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War ich zu selbstbewußt?

 1948 kam ich, 26 Jahre alt, aus Oberbayern in die sowjetische Besatzungszone.

Ich wollte lernen; mein erstes Ziel war die Meisterprüfung im Friseurhandwerk. Da ich in Strausberg wohnte, aber in Berlin arbeitete und meinen zweijährigen Sohn Artur zu versorgen hatte, begann eine harte Zeit. Die Eltern, der Garten, die Ziege und die spärlichen Lebensmittel auf Karten halfen uns, zu überleben.

Zunächst hatte ich meinen damaligen Junior-Lehrmeister im britischen Sektor aufgesucht, einfach um zu sehen, wie er den Krieg überstanden hatte. Er jedoch machte mir den Vorschlag, bei ihm zu arbeiten, da ich doch Damen- und Herrenfriseur sei. Es kämen nur wenige Kunden, weil sie alle in den Osten liefen, und ich hätte Zeit zum Knüpfen der Meisterprüfungs-Perücke. Ich ging darauf ein. Hier erlebte ich die Schieber und Spekulanten in Aktion. Aus der noch spärlichen DDR-Produktion wurden Textilien vom Brokat über Wäsche bis zu Strümpfen, dazu Eier, Butter und Spargel angeboten, alles natürlich in DM-Dumpingpreisen, die die Verkäufer dann in den Wechselstuben auf der Westseite der Sektorengrenze im Verhältnis O : W = 1 : 6 oder 1 : 7 wieder in Mark der DDR umtauschten und so große Gewinne machten. Die Westberlinerinnen ließen sich ihre Dauerwellen für 8,50 Mark der DDR beim Ostfriseur machen (also für umgerechnet 1,22 DM West). Anschließend gingen sie zum Ost-Schneider, -Fleischer, -Haushaltswarengeschäft:, -Blumenladen usw. Diese lukrativen „Spielchen“ zu Lasten der DDR-Bürger setzten sich bis 1961, bis zur Schließung der Grenze nach Westberlin, in gesteigerter Form fort. DDR-Volksvermögen floß in stetem Strom in den Westen ab.

Bei meinem Junior-Lehrmeister bekam ich die erste Lektion darüber, was Angestellte im Kapitalismus erwartet. Anfangs war noch von Familienanschluß, eventuell einem Teller Suppe, einer Tasse Kaffee oder Tee die Rede. Bald aber nicht mehr. Als mir dann noch das Lachen verboten wurde (durch Zufall war ich zweimal innerhalb kurzer Zeit in einer Ecke mit dem Kopf eines Lehrlings zusammengestoßen, was uns beide zum Lachen brachte), war dies das Ende meiner Tätigkeit. Zum Lehrling sagte der Meister: „Du kannst ja gehen, wenn es dir hier nicht mehr paßt. Ein Anruf von mir, und hundert andere kommen!“

Dieser Lehrling gehörte zu den Berufsschülern, die mit auf den Westberliner LKW stiegen, der an der Friseurschule in der Hannoverschen Straße (sowjetischer Sektor) vorfuhr und dessen Insassen durch die Klassen gingen und verkündeten, die Friseurschule werde in den Westen verlagert. Das Mobiliar und die Schüler, welche den Werbern vertrauten, wurden in den Westen verfrachtet.

Ich verließ also den Laden meines Junior-Lehrmeisters, holte tief Luft, besann mich darauf, wo ich zu Hause war und wo mir niemand das Lachen verbieten konnte.

Aber dann ließ ich mich doch noch einmal in den Westsektor vermitteln, in einen Salon, der zu normalen Zeiten eine Empfangsdame beschäftigt hatte. Denn ich brauchte Zeit für meine Perücke, mein Meisterstück. In diesem Geschäft wurde mir die Marktwirtschaft beigebracht. Die chemischen Mittel, die nun einmal bei der Behandlung des Haares benötigt werden, sollten eine solche Zusammensetzung haben, daß das Haar später eines Haarpflegemittels bedurfte und eine entsprechende Empfehlung zu geben nötig war. Dazu ein Satz von meinem Chef, der es durchaus gut mit mir meinte:

„Sie müssen die Präparate so empfehlen, daß die Kunden fest an den Erfolg glauben - auch wenn es Hühnerscheiße wäre! Sie wollen sich doch auch einmal selbständig machen!“

Wir gingen in Frieden auseinander, und für mich war endgültig Schluß mit der Arbeit im Westen. Meine Meisterprüfung habe ich in der DDR bestanden. Ich konnte arbeiten und lachen, wie und wann ich es wollte. Mein Traum: Ich wollte Fachlehrer für Friseure werden. Aber ich trug noch einen Klotz am Bein - meine völlig unzureichende Allgemeinbildung. Ich kam aus einer Einklassen-Dorfschule!

