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Mein Weg in den „Westen"

Das Ende der DDR begann für mich, damals noch unbewußt, 1986, mit Gorbatschows „Glasnost und Perestroika". Seit 1980 arbeitete ich im „Organisations- und Rechenzentrum der Land- und Nahrungsgüterwirtschaft des Bezirkes Gera", einer nachgeordneten Einrichtung des Rates des Bezirkes Gera, Direktor Dr. Christmann, Parteisekretär Gen. Claus. In unserem Betrieb herrschte ein offenes politisches Klima, zu jedem Thema fanden sich faire Gesprächspartner. Unsere Parteigruppen gehörten als APO der Parteiorganisation des Rates des Bezirkes an. Seit 1982 war ich Mitglied der APO-Leitung, seit 1987 stellvertretender APO-Sekretär und Bereichsleiter Rechenzentrum des ORZ.

Neben der Arbeit im Rechenzentrum nahm mein „Hobby" viel Zeit in Anspruch: Ich war Mitglied der Mathematischen Gesellschaft der DDR, Fachsektion Geschichte, Philosophie und Grundlagen der Mathematik. Schwerpunkt meiner Forschungen war das Leben und Wirken Ehrenfried Walther von Tschirnhaus' (1651-1708). Im Februar 1989 nahm ich eine außerplanmäßige wissenschaftliche Aspirantur an der TU Dresden auf. Vorgesehen war, bis Anfang 1993 die Promotion abzulegen und dazu eine Dissertation mit dem Arbeitstitel „Das Methodenproblem im 17. Jahrhundert und seine Lösung durch Ehrenfried Walther von Tschirnhaus" vorzulegen. Ich hatte mir, neben der Arbeit im Rechenzentrum, ein eigenes großes Ziel gesteckt, das viel Kraft erforderte, aber realisierbar war.

Diese Doppelgleisigkeit von Arbeitswelt und wissenschaftlicher Arbeit bedeutete für mich auch gegenseitige Befruchtung der Tätigkeitsbereiche. Und in beiden Feldern konnte ich etwas für die DDR tun, der ich viel verdanke. Als Sohn von Kleinbauern waren Mathematikstudium, sichere materielle Lebensverhältnisse und persönliche Entwicklung so nur in einem sozialistischen Land möglich, (vgl. dazu „Spurensicherung III. Leben in der DDR". GNN Verlag Schkeuditz 2000, S. 317-320).

Bis zum September '89 sah ich keine Veranlassung, die DDR oder einzelne Elemente ihres politischen Systems in Frage zu stellen. Die „Ausreisewelle" hatte für mich innere wie äußere Ursachen: Unzufriedenheit Einzelner und Hetze aus dem Westen. Diese Probleme jedoch erschienen mir lösbar und eher zeitweiliger Natur zu sein. Solchen und ähnlichen Angriffen waren wir immer wieder ausgesetzt. Natürlich hat jedes politische System auch Schwächen, kein Staat kann es „allen" recht machen. Und dazu kann Subjektives kommen, Versagen oder Überheblichkeit einzelner Verantwortlicher. Dagegen waren auch Genossen der SED nicht gefeit.

Diese Positionen mußte ich Ende September radikal ändern:

1.  Gorbatschows Politik führte auch in anderen sozialistischen Ländern zu ungeahnten Entwicklungen. Was der „Solidarnosc" in Polen 1980/81 noch nicht gelungen war, erfolgte jetzt: Ein sozialistisches Land (Ungarn) brach aus dem „Bruderbund" aus, es öffnete die Grenze zu Österreich. Damit nahm die Ausreisewelle eine neue Qualität an. Die Motive der Ausreisenden konnte ich, wie gesagt, nicht nachvollziehen. Für mich war die DDR bis zuletzt, trotz ihrer Schwächen, das bessere Deutschland. Die Bedrohung der DDR nahm zu: Neben den imperialistischen Ländern (mit der BRD an der Spitze) hatten wir nun auch unsere „Bruderländer" (mit der SU an der Spitze!) zum Feind!

