht nur Begleitfahrzeuge von Hochzeitsgesellschaften waren, wie ich es bis dahin kannte, sondern noch eine andere Bedeutung hatten, wurde mir bei ständiger Zunahme ihrer Anzahl klar. Ein junger Freund klärte mich auf über diese solidarische moralische Aufmunterung der Ausreisewilligen an die noch Wankelmütigen, doch auch ihren Antrag zur „ständigen Ausreise" aus der DDR zu stellen. Dieser nicht nur für mich sichtbar gewordene angestaute Druck suchte ein Ventil. Das wurde durch die Volksrepublik Ungarn in Absprachen mit der BRD geschaffen.
Am 10. September kündigte die ungarische Regierung an, sie wolle DDR-Bürgern die Ausreise nach dem Westen gestatten. Das erfuhr ich am Abend, als ich zur „Tagesschau" umschaltete.
Antifaschismus und Lebensmaxime
Am Vormittag hatte ich an der Kundgebung zur Ehrung der Opfer des Faschismus und der Widerständler in Leipzig teilgenommen. Obwohl ich mich gesundheitlich in sehr schlechter Verfassung fühlte, war ich mit der Straßenbahn zum Karl-Marx-Platz gefahren. Warum wohl?
Meine Kindheitserlebnisse bis 1945 und all das, was ich in der Zeit danach noch über den deutschen Faschismus sehen und lesen konnte, haben mir den Anti-Faschismus zur Lebensmaxime gemacht, obwohl ich im Jungvolk ein aktiver „Pimpf war. Das ist aus meinem Rückblick nicht ganz verwunderlich, denn ich hatte Erlebnisse, die mich emotional tief berührten, weil ich das Vorgehen der SA, SS oder uniformierter Wachmänner gegen Juden, Ostarbeiter sowie Gefangene als unmenschlich und ungerecht empfand. Ich konnte als Schulkind nicht mit ansehen, wenn mehrere Jungen aus Freude am Raufen einen anderen verprügelten, nur weil der z. B. in einer anderen Straße wohnte oder in eine andere Schule ging. Heute sagt man zu einem solchen Verhalten, es sei unfair.
Doch zurück zu dieser Teilnahme an den jährlichen Erinnerungsveranstaltungen „Nie wieder Faschismus". Sie waren für mich immer ein Bedürfnis. Um so mehr war ich an diesem Tag verwundert über die relativ geringe Teilnehmerzahl auf dem größten Veranstaltungsplatz Leipzigs und über den Inhalt der Reden sowie den Verlauf der Veranstaltung. Es war für mich ein wichtiges politisches Krisensignal, das mich veranlaßte, noch intensiver die politischen Informationen aus DDR- und BRD-Medien zu verfolgen, um die verschiedenen Erscheinungsformen und Ursachen der Krisensymptome zu erkennen und mich nach den Ursachen zu fragen. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nahmen zu, Versorgungslücken wurden immer mehr sichtbar. Die politische Unzufriedenheit in allen Schichten und sozialen Gruppen wie auch in den politischen Organisationen wuchs von Monat zu Monat, von Woche zu Woche.
Ventil zum Auslaufen
Die Tage nach dem 10. September zeigten, die Ausreise über Ungarn war in vollem Gange. Zuerst nutzten bestimmte Gruppen von DDR-Bürgern, die sich im schönen Ungarland aufhielten bzw. die Ausreisewilligen, die sich in der Hoffnung zum schnellen Sprung nach Österreich dort aufhielten, die für sie geöffnete Grenze. Mit dem Versuch der DDR, die potentiellen Flüchtlinge schon an der eigenen Grenze abzuhalten, war das „Auslaufen" der Unzufriedenen aus der DDR nicht mehr zu verhindern. Die politische und wirtschaftliche Situation verlangte nach Reformen.
