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Verraten und verkauft (Auszüge)
Warum ich in der Chronologie der DDR soweit zurückgehe?
Ich behaupte: Der Niedergang begann schon mit ihrer Gründung. Die revolutionären Umgestaltungen wurden nicht zu Ende geführt. Zwar wurden der alte Staatsapparat der Bourgeoisie beseitigt, der Großgrundbesitz und die Großbetriebe enteignet und in gesellschaftliches Eigentum überfuhrt. Aber die Interessen der Arbeiter wurden nicht konsequent berücksichtigt, denn in den Betrieben blieben die alten Strukturen und Machtverhältnisse noch lange bestehen - und damit auch die Privilegien der alten Intelligenz. In meinen Augen war dieses Verhalten gegenüber der Intelligenz die Grundlage einer neuen Zweiklassengesellschaft.
((Anmerkung der Redaktion:
Zu dieser damals sehr heiß diskutierten Frage führte 1952 das ZK-Mitglied Otto Schön, sich auf Lenin berufend, in einer parteiinternen Beratung in Hennigsdorf folgendes aus:
„Die alte Intelligenz war der Kultur- und Wissensträger der Bourgeoisie und im Denken meist selbst bourgeois, obwohl sie genauso ausgebeutet wurde wie die Arbeiter. Eigentlich müßte man sie zum Teufel jagen, aber wir kommen ohne sie nicht aus; wir brauchen ihr Wissen! Deshalb müssen wir Ihnen noch mehr bieten als ihre alten Herren, müssen uns vieles vom Leibe absparen und ihnen vorn und hinten reinstecken. Wir müssen sie auskaufen, ihnen ihr Wissen teuer bezahlen1. Sie sollen für uns arbeiten und immer wieder arbeiten - und vielleicht begreifen sie bei der Arbeit, wofür sie arbeiten, begreifen unsere politischen Ziele und treten auf die Seite der Arbeiterklasse über!"
(Zitiert nach der Mitschrift eines Beratungsteilnehmers.)
Diese Auffassung Klaus Köglers von der „Zweiklassengesellschaft" in der DDR zieht sich durch den ganzen Beitrag. Sie wurde damals vom kommunistischen Schriftsteller Jan Koplowitz, als er mit Arbeitern Köglerscher Denkweise in Hennigsdorf diskutierte, mit der Frage gekontert: „ Und was nun, wenn eure Söhne studieren und dann auch zur Intelligenz gehören?"))
Nachdem ich 1954 in noch bestehenden gewinnorientierten chirurgischen Privatkliniken im Alter von 17-18 Jahren für immer innerlich verstümmelt worden war, mußte ich Diät essen. Diese gab es im Werkskasino des VEB Elektrochemisches Kombinat Bitterfeld (EKB). Wir - acht Kollegen - aßen am größten Tisch Galle-, Leberund Magendiät. Acht Arbeiter von 13.000. Ein Privileg. Das Essen von Frau Krämer war recht gut. An den kleineren Tischen saßen die Intelligenzler des VEB EKB. Sie bekamen besonderes Essen, andere Speisen als die Arbeiter in den Speisesälen.
Sie mußten auch nicht im Leistungslohn oder Dreischichtsystem arbeiten, erhielten mehr Geld, mehr Urlaub und weitere Privilegien. Trotzdem hauten viele ab in den Westen. Manche studierten in der Absicht, nach bestandenem Examen im Westen dem Kapital zu dienen.
Der Vorteile und Privilegien wegen mußte es für jeden, auch für die Arbeiter, erstrebenswert sein, zu studieren, ob direkt oder im Fern- bzw. Abendstudium. Auch mich delegierte man zur Ingenieurschule Meißen. Aber ich scheiterte an meiner Krankheit, verursacht durch die Umweltgifte in Wachtendorf (siehe „Spurensicherung III") und die falsche Behandlung durch Chirurgen. Ich war stark geschädigt, konnte nicht weiterstudieren und blieb Facharbeiter mit kommunistischer Gesinnung. Diese gewann ich aus eigenen Erfahrungen und Beobachtungen sowie Romanen proletarischer Schriftsteller.