2.  Ich lernte die Aktivitäten der Kirche, des „Neuen Forum" und des „Demokratischen Aufbruch" aus ihren eigenen Unterlagen kennen: Ein Freund aus der Leipziger Studentenzeit gab mir einiges zu lesen, und ich erkannte: Wir hatten auch offenen Widerspruch und sich organisierenden Widerstand im eigenen Land, der zunächst auf einen besseren, demokratischeren Sozialismus abzielte. Ein Schriftstück besitze ich noch, hier die Abschrift dieses hektographierten Briefes (in der Schreibweise des Originals):  

Bund der Evangelischen Kirchen

in der DDR

1040 Berlin, den 4. September 1989

An die Gemeinden der Gliedkirchen

des Bundes der Evangelischen Kirchen

in der DDR

Liebe Schwestern und Brüder!

Die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen hat sich auf ihrer Tagung am 2. September 1989 mit einem Schreiben an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR gewandt. Im folgenden geben wir den Wortlaut bekannt:

„Beunruhigt und betroffen sieht die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen, daß die Zahl derer, die einen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR stellen, nicht abnimmt, daß Bürger auf dem Weg über die ungarisch-österreichische Grenze die DDR verlassen und daß einzelne ihre Ausreise mit anderen Aktionen zu erzwingen suchen.

Die Konferenz ist im Blick auf diese Situation ratlos. Auch die von der Konferenz erbetenen Reiseerleichterungen haben im bisherigen Umfang nicht dazu geführt, die Zahl der Ausreiseanträge zu vermindern. Die Konferenz kann keine kurzfristigen Lösungen für dieses Problem anbieten.

Sie sieht eine wesentliche Ursache für Ausreiseanträge darin, daß von den Bürgern erwartete und längst überfällige Veränderungen in der Gesellschaft verweigert werden. Sie hält es für unabdingbar und dringlich, in unserem Land einen Prozeß in Gang zu setzen, der die mündige Beteiligung der Bürger an der Gestaltung unseres gesellschaftlichen Lebens und eine produktive Diskussion der anstehenden Aufgaben in der Öffentlichkeit sichert und Vertrauen zur Arbeit der staatlichen Organe ermöglicht.

Wir bitten deshalb erneut und dringlich darum,

-  offene und wirklichkeitsnahe Diskussionen über die Ursachen von Unzufriedenheit und Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft zuführen und sie nicht sogleich durch stereotype Belehrungen oder sogar Drohungen abzuweisen;

-  kritische Einwände der Bürger aufzunehmen und so zu berücksichtigen, daß sie in erkennbaren Veränderungen wirksam werden, die allen zugute kommen;

-  auf zutreffende Informationen in allen Bereichen von Politik und Wirtschaft und auf eine realistische Berichterstattung in unseren Medien hinzuarbeiten, die nicht im Widerspruch zu dem stehen, was der Bürger Tag für Tag selbst sieht und erlebt;

-  darauf hinzuwirken, daß alle Behörden jeden Bürger als mitverantwortlichen Partner respektieren und ihn nicht als Untergebenen bevormunden;

-für alle Bürger, unabhängig von verwandtschaftlichen Beziehungen, Reisemöglichkeiten in andere Länder zu eröffnen;

- allen ehemaligen DDR-Bürgern, die in ein anderes Land übergesiedelt sind, die Rückehr offiziell zu ermöglichen.

Die Konferenz ist sich dessen bewußt, daß die Lösung der gegenwärtigen Probleme ein langwieriger Prozess sein wird.

In diesem Prozeß wird auch die Verhandlungs- und Veränderungsbereitschaft anderer Staaten, insbesondere der BRD, wichtig. Damit der Abbau der gegenwärtigen Spannungen und des einseitigen Wirtschaftsgefälles möglich wird, sind Umdenken und neue Konzeptionen erforderlich.

 

Die Konferenz sieht ihre Aufgabe vordringlich darin, mit den Gemeinden zu bedenken, was es bedeutet, daß Menschen bei uns nicht bleiben wollen. Am Leben und Handeln der Christen soll erkennbar sein, daß sie selbst bereit sind, sich zu verändern und in der Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen.

Die Konferenz gibt diesen Brief ihren Gemeindemitgliedern zur Kenntnis, um sie damit zu einem Nachdenken über die angesprochenen Probleme zu ermutigen."

Für das Gespräch in unseren Kirchen und für das Nachdenken jedes einzelnen wiederholt die Konferenz, was sie bereits mehrfach angesprochen hat:

Wir bitten, „in der Gemeinschaft zu bleiben und die DDR nicht zu verlassen. Unsere Gesellschaft braucht jeden Menschen mit seinen Gaben und Fähigkeiten. Sie verliert Vielfalt, und unser Land wird ärmer, wenn Menschen sich zurückziehen und ausreisen. Jeder der geht, läßt andere einsamer zurück. Die Kirche sieht ihre Aufgabe darin, zu Verhältnissen in der Gesellschaft beizutragen, unter denen Menschen gerne leben können und Anträge auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft nicht mehr gestellt werden wollen. Dazu wird die Mitarbeit gerade derer gebraucht, die unter Defiziten unserer Gesellschaft leiden und Veränderungen anstreben."