Wie es dort zugegangen war? Acht Jahrgänge wurden in einem Raum unterrichtet. In einer solchen Schule absolvierte ich die zwei letzten Schuljahre. Manchmal besuchte ich auch eine Drei- bzw. Vierklassenschule. Einige der Lehrer bewundere ich noch heute. Sie versuchten wenigstens, uns etwas beizubringen und schlugen auch nicht. Andere dagegen prügelten auf uns herab, wenn sie an den langen Tischen hin und her liefen. Wir waren ja nur Tagelöhner- und Arbeiterkinder! Die Kinder der Begüterten oder gar Reichen (Gutsbesitzer, Bürgerliche) wurden in die Stadt zur Schule gefahren.

Mein ständiger Schulwechsel hing damit zusammen, daß mein Vater von einem Bauern zum anderen ziehen bzw. Arbeit in der Stadt suchen mußte, denn es war die Zeit der großen Weltwirtschaftskrise von 1929 bis in die dreißiger Jahre hinein.

Mit meinen Deutschkenntnissen (Wortschatz, Grammatik, Rechtschreibung) konnte ich mich als Fachlehrer vor keine Klasse wagen. Also machte ich mich auf, folgte dem Ruf: „Werdet Berufsschullehrer!“ und landete bei Nacht und Nebel auf dem Bahnhof Greifswald. Der dortige Aufsichtsbeamte verhalf mir zu einer Unterkunft zwischen meinen von weither gekommenen Kolleginnen am neugegründeten „Institut für Berufsschullehrerbildung“. Ein Jahr des intensiven Lernens sollte dazu dienen, die ungeheuren Wissenslücken wenigstens annähernd zu schließen. Hier in Greifswald lernte ich zum erstenmal den richtigen Gebrauch der Muttersprache und wurde mit Mathematik und einem Kapitel Gesellschaftswissenschaften konfrontiert. Mir ging es wie einer Kollegin, die ihre Schulbildung immerhin mit der (bürgerlichen) Mittleren Reife abgeschlossen hatte. Sie sagte zu mir: „Wie Schuppen fällt es mir von den Augen, seitdem ich weiß, wo die Ursachen der Kriege liegen!“

Das war’s! Dieses Wissen wollten wir weiter vermitteln. Und in diesem Sinne weiter leben und handeln in einem neuen, besseren Staat.

Unsere Lehrer waren Pädagogen aus bürgerlich-humanistischen Kreisen und auch solche, die die Hölle des faschistischen Krieges und der KZ überlebt hatten.

Nach diesem Jahr in Greifswald arbeitete ich dann drei Jahre an der Berufsschule in Strausberg. Für eine Unterrichtsstunde benötigte ich ein bis zwei Stunden Vorbereitung, manchmal auch drei, ich war Lehrende und Lernende zugleich.

 

Ich lernte einen Mann kennen, einen Genossen. 1951 heirateten wir, 1955 kam unser Sohn Willi zur Welt.

Wegen der Belastungen durch familiäre Probleme und Pflichten gegenüber Kindern mußte ich meine Tätigkeit als Berufsschullehrer unterbrechen; mein Ziel Fachlehrer für Friseure rückte in den Hintergrund. Um es aber nicht aus dem Auge zu verlieren und ganz auf Berufstätigkeit zu verzichten, begann ich stundenweise in einem Friseurgeschäft in der Bornholmer Straße, nahe der offenen Grenze zu Westberlin, in einer Filiale der Friseurgenossenschaft „Modische Linie“ zu arbeiten.