1955
arbeitete ich in der Meßwerkstatt des EKB (Abt. Betriebskontrolle) und hatte den Auftrag, Meßrohrleitungen zu verlegen. Die Norm
(Zeitvorgabe) bekam man nach getaner Arbeit auf
Grund dessen, was man selbst aufgeschrieben hatte. Danach errechnete
der Kalkulator (Normierer, TAN-Bearbeiter; TAN = Technisch begründete Arbeitsnorm) mit Hilfe von Tabellen, die auf dem überkommenen
kapitalistischen Akkordsystem fußten,
die Vorgabezeit. Aber sie war so gering, daß eine Normerfüllung unmöglich
war. Ich hätte noch Geld von zu Hause mitbringen müssen. Ich rechnete den
Auftrag erst einmal nicht ab in der Hoffnung, bald eine günstigere Vorgabezeit
zu erhalten, die ich dann mit den beim
ersten Auftrag „zu viel" verbrauchten Stunden belasten
könnte (so geht man den Weg des geringsten Widerstandes). Aber es erwies sich
als unmöglich, dem Normierer und den hinter ihm sitzenden Herren klarzumachen,
daß die Zeitvorgabe unerfüllbar war. Zum anderen wäre es Verrat an den Arbeitskollegen
gewesen - an den Arbeitern überhaupt und an sich selbst - Zeit von einer
guten Norm zurückzugeben. Also erfüllte ich Auftrag nach Auftrag, konnte nie
die Norm schaffen, geriet immer tiefer in den Keller ohne jede Aussicht, wieder
herauszukommen, und verdiente im Leistungslohn deutlich weniger, als ich im
Zeitlohn bekommen hätte. Zu den mich ständig quälenden Bauchschmerzen kam die
seelische Belastung, da ich offenbar nicht fähig war, Geld zu verdienen.
Damals war ich zwanzig und vertraute mich nach und nach meinen 5-10 Jahre älteren Kollegen an. Die grinsten, dann gaben sie mir Tips. Schneller arbeiten nutzt nichts, denn aus Sicherheitsgründen muß Qualität obenan stehen. Also mußt du mit dem Bleistift dein Geld verdienen Das bedeutete, bei neun Meter verlegtem Rohr 27 Meter schreiben, bei sieben hergestellten Rohrbogen 21 und so weiter.
„Aber das ist doch Betrug?"
„Die Herren wollen das so haben".
Mich belastete es, dauernd zu lügen. Hat mich doch mein Vater gelehrt, niemals zu stehlen außer in der größten Not, aber dann nie bei kleinen Leuten, höchstens bei Großbauern!
Zuerst sprach ich mit unserem Vertrauensmann Erich Mende, dann mit dem Parteisekretär Eugen Schmidt (der vor 20 Jahren unter Hans Beimler in Spanien gegen den Faschismus gekämpft hatte), dann mit dem FDJ Sekretär Werner Bzyl. Ich wollte ehrliche Normen! Im Alu-Werk ging es doch ehrlich zu!
Ich machte um die Sache so viel Wind, daß die Obrigkeit endlich reagierte. In der Meisterstube trafen sich drei Rohrleger, drei Meister, zwei Brigadiere, der Vertrauensmann, der Parteisekretär, und der Abteilungsleiter Dr. Röber (Katholik, SED-Mitglied, ging zwei Jahre spater nach dem Westen und zog zwei Kollegen nach - einer von ihnen SED-Mitglied). Wir diskutierten stundenlang. Ich verlangte eine ehrliche Norm. Eugen unterstützte mich, desgleichen zwei der Rohrleger. Schließlich sagte Dr. Röber: „Herr Kögler, Sie sollten sich anpassen. Nach dieser Norm wird schon 20 Jahre lang gearbeitet. Alle sind damit hingekommen, noch keiner hat sich beschwert!"
Alle außer Eugen und mir gaben auf.
Alle, die nach dem Akkord aus kapitalistischer Zeit arbeiteten, mußten weiter lügen.
Aus gesundheitlichen Gründen wechselte ich zur Filmfabrik. Hier arbeitete ich nach ebensolchen Lügenmüssen-Normen wie in der Meßwerkstatt (Außendienst). Ich kam mit der Vorgabezeit nicht aus. Sagt ein Kollege: „Geh mal mit Arno in die Kantine, Bier trinken.“ Nach dem dritten Bier fragte der Normierer: „Wieviel Zeit brauchst du denn?"
Er wurde zwangsläufig zum Alkoholiker.
Später arbeitete ich im Textilbetrieb „herdas". Die beste (allerschnellste) Näherin wurde in die Modellabteilung gesetzt. Dort bekam sie mehrere Zuschnitte des neu entworfenen Modells, z. B. eines Anoraks zu nähen. Sie nähte und nähte, und als sie eingearbeitet war und schnell genug, kam die Normiererin mit der Stopp-Uhr. Die gestoppte Zeit wurde zur Normzeit für den neuen Anorak. Die meist jungen Näherinnen arbeiteten die gewerkschaftliche 15-Minuten-Fruhstückspause durch und bissen immer mal wieder von ihren Stullen ab. Zu Mittag gingen sie schnell einmal in den nahen Speisesaal und schlangen in 10 Minuten ihr Essen herunter. Dann ratterte wieder die Nähmaschine. Eine Kollegin ging ständig mit der vollen Kaffeekanne durch den Nähsaal, um den Näherinnen kostenlosen Kaffee einzuschenken - soviel und so oft sie wollten.