Manche Ausreisewilligen müssen sich fragen lassen, an welchen Maßstäben sie ihre Lebensumstände und Lebenserwartungen messen. Wir warnen vor Illusionen, daß höherer wirtschaftlicher Wohlstand schon Lebenserfüllung bringt.

Angesichts der bereits gerissenen unübersehbaren Lücken im Gesundheitswesen und in der Wirtschaft und in anderen Bereichen müssen wir daran erinnern, daß jeder Mensch nicht nur Verantwortung trägt für die Gestaltung seines eigenen Lebens, sondern Mitverantwortung hat für die Gemeinschaft, in die er hineingestellt wurde.

Es grüßt Sie im Namen der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen

Ihr

(gez.)  Dr. Leich
Landesbischof

 

Für mich war klar: Diese Gruppen wollten Veränderungen erzwingen, die letztlich „an die Substanz" gehen mußten, den sozialistischen Staat insgesamt gefährden würden. Ich fürchtete: Wenn man Zugeständnisse an diese Gruppen macht, hat dies Auswirkungen auf das ganze ökonomische, politische und soziale System in der DDR. Deshalb wirkte ich in der SED für Veränderungen.

Meine Zukunftsplanungen gingen in zwei Richtungen: Arbeiten im Rechenzentrum und wissenschaftliches Arbeiten (Aspirantur). Seit 1989 besuchte ich vermehrt wissenschaftliche Veranstaltungen, hielt Vorträge und publizierte. Einige Beispiele:

-     „Materialistische Mathematik - Credo oder Fundament?"
Wiss. Zeitschrift der EMAU Greifswald, 38(1989)4, S. 63f  

 

-     „Ehrenfried Walther von Tschirnhaus - der Weg zum Porzellan"
Wiss. Zeitschrift der TU OvG Magdeburg, 34(1990)4, S. 50f
 

 

-     „Ehrenfried Walther von Tschirnhaus und die Toleranz"

Aus dem Philosophischen Leben der DDR, 26(1990)22, S. 29-32

 

- „Die Verallgemeinerung mathematischer Methoden durch Ehrenfried Walther von Tschirnhaus, Mathematiker-Kongreß der DDR, Vortragsauszüge III, Dresden 1990, S. 129

Im Oktober/November 1989 überschlugen sich die Ereignisse: In Gera etablierte sich das „Neue Forum", „Friedensgebete" und „Donnerstagsdemos" fanden statt. Die Lage war ganz klar: Auf der Straße vor der Bezirksleitung der SED in Gera die „Demo", im Inneren des Gebäudes Einheiten der Kampfgruppen der Arbeiterklasse. Ein Kämpfer fragte mich: „Dieter, werden wir schießen, wenn die reinkommen ?" Ich sagte: „Nein, denn sie werden nicht reinkommen. Sie haben Angst und fühlen sich nur in der Masse stark." So war es auch.

Die Berichterstattung aus dem Westen und die Unfähigkeit unserer Politiker, angemessen zu reagieren bzw. sogar zu agieren, führte schnell zu einer Eskalation, reihenweise traten „führende Genossen" zurück und damit aus ihrer Verantwortung. In diesem Sog konnten auch realistisch denkende Menschen die erregten Massen nicht führen. Einige Daten:

26.10.89: Große Demonstration durch die Innenstadt Geras.

02.11.89: „Friedensgebet". Der 1. Sekretär der Bezirksleitung Gera der SED tritt zurück.

09.11.89: Demo, mit Oberbürgermeister Jäger an der Spitze!

Und dann der Todesstoß: Schabowski verrät die DDR und öffnet die Grenze.