Neue politische Strukturen entstanden neben den bisherigen, die wie gelähmt erschienen und es zum großen Teil auch wirklich waren. Es ärgerte mich sehr, daß aus den oberen Parteistrukturen der SED des Bezirkes und der Zentrale (Politbüro und Zentralkomitee) keine konstruktiven Ansätze einer neuen Politik erkennbar wurden. Es gab auf die immer sichtbarer werdende Misere keine Reaktionen von Partei und Regierung. Für mich war es nicht verwunderlich aber doch überraschend, daß der Monat September geprägt war von den Gründungen oppositioneller Gruppenformen, die vorgaben, aus Sorge um das Land und die weitere Entwicklung des Sozialismus den Dialog, eine Kurskorrektur und Reformen zu wollen.
Appelle, Aufrufe, Resolutionen
Am 10. September wurde der Gründungsappell des „Neuen Forum" über die Westmedien bekannt gemacht, was mich damals an der lauteren Absicht dieser politischen Gruppe und ihrer Forderung nach einem „gesellschaftlichen Dialog" zweifeln ließ. Ein „Weimarer Brief von vier CDU-Mitgliedern am 11.9.89 forderte von ihrem Hauptvorstand den „innerparteilichen Dialog". Ein „Aufruf zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei der DDR" erschien am 12.9.89 in den Medien, wie auch ein Aufruf der oppositionellen Gruppe „Demokratie jetzt". Diesen Aufruf bekam ich auch per Post, also an mich adressiert. Nach neugierigem Lesen des Textes fand ich ihn akzeptabel. Nachfolgend ein Auszug:
„Was die sozialistische Arbeiterbewegung an sozialer Gerechtigkeit und solidarischer Gesellschaftlichkeit angestrebt hat, steht auf dem Spiel. Der Sozialismus muß nun seine eigentliche, demokratische Gestalt finden, wenn er nicht geschichtlich verloren gehen will. Er darf nicht verloren gehen". (Hervorhebungen vom Autor)
Warum habe ich mich nicht an den Absender gewandt? Ich war und bin der Meinung, daß ich das in der Partei, der SED, zu diskutieren habe, der ich seit 36 Jahren angehörte und die noch die Verantwortung für die Führung der Gesellschaft und des Staates trug. Das habe ich dann auch bis zum Verlust ihrer Führung getan, wenn auch ohne nennenswerten Erfolg.
Es erschienen weitere Äußerungen in den Medien der DDR: Resolution von Ostberliner Schriftstellern, in der eine Kurskorrektur aus „Sorge um die weitere Entwicklung zum Sozialismus" angemahnt wurde (14.9.89). Rockmusiker und Liedermacher forderten Reformen, die den Sozialismus erhalten (18.9.89). Die Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR mahnte Reformen an, um die Gründe für die Ausreise zu beseitigen (19.9.89). Die Synodalen äußerten sich auch zu anderen Problemen. Sie waren gegen den Antikommunismus und gegen eine Diskussion zur Wiedervereinigung.
Wiedervereinigung
Das Thema Wiedervereinigung hatte ich in einer meiner Vorlesungen zum Schutz von Patenten, Lizenzen und anderen Geheimnissen im Frühjahr 1989 ins Gespräch gebracht, weil ich der Auffassung war, die DDR könne in Zukunft wirtschaftlich nur noch existieren, wenn sie den Zugang zu allen wissenschaftlich-technischen Ergebnissen des Westmarktes hätte, wir unsere Leistungen auf diesem Gebiet im fairen Handel absetzen könnten und die verschiedenen Formen der Strangulierungen und Beschränkungen des Außenhandels mit den CoCom-Listen aufgehoben würden. Ich sah eine Möglichkeit, über eine langjährige Konföderation sukzessiv der wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Einheit nahe zu kommen, indem eine in den Eigentumsformen gemischte Wirtschaftsführung, die nicht dem Grundgesetz der BRD widersprechen würde, die wichtigste Grundlage dafür wäre.