In Bitterfeld-Wolfen war die Normenerstellung gerechter. Die neue Normzeit erarbeiteten vier: die schnellste, die langsamste, eine mittlere und der Normierer. Das arithmetische Mittel wurde die Normzeit.
Die Normierer überarbeiteten im Laufe von Jahrzehnten alle Akkordzeiten aus der kapitalistischen Periode unter dem Gesichtspunkt der ständigen Steigerung der Arbeitsproduktivität. In der Produktion konnte man exakt berechnete Normen einführen, die zu schaffen waren.
In der Instandhaltung und Reparatur zwang man den Reparaturhandwerkern zunächst Arbeitsnormen auf. Aber hier sind exakte Vorgabezeiten nicht möglich, weil man nicht voraussagen kann, wieviel Aufwand nötig ist, um einen Schaden zu beheben. Darüber wurde jahrelang in den Chemiewerken Bitterfeld Wolfen auf Partei- und Gewerkschaftsversammlungen diskutiert. Möglicherweise war ich Initiator dieser Diskussionen. Endlich sahen die Leiter nach endlosen Debatten den Widersinn von Reparaturnormen ein. Etwa 1962/63 wurde der Prämienzeitlohn eingeführt. Der Meister schätzte die Leistungen ein und legte die Prozente fest. 1976 wurde der Prämienzeitlohn durch das produktivitätsfördernde Lohnsystem für Instandhaltung und Reparatur abgelöst.
1955 ging ich in die Kampfgruppe, 1957 unter Vorbehalten in die Partei. „Du sollst mithelfen, die Zustände in der Partei zu verbessern Wir brauchen kritische und kämpferische Leute!"
Ich mußte erst einmal damit fertig werden, in einer Arbeiterpartei Intelligenzler wie diesen Dr. Roeber vorzufinden. Bis dato glaubte ich, die Intelligenz habe ihre eigene Partei. Denn die Facharbeiter - einzeln und geschlossen - und die Intelligenzler (und Normierer) standen sich irgendwie in Konfrontation gegenüber, obwohl sie miteinander zu arbeiten hatten. Brigadier Egon Wysekal sagte damals „Auch wenn ihr mich Sektierer nennt - Arbeiter und Intelligenz gehören nicht in eine gemeinsame Partei."
Manchmal entdeckten Facharbeiter, die nach der Zeichnung eines Ingenieurs arbeiteten, Fehler, die auch als Fehler akzeptiert wurden. Gelegentlich gab der Ingenieur den Fehler nicht zu, das Ding wurde gebaut und funktionierte nicht. Damals (1955/57) gebärdeten sich frisch gebackene Diplomingenieure, als wüßten sie alles besser. Sie hatten doch schließlich die Hochschule absolviert! Bei den Arbeitern kam der Dünkel aber so an: „Die haben das Abitur gemacht, sind dann gleich zur Hochschule und haben sich mit Theorien vollstopfen lassen Aber von der Arbeit in den Werkstätten haben sie keine Ahnung. Nun kommen sie und wollen uns befehlen, wie, wieviel und wie schnell wir zu arbeiten haben! Die sollen erst einmal selbst arbeiten, damit sie wissen, was das heißt!'"
So war die Situation damals.
In Parteiversammlungen, Aktivtagungen und Delegiertenkonferenzen wurde folgender Vorschlag diskutiert: Die Abiturienten sollen, ehe sie zur Technischen Hochschule gehen, erst einen Facharbeiterberuf lernen und nach der Lehre fünf Jahre praktisch im Beruf arbeiten, damit sie lernen, was arbeiten heißt, daß es auch Schindern und sich abrackern heißen kann. Dann wurden sie nicht mehr Unmögliches von den praktisch tätigen Arbeitern verlangen. Diese Diskussion, die möglicherweise der Parteisekretär Eugen Schmidt und ich im Bezirk Halle angeschoben hatten, und die von anderen Parteisekretären und Arbeitern weitergeführt wurde, ließ man absichtlich im Sande verlaufen.
Wie war das mit den Gehältern?
Mein
Freund Heinz Zeidler, der erste Kommandeur der motorisierten Kampfgruppenhundertschaft der Filmfabrik Wolfen, erinnerte oft an die Worte
von Ernst Thälmann:
„Der Direktor eines Betriebes darf höchstens doppelt so viel Geld bekommen
wie der bestbezahlte Facharbeiter!"
Der Verdienst jedes Lohnempfängers konnte an einem monatlichen Aushang auf einer Tafel neben der Stempeluhr von jedem ersehen bzw. errechnet werden. Die Gehälter der Angestellten und der Intelligenz (auch deren zusätzliche Einkünfte) blieben den Arbeitern wie eh und je verborgen.