Natürlich gab es viel mehr Aktivitäten, Aktionen, Diskussionen. Diese Tage waren voller Anspannung. Viele Genossen kamen zu mir, um aus der Partei auszutreten, ich nahm ihre Mitgliedsbücher in Empfang. Wir, einige jüngere Genossen, versuchten in dieser Situation „unseren Mann zu stehen". Gespräche am Arbeitsplatz, Pausendiskussionen, Wandzeitungen. Wir diskutierten die aktuellen Ereignisse, konnten aber kein Bild für die Zukunft entwerfen. Und ohne diese Orientierung gingen uns Genossen und Mitarbeiter verloren. Im Betrieb wurde ordentlich gearbeitet, keiner lief weg. Aber es wußte auch keiner, was die Zukunft bringt.

Im Dezember bereiteten wir den Sonderparteitag der SED vor. Unserem Delegierten gaben wir den Auftrag mit, für den Erhalt der Partei zu stimmen. Aber die Partei hatte ihre gestalterische Kraft verloren. Trotzdem versuchte ich weiter, Beschlüsse umzusetzen. Denn kampflos aufgeben wollte ich nicht. Die APO wurde aufgelöst, da beschlossen war, daß die Partei sich aus den Betrieben zurückzieht. Dies war aus meiner Sicht ein Fehler, denn so ging der Kontakt zu den Werktätigen verloren. Dennoch führte ich in dieser Versammlung den Vorsitz. Die Orientierung, sich in den Wohngebieten zu organisieren, wurde wiederum von vielen zum „Austritt" genutzt. Natürlich hatten wir in der Partei auch Mitläufer und Karrieristen, aber so viele? Einige hatten auch einfach Angst um ihre Zukunft. Jedenfalls schmolz die Mitgliederzahl rapide. Ich ging zur Wohnbezirksgruppe „Debschwitz-Mitte" der SED-PDS. Die Gruppenleitung wollte die Parteigruppe auflösen, aber wir haben die Genossen zusammengehalten, unsere monatlichen Versammlungen durchgeführt, Wahlplakate geklebt, Veranstaltungen organisiert. Die Basisgruppe blieb intakt. An der Basis gab es viele ehrliche Genossen, die hier eine umfangreiche Arbeit geleistet haben. Wir haben schnell unsere Positionen finden müssen, als die „Stasi"-Diskussionen liefen, das Rentenunrecht eingeführt wurde, die Rechtsnormen sich änderten usw.

 

Quelle Privatfoto

Am 10.3 90 fand eine Wahlkampfveranstaltung der CDU in Gera statt Hauptredner war Theo Waigel. Am Rande des Platzes vor dem Haus der Kultur fanden sich Protestierende (unter ihnen der Autor) zu einem „Pro-DDR-Protest" zusammen

  Ende '89/Anfang '90 kam es zu Streiks und Kundgebungen auch in Gera. Sichere Arbeitsplätze wurden gefordert, bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, Lohnerhöhungen. Zu diesen Veranstaltungen ging ich nicht, denn es war „blauäugig" zu erwarten, daß diese Forderungen je erfüllt würden. Im Gegenteil, mir war klar: Jetzt bekommen wir den Kapitalismus praktisch, den wir vorher als „Politische Ökonomie des Kapitalismus" theoretisch kennengelernt hatten. Zu den großen Wahlkampfveranstaltungen (Volkskammerwahl, Kommunalwahl) fand sich auch viel BRD-Politprominenz ein, an Protestaktionen beteiligten sich nur einige Wenige.

Meine wissenschaftliche Arbeit mußte nun ruhen. (Die TU Dresden kündigte auch den Vertrag über die Aspirantur mit der Begründung, daß es diese Form nach neuem Recht nicht mehr gibt.) Allen war klar, die BRD wird uns schlucken, wir sind ein gefundenes Fressen für die Politik und die Marktwirtschaft. Wenn es etwas zu tun gibt, dann im Betrieb, für den Betrieb, für die Kollegen. Wir, eine Gruppe jüngerer Kollegen des Rechenzentrums, waren so „blauäugig", es zu versuchen. Im Frühling 1990 kauften wir für 500.000 DDR-Mark (woher das Geld dafür kam, weiß ich nicht) einen Siemens-C40-Rechner als Ablösung für die ESER-Rechentechnik der RGW-Staaten. Wir verhandelten mit einem Raiffeisen-Rechenzentrum, doch die waren nur an unseren Aufträgen, nicht an unserem Rechenzentrum interessiert. Wir verhandelten mit den Milchkombinaten der Noch-DDR und einem Rechenzentrum in München, doch auch daraus wurde nichts.