Dort gab es ein vom Vorstand festgelegtes Soll, das unbedingt erfüllt werden mußte. Das liebe Geld stand im Mittelpunkt aller Überlegungen. Ich geriet in den Widerspruch zwischen der Notwendigkeit der Sollerfüllung und meinem Bestreben, die Kunden aus Ost und West qualitätsgerecht zu behandeln und zu beraten. Die Westkunden brachten ihre Haarpflegemittel mit und gaben, da sie nach wie vor aus dem Umtauschkurs zwischen beiden Währungen erhebliche Vorteile zogen, reichlich Trinkgeld. Der sie jeweils bedienende Kollege konnte ihnen auch problemlos teure Behandlungen empfehlen und in Rechnung stellen. So stimmte sein Soll immer. Ich hinkte mit dem Soll meist hinterher, denn ich fühlte mich verpflichtet, auch Ostkunden zu bedienen. Oft genug wurden sie abgewiesen, weil angeblich kein Termin frei war; in Wirklichkeit aber, weil man an ihnen bei gleichen Preisen deutlich weniger verdiente. Hatte ich aber eine Ostkundin, deren Haar einer Packung oder besonderer Behandlung bedurfte, die natürlich mehr kostete als 3,50 M, zeigte sich, daß die Pflegemittel aus DDR-Produktion im Geschäft nicht vorhanden waren. Es war ja so leicht, zu sagen: „Ham wa nich!“ Und ich habe selbst miterlebt, daß dem Vertreter von Berlin-Chemie gesagt wurde: „Brauchen wa nich!“ Ich griff ein und bestellte das Haarpflegemittel. Als es kam, wurde es mir mit den Worten überreicht: „Ihre Packungen sind da!“ Ich wendete sie bei meinen Kunden mit Erfolg an. Als sich dieser auch im Geld bemerkbar machte, bemühte sich ein junger, charmanter Kollege darum, meine Kunden abzuwerben. Er wurde übrigens von Westkunden oft für den Besitzer des Geschäfts gehalten, und sie waren sehr erstaunt, wenn sie von mir erfuhren, daß es einer Genossenschaft gehöre und alle arbeitenden Mitglieder Eigentümer der Genossenschaft seien.

Dem charmanten Kollegen kam dann die Schließung der Grenze am 13. August 1961 zu schnell, er hatte schon auf gepackten Koffern gesessen. Im Laden war Weltuntergangsstimmung, und ich freute mich! Endlich reine Luft und klare Verhältnisse. Die Ostkunden galten wieder etwas, auch wenn sie sich nur im Herrensalon die Haare für 1,75 Mark der DDR schneiden lassen wollten.

Man stellte mir oft Fragen wie z. B.: „Warum ist die Leberwurst nicht richtig eingepackt?“, aber auch: „Werden Gefangene bei uns geschlagen?“ Meine Antwort auf die letzte Frage: „Wir sind hier nicht im Faschismus!“ Heute frage ich mich, ob es nicht doch vorgekommen ist und warum?

Ich war gewohnt, auf politische Fragen und solche mit politischem Hintergrund zu antworten, weil ich auf Gewerkschaftsversammlungen in der Schule und bei Bildungsveranstaltungen selbst Fragen stellte und mein Wissen erweiterte. Hier in der Genossenschaft wurde mir übelgenommen, daß ich immer Papier und Bleistift dabei hatte, um für mich Wissenswertes aufzuschreiben. So kam ich auf die Idee, eine Zusammenkunft zu organisieren, auf der Kolleginnen und Kollegen Fragen stellten und diese von einem kompetenten Juristen beantwortet würden. Es sollte von unserer Verfassung und von Gesetzen gesprochen werden. Natürlich unterrichtete ich den Vorstand von der Absicht. Er sagte sofort zu und wollte sich um das Organisatorische kümmern. Lange rührte sich nichts. Ich wartete vergeblich auf die offiziellen Einladungen an die Kollegen. Schließlich kümmerte ich mich selbst, lud eine Staatsanwältin ein und gab Termin und Ort bekannt. Es erschien der ganze Vorstand und auch ein Vertreter der Kreisleitung der SED. Von den Kollegen kamen nur wenige, nur die, mit denen ich selbst gesprochen hatte. Der Vorsitzende machte die provokative Bemerkung, er wisse gar nicht, was alle hier sollten, es wäre doch nur Zeitverschwendung - auch für die „charmante Frau Staatsanwältin!“ Damit war eingetreten, was ich befürchtet hatte.