1957 kassierte ich von den hohen Obrigkeiten des EKB die Parteibeiträge. Laut Statut zahlten die Bestverdienenden 3 Prozent ihres Bruttogehalts. 100 Prozent des Gehaltes vom Hauptdirektor Dr. Dr. hc Heyder waren 10.000 Mark. Trotzdem ging Heyder in den Westen. Universitätsprofessoren erhielten bis zu 9.000 Mark.
Irgendwann in den siebziger Jahren bekamen dann die neuberufenen Professoren nur noch 4.500 Mark.
1977 erhielt ein eben erst diplomierter Physiker 850 Mark brutto. Soviel hatte ich als Mechaniker nach 20 Jahren Berufspraxis. Wieviel würde der Physiker nach 20 Jahren Berufspraxis bekommen?
War das Sozialismus? Hier waren die sozialen Abstufungen und Strukturen des Kapitalismus erhalten geblieben mit dem Unterschied, daß in der DDR jeder Arbeiter durch Studium in die „Klasse" der Intelligenz aufsteigen konnte. Die Aufgestiegenen standen dann sofort auf der anderen Seite, der Seite der sozial Bevorteilten.
1958 war ich FDJ-Sekretär. Ich hatte geheiratet, und drei Monate später erhielt ich ie Zuweisung für eine Zwei-Zimmer-Neubauwohnung. Ohne Wissen um die Lage bei Wohnungen nahm ich das Angebot nicht an. Ich dachte, man würde mir nach weiteren drei Monaten eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung zuweisen. Bald gab ich meine hauptamtliche Funktion wieder ab und wartete nun neun Jahre vergeblich auf eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung. Ich wußte doch nicht, daß ein FDJ-Sekretär bevorzugt wird! Die unterschiedliche Bewertung von Arbeitern und Funktionären kannte ich noch nicht.
Um unser Wohnungsproblem selbst zu lösen, suchten wir eine Hausmeisterstelle und kamen so nach Greiz. Doch diese Arbeit war für uns zu schwer. 1967 versprach mir der Parteisekretär Hilfe in der Wohnungsfrage. Der Wohnraumlenkungs-Kretschmar bot mir eine Wohnung in Stadtroda an; bald erhielten wir die Zuweisung. Es war eine Traumwohnung. Der Parteisekretär des Kreises Stadtroda hatte nochmals eine Schule besucht und bekam nun in Greiz eine höhere Funktion und eine nagelneue schöne große Neubauwohnung in Greiz-Politz (die ich sogar besichtigen konnte). So was gab es damals nur für „sozialistische Persönlichkeiten". Uns wollte man in Stadtroda für die dort freigewordene Wohnung zunächst keine Zuweisung geben, aber der SED-Sekretär hatte Termindruck und ich beharrte auf meinem Anspruch. Die Möbelwagen in Greiz und Stadtroda waren schon beladen. Die Wohnraumlenkung Stadtroda konnte sich dem SED-Sekretär nicht widersetzen und so bekamen wir schließlich die Zuweisung für seine Exwohnung.
Wir verstanden uns recht gut mit den dort wohnenden Mitarbeitern des Staatsapparates. Alle Funktionsträger waren mit den vorzüglichen Wohnverhältnissen zufrieden. Etwa 1977 zog in unser Vierfamilienhaus Rosi ein. Sie wurde Vorsitzende vom Rat des Kreises. Rosi war mit der Wohnung keineswegs zufrieden und verlangte eine Modernisierung mit Etagenheizung, neuen Wasserleitungen und neuer elektrischer Anlage. Auch neue Zwischentüren mußten her, aber weil ihr die Farbe mißfiel, nochmals neue. Und zwar alles auf Staatskosten. Wir anderen Mieter mußten die für E-Herd und Waschmaschine nötigen neuen E-Leitungen selbst organisieren und bezahlen. Rosi verschmutzte mit ihrem dort abgestellten Pkw die Liege- und Wäschewiese mit Ölflecken. Sie forderte uns zum Subbotnik auf, kam aber nicht, sondern feierte zur gleichen Zeit mit dem Ersten Bezirkssekretär der Partei den XX. Jahrestag der DDR in Wolfersdorf.
Wir vertrugen uns mit Rosi nicht und zogen aus. Dieses Vorbild soll zur konterrevolutionären „Wende" aus Stadtroda vertrieben worden sein.