Die Reaktion der Lehrgangsteilnehmer, der Führungskader aus Handel und örtlichen Staatsorganen am ISW (Institut für sozialistische Wirtschaftsführung) der HHL (Handelshochschule Leipzig), konnte ich als sehr differenziert erkennen. Aber die Mehrheit hatte meine Auffassung als eine theoretische Variante verstanden, wie mir nach einer Parteigruppenversammlung zu diesem Thema mitgeteilt wurde. Schaute ich in die Aufrufe und Resolutionen der Bürgerbewegung, so hielten alle im September und Oktober bis mindestens zum 9. November an der Eigenständigkeit der DDR oder anders, an zwei deutschen Staaten fest. Das geht auch aus dem Gründungsaufruf der Vereinigung „Demokratischer Aufbruch" hervor (9.9.89). Dort hieß es: „... Reform oder Erneuerung des sozialistischen Systems in der DDR."
Reformierung des sozialistischen Systems
Aus den Äußerungen der oppositionellen Gruppen wurde deutlich, daß das sozialistische System reformiert, aber nicht beseitigt werden sollte. An den Strukturen der Vergesellschaftung des wirtschaftlichen Eigentums, also genossenschaftlichem und Volkseigentum, wollte man festhalten. So war auch der Gedanke eines demokratischen Sozialismus in den Äußerungen zu erkennen.
Die Losungen und Sprechchöre auf der Demonstration am 25.9. auf dem Karl-Marx-Platz und dem Innenstadtring in Leipzig waren nicht nur „Wir wollen raus!" und „Freiheit!" sondern auch stark aufkommend „Wir bleiben hier!" In letzterer steckte einerseits die Mahnung an Partei und Regierung: „Uns werdet ihr nicht durch Ausreise los!" und andererseits die Aufforderung zur Reformierung des sozialistischen Systems.
Ich hatte ab diesem Zeitpunkt den Eindruck, daß die Gruppe „Neues Forum" etwas gut machen wollte, denn die Verkündung ihres Gründungsappells über die Westmedien hatte den psychologischen Geruch, konterrevolutionäre Aktivitäten aus der BRD in die DDR tragen zu wollen. Damit war ihr Einfluß bei der großen Zahl von DDR-Bürgern, die für Veränderungen durch Reformen, aber bei Erhalt des sozialistischen Systems eintraten, sehr gering. Die Wertung von drei öffentlichen Äußerungen des „Neuen Forum" überlasse ich dem Leser:
4. Oktober, in einem Aufruf: „... Wir haben nichts zu tun mit antikommunistischen Tendenzen" und in der Erklärung zum 40 Jahrestag der DDR steht unter anderem: „... Wir protestieren gegen die Versuche der Regierung, uns als Sozialismusfeinde darzustellen", und dann schließt sich eine (meiner Meinung nach sehr richtige) Feststellung an: „Nicht das Neue Forum, sondern die Untätigkeit der SED gefährdet den Sozialismus". Es forderte, die SED-Mitglieder mögen ihre führende Rolle endlich ausüben!
12. Oktober: Politbüro-Erklärung signalisierte Reformbereitschaft.
Neues Forum begrüßte die Gesprächsbereitschaft und schrieb weiter: „Dieser echte ... Dialog hat ... zu erfolgen bei Anerkennung der Eigenständigkeit der DDR ... auf dem Boden der Verfassung."
Aus diesen politischen Standpunkten zog ich damals, Anfang Oktober, den Schluß, daß in dem „Aufbruch '89 - Neues Forum" keine in sich geschlossene Konzeption für die Beseitigung der DDR existierte; daß unter dem Eindruck der Vorbereitung und Durchführung des 40. Jahrestages der DDR die Unzufriedenheit zunehmend wuchs; daß die Wünsche und Forderungen nach Reformen in unterschiedlichen Foren andiskutiert wurden; daß aber an eine Beseitigung des politischen und ökonomischen Systems der DDR noch nicht gedacht wurde. Das stärkte meine Hoffnung, man würde die gesellschaftliche Krise bewältigen können, so wie in anderen vergangenen Fällen in den vier Jahrzehnten der DDR. Sicher hätte mich das Schweigen der Partei- und Staatsführung zu der ausgebrochenen Krise im September bis zum 7. Oktober noch nachdenklicher machen müssen. Meine Unzufriedenheit mit der Handlungsfähigkeit von Partei und Regierung war gewachsen.