Damals war eine bewegte Zeit. In Israel gab es den Eichmannprozeß. Im Kongo spalteten reaktionäre Kräfte den Staat und brachten Lumumba um. Ich hatte eine entsprechende Resolution entworfen und wollte über sie mit den Genossenschaftsmitgliedern diskutieren - das war meine demokratische Vorstellung.

Der Vorsitzende meinte: „So ist die Kollegin, so ist sie!“ Dann kam er mit einem Gegenvorschlag. Er wollte im Namen des Vorstandes und der anwesenden Kollegen 600 Mark auf das Solidaritätskonto überweisen. Der Vorschlag wurde von allen angenommen. Damit war die Versammlung beendet.

Draußen flossen meine Tränen in Strömen. Die Staatsanwältin tröstete mich mit den Worten: „Mach, daß du hier wegkommst, hier bist du vollkommen fehl am Platz.“

Dann hatte ich mir aus Trotz das Parteiabzeichen der SED angesteckt. Sollte doch jeder sehen, wer ich war. In die Partei war ich eingetreten, als in Kuba die sozialistische Revolution gesiegt hatte. Das Parteiabzeichen am Kittel einer Friseuse in einer Friseurgenossenschaft an der Grenze zu Westberlin - das war eine halbe Rebellion. Binnen fünf Minuten mußte ein Signal an die Kreisleitung gelangt sein. Es rief Genossen auf den Plan, die an meinen Arbeitsplatz kamen und fragten: „Warum das?“. Eine Kundin aus Hannover machte mir jedoch wegen meiner Handlungsweise Komplimente.

Als ich dann ging, bekam ich eine verleumderische, rufschädigende Beurteilung in die Kaderakte, die erst nach Jahren wieder herausgenommen wurde.

Ich ging wieder zur Volksbildung, wo ich, wie sich zeigte, wirklich gebraucht wurde. Und zwar dort, wo Lehrer, Erzieher und Eltern gemeinsam versuchten, von der Natur oder durch Krankheiten benachteiligten kleinen und größeren Kindern das fürs Leben zu lehren, was sie an Fähigkeiten erlernen konnten, damit auch sie in der Gesellschaft ihren Platz finden würden.

Oft waren wir Lehrer und Erzieher zugleich Vater und Mutter - besonders für Kinder, die von Nachbarn in den von den Eltern verlassenen Wohnungen aufgefunden und uns übergeben wurden. Die Eltern waren bei Nacht und Nebel in den freiheitlichen Westen getürmt. Die verlassenen Kinder wurden von der Jugendhilfe in christlichen oder staatlichen Heimen untergebracht oder von Ehepaaren aufgenommen. Manchmal wurden sie auch adoptiert, aber das erst nach langem erfolglosem Suchen nach Vater und Mutter. Das Elternhaus konnten wir diesen Kindern nicht ersetzen, ihnen aber oft in unseren eigenen Familien etwas Nestwärme geben. Schule und berufliche Ausbildung waren ihnen sicher.

Plötzlich kamen dann Stimmen aus dem Westen. Man rief nach „Familienzusammenführung“. Der verfemte Staat DDR hatte ja seine Pflicht an den Kindern getan - bei kostenloser Betreuung und Ausbildung. Nun waren sie offenbar im westlichen Staat BRD wieder etwas wert ...

Meine in dieser Arbeit erworbenen Kenntnisse als Erzieher für „im intellektuellen Bereich geschädigte Kinder“ wurden mir auch in der Familie nützlich. Unser Sohn Willi war kein Vorzeigekind. Er litt unter einer Schreib- und Leseschwäche mit allem, was dazugehörte. Damals gab es in der DDR noch keine LRS-Klassen, die wurden erst Ende der sechziger Jahre eingerichtet. Der Vater konnte oder wollte sich nicht kümmern. So blieb es mir überlassen, mich dem Jungen zu widmen. Meine Bemühungen hatten Erfolg; er erreichte den Abschluß der 10klassigen Oberschule. Damit war ihm die Ausbildung als Bautischler sicher, ebenso eine spätere Arbeitsstelle in diesem Beruf.