1968 arbeitete ich als Mechaniker im VEB „herdas", Greiz. Hier wurden Anoraks genäht und auch grüne Kutten für die Sowjetunion. In die wunderschönen Anoraks, die es in der DDR nicht zu kaufen gab, nähten unsere Thüringer Näherinnen nicht etwa, wie es sich gehört, den Namen unseres Bekleidungswerkes „herdas" als Firmenzeichen ein, nein! In den Kleinstserien von manchmal nur 50 Stück las man: Karstadt, Otto, Quelle, Neckermann, englische und amerikanische Firmennamen. Herren aus diesen Firmen fuhren manchmal mit einem riesigen Opel-Senator oder Mercedes vor.
Ich sagte in der Parteiversammlung: „Das ist Betrug. Warum kommt in unsere Produkte nicht unser Firmenzeichen? Müssen wir uns unserer Produkte und unseres Namens schämen?"
Ich weiß nicht mehr, ob mir der Werkleiter, der Parteisekretär oder die BGL-Kollegin antwortete. Aber da kam wieder das Schlagwort: „Wir brauchen Devisen. Die Westkunden wollen das so. Wir müssen mit Kleinstserien versuchen, mit denen ins Geschäft zu kommen!"
In die für die Sowjetunion in Tausender-Serien genähten grünen Kutten nähte man das ehrliche Firmenzeichen „herdas".
Die Leiter von „herdas" tanzten nach der Pfeife der Kapitalisten!
Ich schrieb wieder eine Austrittserklärung, denn ich konnte diese Parteipolitik mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Mit den Kapitalisten setzten sich die Wirtschaftsund Politfunktionäre an einen Tisch. Die kritischen Arbeiter werden mundtot gemacht.
Ich sagte: „Mit dieser Politik macht ihr die DDR zur Kolonie des Westens und werdet bald deren Diener sein. Ihr verkauft und verratet uns an den Westen!"
Dabei verwies ich auf die Anoraks, die Intershops und die Interhotels.
„Die DDR macht Reklame für Westwaren!" „Die SED ist eine rechte Partei geworden! Ich werde erst wieder eintreten, wenn die Partei kommunistisch ist!!" Fritz sagte: „Denke nicht, daß du hier der einzige Kommunist bist!" Ich antwortete: „Ich sehe hier keinen!"
Der Imker Otto Scheider vom Rosengarten in Greiz riet mir dringend ab, aus der Partei auszutreten Er sagte: „Ein aus der Partei Ausgetretener wird immer und überall das schwärzeste Schaf sein, er wird immer unterdrückt und benachteiligt sein, schlimmer als einer, der nie in der Partei war."
(Otto war damals 64, geboren 1904 in Rußland. Als seine Heimat nach dem Ende der Interventionskriege gegen die junge Sowjetunion polnisch wurde, wanderte er nach Palästina aus. Dort ließ er als Bauunternehmer Häuser bauen - für Araber und Juden. 1949 von den Israelis aus Jerusalem vertrieben, war er zeitweilig in Iserlohn (Westfalen) Kreissekretär der KPD. 1961 kam er nach Greiz und wurde Arbeiter im VEB Gravierwerk.)
Die Wirtschaftspolitik unserer Regierung maßen wir an der Versorgung mit Lebensmitteln. Wir heirateten, wie erwähnt, im Mai 1958. Damals gab es noch einige Nahrungsmittel auf Lebensmittelkarten. Uns störte das nicht. Was wir brauchten, bekamen wir. Es gab sogar um die Weihnachtszeit viel Apfelsinen und Ölsardinen. Weil ich immer Heilung von meinen Leiden suchte, legte ich Wert auf frische Naturkost. Die gab es in der DDR dank der guten Handelsbeziehungen zu Bulgarien, der CSSR, Rumänien, Polen, Sowjetunion, Ungarn, auch Jugoslawien in zunehmendem Maße, immer frisch und natürlich. Es gab Gurken, Bohnen, Melonen, vier Sorten Paprika, Tomaten, Zucchetti, Weintrauben in vier Farben: blau, rot, gelb und weiß in Fülle für 0,40 bis 0,80 Mark. Wir konnten Traubenkuren machen. Auf dem Ladentisch waren alle Sorten von Obst, auch heimisches. Zwetschgenpreise fielen bis auf 0,10 Mark je Kilo. Wir stellten uns Pflaumensaft her. Heimisches Wild gab es in Spezialverkaufsstellen - sogar in Kleinstädten und Industriedörfern wie Greppin. Wolfen hatte drei Fischverkaufsstellen mit frischestem gefrorenen Seefisch für den zwanzigsten Teil der jetzigen DM-Preise (2001).
In den sechziger Jahren ging es aufwärts - bis etwa 1970. Dann hatte die Anerkennungswelle volle Wirkung. Das ZK kämpfte um die Anerkennung der DDR durch alle Länder, besonders durch die Westmächte, die NATO-Länder.