Zentralismus deformiert Demokratie• ■
Die Auswüchse des Zentralismus in der Partei, die sich mit Honecker als Generalsekretär wieder wie in der Ulbricht-Ära entwickelten, hatten auch zur Lähmung eigenverantwortlicher demokratischer Ideen und Aktivitäten geführt. Das Prinzip des demokratischen Zentralismus war zugunsten des Zentralismus und zur Deformierung des Demokratismus realisiert worden. Diese Erkenntnis war eine eindringliche Bestätigung meiner schon längere Zeit gehegten Meinung, die ich auch als Zirkelleiter im Parteilehrjahr mit Genossen Studenten diskutiert hatte. Die Depression der mitgliederstarken SED in diesen Wochen war Ausdruck, ja Bestätigung dieser Erkenntnis.
In der Festrede, die von Honecker als Generalsekretär der SED und Staatsratsvorsitzender der DDR zum 40. Jahrestag gehalten wurde, waren eine Aufzählung bisheriger Erfolge und viele Allgemeinplätze enthalten. Keine Einschätzung der Krisensituation, keine Idee zur Veränderung, kein neuer Politikansatz. Insofern war zu erwarten, daß die Demonstration am 9. Oktober in Leipzig die Unzufriedenheit, die Enttäuschung großer Bevölkerungsschichten noch mehr sichtbar machen wurde. Damit nicht Teile der Studentenschaft der Handelshochschule Leipzig aus Neugier oder politischer Unzufriedenheit an der Demo teilnehmen, wurde durch Parteileitung und Rektor ein Kreis von Hochschullehrern, die einen guten, vertrauensvollen Kontakt zu den Studenten hatten, gebeten, in den Internaten mit bestimmten Seminargruppen das Gespräch zu fuhren, anstehende weitere Probleme kennenzulernen, sowie über einen kritisch-sachlichen Dialog zu Grundfragen der Demokratie, der Meinungs- und Pressefreiheit und den Reisemöglichkeiten ins westliche Ausland zu reden.
Das von mir mit 13 bis 16 Studenten im Internat des Lemseler Weges geführte Gespräch verlief offen, kritisch, aber vertrauensvoll. Auch als ein Kommilitone ziemlich am Ende unseres zirka zweistündigen Gesprächs mit aktuellen Informationen von der Demonstration kam und berichtete, daß ein Großaufgebot von bewaffneter Bereitschaftspolizei und anderen Sicherheitskräften in den angrenzenden Straßen des Rings um die Innenstadt stationiert war, gab es keine Veränderung in der Gesprächsatmosphäre. Die Mitteilung, daß kein Schuß gefallen ist, war wichtig. Die im Laufe des Tages entstandenen Gerüchte, daß die Demonstration mit Gewalt aufgelöst werden sollte, hatten sich zum Glück nicht bestätigt. Die Losung: „Gewalt löst keine Probleme", die von kirchlichen Arbeitskreisen in Friedensgebeten verbreitet wurde, sowie von sechs bekannten Persönlichkeiten Leipzigs (Bernd Lutz Lange, Roland Wötzel, Peter Zimmermann, Kurt Masur, Jochen Pommert, Kurt Meyer) in einem Aufruf mit den Worten „Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit", ist von Staatsorganen und Demonstranten eingehalten worden. Auf der Demonstrationsstrecke war von den Teilnehmern immer wieder zur Gewaltlosigkeit aufgerufen worden. Die Einhaltung der Losung deutete sich aber schon Stunden vor der Kundgebung und Demonstration an. Es war für mich beim Durchqueren der Innenstadt von West nach Ost verwunderlich, daß die Kampfgruppenhundertschaft, der ich bis 1987 angehörte, sich bei meiner Begegnung mit ihr auf dem Neumarkt ohne Waffen an ihren Einsatzort begab; war es doch am 7. und 8. Oktober in Dresden, Berlin und Leipzig zu Ausschreitungen gekommen. Aus zunächst friedfertigen Menschenansammlungen unternahmen Rowdies und Gewalttäter verbale und tätliche Angriffe gegen eingesetzte Ordnungskräfte.