Im Betrieb ging es hoch her: Belegschaftsversammlungen, Betriebsratswahlen, GmbH-Umbildung. Wir, die Jüngeren, engagierten uns und waren gewillt, das Unternehmen in die Marktwirtschaft zu führen. Zur Wahl des Geschäftsführers stellten sich zwei Kandidaten: Der Direktor des ORZ mit dem Versprechen, niemanden zu entlassen. Dagegen trat ich an mit unserem Konzept und einem Personalplan, der Abbau vorsah und Unterstützung bei der Arbeitsplatzsuche. Meine Abstimmungsniederlage hielt mich aber nicht davon ab, weiter für das Unternehmen zu kämpfen. Denn andere Alternativen gab es nicht, wenn man ehrlich zu seiner Biografie stand.

Dann ging alles wieder sehr schnell: Aus dem Urlaub zurückgekehrt, erhielt ich am 3.9.90 vom alten Direktor und nun Geschäftsführer die Information, daß ich auf „Kurzarbeit 0" gesetzt sei (arbeitslos wurde ich erst per 1.1.1991). Am 4. September meldete ich mich beim Arbeitsamt Gera: „Ich weiß, Mathematiker oder EDV-Personal sind schwer vermittelbar. Deshalb scheint es das Beste, wenn ich in eine Maßnahme gehe, um vielleicht auch etwas ganz Anderes zu machen." - „So was Richtiges haben wir zur Zeit gar nicht. Aber in St. Gangloff beginnt dieser Tage eine Maßnahme, vielleicht interessiert Sie das." Ich unterschrieb einen Ausbildungsvertrag zum „Ausbilder und Trainer für Wirtschaftsunternehmen und Bildungseinrichtungen". - Mein bisheriger Lebensplan war zerstört. In dieser Woche begann mein Leben „im Westen".

Nachtrag: Es sind die vielen kleinen Erlebnisse und Fragen, die im täglichen Leben eine Rolle spielen. Einige Beispiele und Gedanken möchte ich noch anführen. Sie sind mir unvergeßlich, Bausteine des Bildes der Konterrevolution:

-     Irgendwann 1989 wurde aus der Parole „Wir sind das Volk" der Satz „Wir sind ein Volk". Wer hat diesen Satz in die Diskussion geworfen? Spätestens hier hätten sich die „Bürgerbewegten" melden müssen und sagen: Wir wollen die DDR reformieren und nicht abschaffen! Sie taten es nicht. Auch sie haben die DDR verraten.

-     Im Frühjahr 1990 kaufte ich mir den ersten Pkw: einen gebrauchten Moskwitsch für 500 Mark der DDR. Das wäre ein halbes Jahr früher noch undenkbar gewesen. Nach und nach wurde mir auch an anderen Beispielen klar, welche Entwertung unserer Arbeit hier in riesenhaften Dimensionen vonstatten ging. Die Arbeit unser Väter wie unsere eigene Arbeit wurde massenhaft entwertet, ich verstand es als Zeichen der Entwertung der DDR.

-     Ich war in der SED nicht angepaßt, war ein kritischer Genosse. Einige „führende Genossen" bemühten sich auch ständig, aus mir einen „guten Kommunisten" zu machen. Wo sind diese Genossen heute, in welcher Partei kämpfen sie für die alten Ideale ?

-     Zur Eröffnung des Mathematiker-Kongresses der DDR in Dresden (10.-14. September 1990) wurde ein Stück gespielt, im Programm harmlos angekündigt unter „Haydn". Viele blickten peinlich berührt in die Runde, als die Melodie des „Deutschlandliedes" erklang. Einige Wenige aber standen auf: Die ersten „Gewendeten" also auch hier!

-     Die Entwaffnung der Kampfgruppen der Arbeiterklasse (Dezember 1989) machte mich besonders betroffen: Gerade sie sollten doch die Errungenschaften des Sozialismus verteidigen! Indessen - gegen wen sollten die Kampfgruppen ihre Waffen gebrauchen? Gegen eine breite Volksbewegung? Welcher der schreienden Widersprüche war durch Waffengewalt zu lösen?

-     Die Bibliothek der Bildungsstätte der SED-Bezirksleitung wurde aufgelöst. Jeder konnte hingehen und sich Bücher holen. Leider habe ich nur ca. 20 Bücher dort geholt. Große Teile dieser und anderer Bibliotheken verschwanden. Später habe ich mich sehr darüber geärgert, nicht mehr gerettet zu haben. Der Bedarf an marxistischer Literatur ist heute sehr gewachsen!

Dieter Bauke 


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