Die Regierung opferte und opferte. Die Volksdemokratien machten es genauso. Immer mehr der besten Produkte wanderten aus der DDR und den Volksdemokratien in den kapitalistischen Westen. Die sowjetischen Erdöl- und Erdgasleitungen liefen durch die DDR in den Westen. Wir bekamen kein Erdgas. Wir behielten und bekamen immer weniger von den eigenen Produkten. Nach 1970 blieben die wunderbaren Früchte aus Albanien, Bulgarien, der CSSR, Rumänien, Ungarn, Polen und der Sowjetunion ganz aus.
Die schönsten Möbel konnten wir uns nur auf der Messe ansehen.
Die guten Briketts gingen in das NSW, wir erhielten die Bitterfelder Salzkohle.
„Wir brauchen Devisen! Wir brauchen Devisen!"
Die meisten Menschen glaubten dieser Parole, als würde sie täglich vom Westfernsehen gesendet.
Von dort wurde sie offenbar unseren Handelsstrategen in den Mund gelegt. Je mehr Handels- und andere Beziehungen und Verbindungen mit der BRD und anderen EG-Staaten aufgenommen wurden, um so schlechter wurde es bei uns auf fast allen Versorgungsgebieten - außer bei Kinofilmen.
Wir wurden zur Kolonie der BRD.
„Wir brauchen Devisen!"
Meine Mutter geriet in Leipzig mal in einen Intershop. Sie kaufte Spielzeug für ihre Enkelkinder. An der Kasse sagte man ihr: „Für dieses Geld können Sie hier nicht kaufen; Sie brauchen Westmark." Meine Mutter war bedient. Behandelt man so die Bürger der sozialistischen DDR?
Am 1. Mai 1968 gab es immer noch Porree und Schwarzwurzeln und aus dem Gewächshaus schon Blumenkohl, Gurken, Radieschen und Salat. Seit Weihnachten 1969 gab es nur noch einmal Schwarzwurzeln und aus dem Treibhaus nur Gurken und Tomaten. Das Jahr 1969 war das Jahr ohne Zwiebeln in der DDR. An einer Landstraße bei Könnern gingen Passanten aus allen Schichten auf ein großes Zwiebelfeld. Ein Einsatzkommando der Volkspolizei beendete den „Ernteeinsatz". Die Zwiebelfreunde mußten ihre Zwiebeln und 150.- Mark abgeben.
Um jede große Stadt der DDR wurden in den sechziger und siebziger Jahren riesige Gemüsetreibhäuser gebaut. Zunächst kam das Treibhausgemüse in die DDR-Gemüseläden. Nach und nach lieferte man immer mehr Gemüse in die BRD. Das Gemüse aus Laasdorf bei Jena lenkte man nach Nürnberg; das aus Vockerode bei Dessau heimlich nach Westberlin. In Laasdorf gab es riesige Tomatenfelder. Die roten Tomaten wurden von Sowjetsoldaten geerntet und gingen in den Westen.
„Wir brauchen Devisen!"
Als Imker kenne ich mich aus. Die Imkersparte Stadtroda kontrollierte die Honigabfüllstelle der VEAB in Trobnitz. Den qualitativ hochwertigen Honig, besonders Waldhonig aus Thüringen und dem Harz, schleuste man für ca. 1,80 DM/Kg in die BRD. Die DDR-Bevölkerung erhielt minderwertigen Monokulturen-Honig aus Taiwan, Indien, Mexiko und anderen subtropischen Ländern. Viel „Honig" kam in Weißblechfässern an und war am Garen. In Trobnitz wurde der Honig totgekocht und in Gläsern zu 4,50 Mark je Pfund den DDR-Bürgern verkauft. Die Honigabfüllstelle war nahe dem Bienenstand unseres Spartenvorsitzenden. Dessen Bienen leckten manchmal an den vom Druck der Garung gerissenen Weißblechfässern aus Übersee. Mit dem süßen Zeug brachten die Bienen die Faulbrut heim. Sie verbreitet sich wie eine Seuche von Bienenstand zu Bienenstand und zieht Totalverluste nach sich. Brauchten wir dafür Devisen?
Auf Beschluß des ZK der SED wurden Anfang der siebziger Jahre die letzten privatkapitalistischen Betriebe enteignet, z. B. Ritter-Obstkonserven in Skölen und Opel-Gemüsekonserven in Hermsdorf. Von da an gab es in der DDR kein Pflaumenmus mehr zu kaufen; Gurken bekam man nur noch in Riesengläsern und das Sauerkraut war ungenießbar. Am 30. August 1979 notierte ich auf der IGA (Gartenbauausstellung) in Erfurt zwanzig DDR-Obstbetriebe, die u. a. Pflaumenmus anboten. Zu kaufen bekamen wir es bis zur Wende nie wieder. Ende der siebziger Jahre gab es bei uns als Frischobst und -gemüse nur noch Apfel, Kohlrüben. Weiß- und Rotkohl sowie Rote Beete, selten noch Mohren und Zwiebeln. Die DDR war zur geheimen Kolonie der BRD geworden, wurde nach neokolonialistischer Art ausgebeutet.