Der Dialog beginnt
Die Zeit nach dem 9.10. durchlebte ich mit wachsender Unzufriedenheit und der sich noch starker öffnenden Schere zwischen meinem noch bestehenden Vertrauen in die Fähigkeit der Parteiführung, sich für notwendige Reformen zu offnen, und dem wachsenden Zweifel daran, ob es dem alternden Politbüro und Zentralkomitee gelingen wurde, bei Sicherung der sozialen Errungenschaften, wesentliche Erweiterungen und Qualifizierungen der sozialistischen Demokratie und - auf der Grundlage der DDR-Verfassung - einen erheblichen Ausbau staatsbürgerlicher Rechte und Freiheiten auf den Weg zu bringen. Die Forderungen nach freien Wahlen, Zulassung von Oppositionsgruppen und Reisefreiheit auf 24 Demonstrationen in der Woche vom 16. bis 22.10.1989 zeugten vom immer größeren Verlust des Vertrauens zur Partei- und Staatsführung.
Diese Forderungen waren der öffentlichen Diskussion wert, weil sie zuerst viele hunderttausende, dann Millionen politisch interessierte Burger bewegten. Sie fühlten sich mit ihren Interessen durch die SED und die mit ihr verbündeten Blockparteien CDU, LDPD, NDPD und DBD nicht mehr vertreten. Das sachliche Gespräch mit dem Ziel der Veränderung durch Reformen wurde zur zwingenden Notwendigkeit. So wie in Europa das „neue Denken" bis zur Gorbatschowschen Idee „eines gemeinsamen europäischen Hauses" führte, das den Dialog als politische Form des Erkennens der übergreifenden gemeinsamen Interessen bei Respektierung von gegensätzlichen Standpunkten pflegt, so kann auch in der Innenpolitik der Dialog helfen, daß andersdenkende Mitbürger als Mitglieder der DDR-Gesellschaft Probleme beim Namen nennen, die einer Lösung bedürfen. In diesem Sinne gab es in der Woche vom 9.10. bis zum 15.10. in Leipzig eine Reihe von Initiativen zum politischen Dialog.
Sie begannen mit dem Aufruf der sechs Persönlichkeiten aus Kultur, Wissenschaft und Politik zur Besonnenheit und zum sachlichen Gespräch. Dem folgte die Willenserklärung von Mitarbeitern des Gewandhauses zum Dialog, der Vorschlag des Superintendenten F. Magerius zur „Schaffung einer Stätte des breiten Dialogs", die Erklärung der Mitglieder des Kabaretts „academixer" sowie der vom Rektor der Karl-Marx-Universität, Horst Hennig, in der Moritzbastei am 15.10. veranstaltete politische Frühschoppen: „Der Sozialismus der 90er Jahre". Alle diese Initiativen zielten auf das sachlich-kritische wie konstruktive besonnene Gespräch.
In der Politbüro-Erklärung vom 12.10.89 in „Neues Deutschland" wurde auf die Forderungen aus Leipzig eingegangen und die Bereitschaft der SED zu einem Dialogangebot unterbreitet.
Die Bereitschaft zum Dialog war meiner Meinung nach ein wichtiges Eingeständnis dafür, daß nicht nur Einwirkungen von außen, sondern auch viele Ursachen im gesellschaftlichen Leben der DDR selbst zu den Ausreiseforderungen und der Fluchtbewegung geführt hatten.
Zum Auftakt der sonntäglichen Gesprächsreihe, der Dialoge am Karl-Marx-Platz (22.10.89), und an einigen Veranstaltungen danach habe ich teilgenommen.
Besonders in Erinnerung geblieben ist mir die weltmännische Souveränität des Gewandhausdirektors Kurt Masur. Als Moderator ging er mit Verständnis, Sachlichkeit, Objektivität und Toleranz auf die manchmal sehr emotionalen Äußerungen von Diskussionsrednern ein, bat aber auch um eine Kultur der gegenseitigen Respektierung und der Achtung gegenüber Andersdenkenden.
Aus meinen Besuchen zu Dialogveranstaltungen, ob im Gewandhaus, academixer-Keller oder Schauspielhaus, gewann ich immer den Eindruck, daß die ganz große Mehrheit der Teilnehmer zum streitbaren, sachlichen Disput mit den Vertretern der Staatsorgane, der SED, der Blockparteien, wissenschaftlicher Einrichtungen und mit Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens - auch Spezialisten zu Sachfragen - gekommen war. Dabei wurden der DDR-Staat an sich, von bestimmten Organen (MfS) abgesehen, und das gesellschaftliche Eigentum sowie das soziale Sicherheitssystem nicht in Frage gestellt. Die Diskutanten, die in den Veranstaltungen sprachen, übten Kritik, machten manchmal „ihrem Herzen Luft", brachten Überlegungen und Vorschlage ein oder hatten viele Fragen, wollten Erklärungen für diese oder jene staatliche Entscheidung. Es war immer ein interessantes demokratisches Forum. Im Vergleich zu den Betriebsversammlungen, auf denen auch relativ offen diskutiert wurde, nahm in den Dialogveranstaltungen keiner mehr ein Blatt vor den Mund.
Heute hört man oft die Erfahrung: „In der DDR konnte man im Betrieb den Mund aufmachen, aber in der Kneipe mußte man die Klappe halten." In den Gaststätten kann man jetzt die Klappe aufmachen, aber in den Unternehmen muß der Mund gehalten werden. Darin steckt viel Wahrheit und eine neue Erfahrung, die der Systemwechsel zum Thema Meinungsfreiheit mit sich brachte.
Krenz übernimmt das Ruder
Am 18. Oktober sitzen wir als Arbeitskollektiv in geselliger Runde im „Club der Journalisten" (Neumarkt), wobei neben unterhaltenden auch politische Gespräche geführt werden. Wir sind in guter Stimmung. Essen und Trinken schmecken. Zum Lachen gab es hin und wieder auch Grund, bis in den Abendstunden der Fernseher eingeschaltet und eine Rede von Krenz angekündigt wurde.
Unser Clubraum grenzte an einen Versammlungsraum, in dem zu gleicher Zeit ein Gespräch (Dialog) der Mitglieder des Schriftstellerverbandes der DDR im Bezirk Leipzig mit dem Sekretär für Wissenschaft der SED-Bezirksleitung, Dr. Roland Wötzel (Mitunterzeichner des Aufrufes der sechs Persönlichkeiten aus Leipzig vom 9.10.89) stattfand. Sie unterbrachen ebenfalls ihre Veranstaltung, um sich die Rede des neuen Generalsekretärs Egon Krenz anzuhören. Der war kurz zuvor im ZK der SED auf Vorschlag des Politbüros der SED gewählt worden. Am Tag vorher hatte das Politbüro die Mitglieder Honecker, Mittag und Hermann von ihren Funktionen einstimmig entbunden. Die drei Betroffenen hatten der Entbindung zugestimmt.
Die Politik der „Wende", wie sie Krenz in seiner Rede verkündete, war gar nicht dazu angetan, dem neuen Generalsekretär Achtung zu verschaffen. Das war die einhellige Meinung meiner Kolleginnen und Kollegen, sowie jener Schriftsteller, mit denen ich einige Worte wechselte.