Ab Mai 1983 wurden überhöhte Aufkaufpreise für Produkte der Siedler, Kleingärtner, Kleintierzüchter und Großtierhalter per Gesetz eingeführt. Die Aufkaufpreise lagen weit über den Verkaufspreisen des Handels (EVP).
Ich fragte Frau Mursel, ob ich wieder einen Eimer Ostheimer Kirschen aus ihrem Garten bekommen konnte. Sie sagte: „Meine Kirschen sind jetzt für Sie zu teuer. Bitte kommen Sie mit mir in den Konsum, denn dort bekommen Sie meine Kirschen billiger!" Frau Mursel übergab der Verkäuferin den Eimer Kirschen, sie zahlte ihr 20 Mark, dann gab sie mir den Eimer Kirschen, für den ich der Verkäuferin 10 Mark zahlen mußte. Wir sagten einander: „Hast du das verstanden?" „Nein". „Ich auch nicht."
Selbstverständlich wurde ein großer Teil der aufgekauften Produkte zu DM-Dumpingpreisen in den Westen geliefert. Die kleinen Leute führten dem staatlichen Handel massenhaft Produkte zu. Sie wollten Geld verdienen, um den Lebensstandard der Intelligenz und der Funktionäre zu erreichen. Viele konnten das zeitlich nur schaffen mit mindestens sechs Wochen SVK-Urlaub. (Für bis zu sechs Wochen Krankschreibung im Jahr zahlte die Sozialversicherung 90 Prozent des Lohnes.)
Exportiert wurden auch der Stadtrodaer Wald (nach dem
holzreichen Schweden!), Steine aus den Kopfsteinpflaster-Straßen, Jungbullen,
110-kg-Schweine, 3,8-kg-Kaninchen,
Elbe-Mulde-Biber und 1988 sogar ehemalige FDGB-Ferienplatze in extra herausgeputzten
Häusern Kühlungsborns.
Wir gingen wegen dieser nach meinem Urteil opportunistisch-revisionistisch-sozialdemokratischen Politik nicht zu den Volkswahlen und hatten schon jahrelang nicht mehr die „Aktuelle Kamera" eingeschaltet, aber auch nicht die „Tagesschau" mit ihren Lügen und der Hetze. Deshalb wußten wir nichts von Tschernobyl und aßen täglich (verstrahlten) grünen Salat aus unserem Garten. Meine gesellschaftliche Arbeit sah ich in der Bienenhaltung, die ja der Bestäubung landwirtschaftlicher Kulturen diente. Ende August 1989 war ich eine Woche in Landau (Pfalz) bei einem Imker zu einem Erfahrungsaustausch über die Bekämpfung der indischen Milbe. Dieser Imker war Schulleiter, ein fanatischer CDU-Mann und Mitglied des Kreisauer Kreises (Totalitarismus-Theorie).
Herr J. W. sagte mir: „Bleiben Sie hier. Die DDR wird bald zusammenbrechen, einige Wochen, höchstens Monate kann es dauern. Nächstes Jahr gibt es die DDR nicht mehr. Sie werden hier mehr Rente kriegen und dazu den Personalausweis der BRD!"
Ich sagte: „Nein! Die DDR ist stabil und gut organisiert, die wird es in fünfzig und in hundert Jahren noch geben!" (Etwa so sagte es Erich Honecker sechs Wochen später.)
Darauf Herr J. W: „Wenn ich Ihnen das sage, können Sie mir das glauben. Kohl und Gentscher sind zu einem Geheimtreffen mit Horn und Horvatsch in Ungarn (25.8.89 in Gimmlich). Es geht alles planmäßig!"
Ich glaubte nichts davon.
Weil ich, vermutlich wegen meiner Nichtteilnahme an der Volkswahl, seit Jahren keinen FDGB-Ferienplatz mehr erhielt, ging ich wegen eines „Rückgabeplatzes" zum FDGB-Kreisvorstand. Wir erhielten einen in Johanngeorgenstadt für je 60 Mark (!), zahlten aber nur die Hälfte, weil ich Invalidenrentner und meine Frau Halbtagskraft war. Nun gingen eben zu der Zeit viele DDR-Bürger über die CSSR und Ungarn in den Westen. Uns beunruhigte das nicht. Aber wir schalteten wieder den Fernseher an. Spätestens als Kohls Agenten den „Ossis" den Ruf „Wir sind ein Volk!" eingaben, wußten wir, wer das organisierte.