Dialog verdrängt Gewaltbereitschaft
Mir war das Dialogangebot in Erinnerung geblieben, mit dem die SED in die politische und ideologische Offensive gehen wollte, ohne den Sozialismus auf deutschem Boden in Frage zu stellen. „Wir lassen uns von der festen Überzeugung leiten, daß alle Probleme in unserer Gesellschaft politisch lösbar sind." Diese politische Vorgabe des Generalsekretärs schloß also die offene Gewaltanwendung durch die Staatsorgane aus. Minister Mielke äußerte in einer Beratung des erweiterten Führungskreises des Ministeriums für Staatssicherheit am 21.10.89, Gewalt dürfe nur noch eingesetzt werden, wenn eine unmittelbare Gefährdung von Personen, Objekten und Sachen vorläge und sie nicht anders abzuwenden sei. (H. H. Hertle, Chronik des Mauerfalls, Chr. Links Verlag, Berlin 1996, S. 88).
Diese politische Linie hielt ich für richtig und unterstützte sie, ohne damals die Dimensionen auch in Bezug auf Gewalt zu erfassen und auch ohne die Schlußfolgerung für das MfS zu ahnen bzw. zu erkennen. Es ist insofern die Antwort auf eine Frage, die ich mir öfter stellte oder im Gespräch mit anderen aufwarf: Was war die Ursache des friedlichen Verlaufs der Wende, obwohl doch mehrere bewaffnete Organe existierten. Es fiel kein Schuß, auch nicht, als am 4. Dezember eine Gruppe, die sich später als Bürgerkomitee konstituierte, die „Runde Ecke" (Bezirksverwaltung des MfS) besetzte und die Hausmacht übernahm.
An diesem Montag war ich wieder in einer Gruppe von ca. 150 bis 200 Studenten aus Leipzig im Demonstrationszug mit der DDR-Fahne und unserem Sprechchor „Für unser Land". Auf dem Karl-Marx-Platz hatten neun Redner von der Empore der Oper in ganz kurzen Worten gesprochen. Einer von ihnen informierte, daß in der DDR in mehreren Bezirksstädten die Gebäude der Staatssicherheit besetzt werden. Gleiches geschah in Leipzig. Die Gruppe von dreißig Vertretern des Neuen Forum, dem Demokratischen Aufbruch und der Vereinigten Linken hatte schon gehandelt, bevor wir mit dem Demonstrationszug, der nach meiner Erinnerung nach innen - gegen uns - sehr spannungsgeladen war, dort ankamen. Vom Karl-Marx-Platz bis zum Dittrichring wurden wir mit dem Sprechchor „Rote aus der Demo raus" moralisch unter Druck gesetzt, ebenso durch Rempeleien, Drohungen mit Worten und dem Vorzeigen eines kleinen Galgens (etwa 30 cm) mit einer daran hängenden Puppe. Der Demonstrant überließ uns die Deutung seiner Geste. Die uns umgebende Atmosphäre löste bei den meisten Mitstreitern Ängste aus, die durch kollektives Mutmachen und Geschlossenheit der Gruppe - bei lauter werdenden Sprechchören - gedämpft bzw. verdrängt wurde. Als die Spitze des Demozuges an der Runden Ecke ankam, wurde Halt gemacht. Es gab eine sehr große Stauung. Das Gebäude war von der Straßenseite des Dittrichrings durch eine Kette von Personen, die quer über den Oberkörper eine weiße Schärpe mit der Aufschrift „Keine Gewalt!" oder „Neues Forum" trugen, abgeschirmt. Diese Schutzkette für das Gebäude wurde von allen Demonstranten respektiert. Als sich die vorausgeschickte Gruppe demonstrativ auf dem Balkon zeigte, wurde von den meisten Demonstranten mit großem Beifall zur Kenntnis genommen, daß sie die Hausmacht übernommen hatte. Die Besetzung war gewaltfrei verlaufen. Darüber waren wir auch in unserem Block „Für unser Land" sehr froh. Es hat kein Staatssicherheitsoffizier oder -wachmann die Nerven verloren und zur Waffe gegriffen.
Eigenständigkeit erhalten
Die Bewahrung der Eigenständigkeit der DDR, wie es in dem Anliegen der Schriftstellerin Christa Wolf in dem Aufruf „Für unser Land" entsprach, traf auch das Fühlen und Denken unserer Demonstrationsgruppe. Die Deutsche Demokratische Republik sollte nicht so sang- und klanglos untergehen, als hätten da nicht 40 Jahre lang Millionen Bürger ihren Geist, ihre Initiativen, ihre Kraft hineingesteckt, zum größten Teil mit der Überzeugung, daß die DDR ein Friedensstaat sein sollte und es auch geworden ist. Ich gehörte zu dem großen Teil des Volkes, der auch den Sozialismus wollte und sich dafür anfangs sehr eingesetzt hat. Im Laufe der achtziger Jahre ging bei Teilen der Werktätigen die Bereitschaft immer mehr zurück. Reformen und Erneuerung in der DDR waren legitime Forderungen geworden. Eine Aussage des Aufruftextes „Für unser Land" lautete: „... gewaltfrei, durch Massendemonstrationen hat das Volk den Prozeß der revolutionären Erneuerung erzwungen,...".
Auf den Spruchbändern waren Losungen zu lesen, die auch Sorgen über solche Forderungen wie „Deutschland, einig Vaterland" ausdrückten. Der Wunsch nach Erhaltung der DDR äußerte sich in folgenden Losungen: „Wiedersehen - Ja, wiedervereinigen - Nein", „Heim ins Reich - Nein danke", „Wir wollen keine Kohlplantage werden", „Denkt über die Wiedervereinigung nach". In der „Jungen Welt" vom 9.1 10.12.1989 äußerte sich ein J. K. Klimpke, der schon vorgedacht hatte, was wir mit der Wiedervereinigung neben den „Segnungen" noch mit in Kauf nehmen müßten. Er schrieb: „Ich bin gegen Nazis, Miethorror, Drogenszene, Sozialabbau, Zukunftsangst, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Kinderfeindlichkeit, Zwei-Drittel-Gesellschaft, kostenpflichtige Arztbesuche. Deshalb meine Unterschrift unter ,Für unser Land'".
Da ich diese politische Aussage kraft meiner Kindheits- und Familienerfahrungen sowie den kritischen Informationen aus der und über die BRD voll akzeptierte, habe ich mir den Text ausgeschnitten. Damit komme ich zurück zu meinen oben dargelegten Gedanken zur Wiedervereinigung.
Eine Konföderation zwischen der DDR und der BRD wäre ein Weg zur Wiedervereinigung gewesen, der ein verändertes, besseres Deutschland hervorgebracht hätte.
Erkenntnisse kann bzw. muß man wechseln, wenn neue, bisher unbekannte Fakten dem Denkprozeß zugänglich sind. Überzeugungen, die persönlich erarbeitet und verinnerlicht wurden, sind nicht auf der Stelle oder auch gar nicht zu wechseln.
Der Sozialismus als völlig neues Gesellschaftssystem ist nur über die demokratische Gewinnung und die innere Überzeugung der großen Mehrheit der Menschen, durch deren Wollen erreichbar. Auch wenn die Methode der Beherrschung, wie sie der Bischof Remigius von Rheims bei der Taufe des Frankenkönigs Chlodwig (im Jahre 496) anwandte, heute noch praktiziert wird: „Beuge dein Haupt in Demut, stolzer Sigamber, und verehre von nun an, was du bisher verbranntest, und verbrenne, was du bisher verehrtest", kann das meine Überzeugung für sozialistische Ziele nicht erschüttern, aber der Weg dahin muß demokratisch sein. Meine Biographie überdenke ich selbstkritisch: meinen Weg vom revolutionären Heißsporn zum humanistisch-demokratischen Sozialisten. Ich lasse mir die Wertung von 40 Jahren meiner Biographie weder umkrempeln noch verordnen. Ich trage persönliche Mitverantwortung für meine Wirkungskreise in der DDR-Zeit und muß dabei auch manche Sicht verändern.
Fritz
Mauer
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