Im Schlußteil seines Beitrages trifft Klaus Kögler wieder eine Reihe von politischen Verallgemeinerungen und Schuldzuweisungen, denen die Redaktion nicht zu folgen vermag. Wir halten es für wichtig und verdienstvoll, daß der Autor mit einer Fülle erlebter Tatbestände nachweist, wie sehr spätestens ab den siebziger Jahren die Politik der SED dazu beitrug, in der Bevölkerung sozialistisches Denken und Fühlen Zug um Zug zu unterminieren, also schon entwickelt gewesenes sozialistisches Bewußtsein zu zersetzen. Für Klaus Kögler lag die „Schuld" darin, daß eine Vielzahl leitender Genossen zu Agenten des Kapitals mutiert und von diesem gar mit hohen Summen zur Realisierung der beschriebenen Exportpolitik bestochen worden waren.
„Offenbar
für höchste Schmiergelder wurde unsere DDR verraten und verkauft! Wie
sollten die Arbeiter dann der Obrigkeit vertrauen können? Die Arbeiter suchten
in der Intelligenz- und Kaderpartei, die längst kein Klassenbewußtsein mehr
hatte, vergeblich nach ihren
Leitbildern." Und so „konnten die orientierungslosen Arbeiter leicht
von antikommunistischen {westlichen) Medien belogen und verhetzt werden!
Genosse Erich Honecker merkte nichts mehr ... Die Konterrevolution war lange und
gut vorbereitet und siegte! Die Leipziger
sahen sie aus der Nikolaikirche kommen, aber erkannten sie nicht."
Hinter dieser subjektiven Sicht verstecken sich viele große Wahrheiten. Allerdings bedurfte es keiner vom Kapital bestochenen Agenten, die alles, was an DDR-Erzeugnissen irgend exportierbar war, in den Westen schickten, auch wenn es im Lande selbst gebraucht wurde. Die verantwortlichen leitenden Wirtschaftsfunktionäre handelten ohne Bestechung unter dem Druck und Zwang, der dadurch ausgelöst wurde, daß die Arbeitsproduktivität und Modernität der eigenen Wirtschaft immer weiter hinter den westlichen Industriestaaten zurückblieb - teils selbstverschuldet, denn die DDR verfolgte unter Honecker und Mittag eine sehr fragwürdige Wirtschaftspolitik und lebte sozialpolitisch über ihre Verhältnisse; teils als Folge westlicher Embargopolitik und teils auch bedingt durch die Stagnation und Fehlentwicklung in der Sowjetunion, unserem wichtigsten Handelspartner. Und um dem entgegen zu steuern, brauchte man wirklich um jeden Preis Devisen.
Freilich war die DDR-Führung weit davon entfernt, über solche Probleme dem Volk - im Sinne der bekannten Leninschen Forderung - offen die Wahrheit zu sagen. Es konnte eben nicht sein, was nicht sein durfte. Und so verbreitete das vom Politbüro gesteuerte Informationswesen die den Tatsachen hohnsprechende Meinung, daß alles in bester Ordnung sei und vernebelte damit auch vielen Genossen die Köpfe. Selbst Honecker ignorierte wahrheitsgemäße Berichte der Staatssicherheit mit dem Bemerken, das lese sich ja wie Westpropaganda.
Schließlich zieht Klaus Kögler Bilanz:
„Ein noch so mangelhafter Sozialismus' ist immer noch besser als jeglicher, von seinem Wesen her verbrecherischer Kapitalismus."
Er ist fest davon überzeugt, daß „solange Arbeiter mitzubestimmen hatten, die DDR auf dem richtigen Wege war ... Der größere Teil der Intelligenzler und der Intellektuellen ist indifferent und den Arbeitern ein unzuverlässiger Bündnispartner. Ohne Arbeiter haben die sozialistischen und kommunistischen Parteien keine Massenbasis mehr und müssen zwangsläufig scheitern."
In einem Nachwort schreibt er:
„Im Jahre 1919 beschloß die KPD in einem Programm u. a. vier Grundrechte für die sozialistische Republik. Diese vier Grundrechte wurden in der Verfassung der DDR zu gültigen Gesetzen erhoben und boten bis zuletzt jedem Bürger unseres Staates Schutz und Sicherheit:
Artikel 15 Recht auf Arbeit; Artikel 16 Recht auf Erholung; Artikel 26 Recht auf Wohnung;
Artikel 35 Recht auf Bildung.
Seit der planmäßigen Liquidierung der DDR gelten diese Menschenrechte für den ,gemeinen Mann' nicht mehr. Wir sind wieder auf dem Stand von 1919 angelangt."
Klaus Kögler
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