Mein weiteres Berufsleben „ging seinen sozialistischen Gang“. Diese verbreitete Redewendung traf im besten Wortsinn auf meine Entwicklung zu. Um die pädagogische Ausbildung zu vollenden, mußten sechs Jahre Fernstudium absolviert werden. Das war auch für die spätere Rente wichtig. Sonderversorgung für die Intelligenz, Fernstudium und berufliche Tätigkeit gehörten zusammen. Es gab einen Studientag im Monat und einen Haushaltstag für die berufstätige Hausfrau. Alles wurde unter einen Hut gebracht und bewältigt. Die finanzielle Verbesserung machte sich in der ganzen Familie bemerkbar. Wir hatten ein gemeinsames Konto, auf das monatlich zwei Gehälter überwiesen wurden - bis zum Mai 1975. An und für sich stand also die Sonne am Himmel. Probleme, die es in der Familie gab, konnten lange Zeit mit gutem Willen und Einsicht gelöst werden.

Aber der Hafer stach. Mein Mann leitete nach 24 Ehejahren die Scheidung ein. Ich war ihm wohl zu selbstbewußt geworden. Er wünschte sich eher ein „Tuttelchen“ an seiner Seite und am liebsten ein Leben nach dem Motto: Jedem seine Wohnung und jedem sein Geld. In der Öffentlichkeit predigte er Sozialismus, aber von familiären Verpflichtungen hielt er nichts. Die von der Verfassung der DDR garantierte Gleichberechtigung der Frau war im öffentlichen Leben weitgehend verwirklicht, so wurde konsequent gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt. Aber wie stand es um die Gleichberechtigung im persönlichen Leben, in Ehe und Familie?

Ich möchte dem Leser keine ausführliche Darstellung meiner Ehe- und Scheidungsprobleme zumuten und beschränke mich auf wenige Bemerkungen.

Der Mann, Vater und Genosse vergaß nach und nach alle moralischen Grundsätze, die er jahrelang auch öffentlich vertreten hatte. Er erstrebte mit Nachdruck ein ungebundenes Privatleben. Unser Sohn Willi heiratete 1974 mit 19 Jahren und wohnte nun mit seiner jungen Frau auch in unserer großen Wohnung, die ich erst dann gegen eine kleinere hatte tauschen wollen, wenn er fest auf seinen Füßen stand. Auf einem Termin des Scheidungsprozesses „spuckte“ Willi alles aus, was er an negativen Verhaltensweisen seines leiblichen Vaters erlebt hatte.

Nun war der „Genosse“ in die Schere zwischen den von ihm verkündeten sozialistischen Idealen und seinen persönlichen Wunschvorstellungen geraten. Nach außen war er der ehrbare Genosse. Karriere und Ruf standen auf dem Spiel, aber das Fleisch war schwach. So griff er zu Lügen und Verleumdungen. Freunde wurden belogen und der Richter ebenfalls. Mir sagte er einmal: „Ich habe den längeren Arm!“ Damals glaubte ich nicht daran, aber in einigem bestätigte es sich.

Die Ehe wurde geschieden. Das Gericht stellte fest, daß der Mann den größeren Anteil an der Ehezerrüttung gehabt und somit auch den größeren Anteil der Kosten zu tragen hatte. Die Verleumdungen gegen mich setzte er fort.

Es kam dahin, daß sich auch Willi und seine Frau gegen mich wandten und auf die Seite des Vaters wechselten. Das Zusammenleben in einer Wohnung verschärfte die Konflikte. Ich wurde tätlich angegriffen und in bösartiger Weise beschimpft. Die Schwiegertochter sagte: „Du gehörst ins Irrenhaus!“

Das familiäre Drama wirkte sich natürlich auf meine Arbeit als Oberschullehrerin aus.

Alle diese Ereignisse trieben mich in eine tiefe psychische und physische Krise. Mir kam der Gedanke an Suizid. In meiner Bedrängnis schrieb ich an den Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung einen Brief, in dem ich meine Eindrücke vom Stand der Gleichberechtigung der Frau in der DDR zusammenfaßte. Es kam zum Gespräch mit der zuständigen Frauenkommission. Wir redeten und dachten aneinander vorbei. Möglicherweise hätten Vertreter der Heilsarmee (die es ja bei uns nicht gab) mehr geleistet. Und so gingen meine Gedanken seltsame Wege. Sie plädierten gar für die Errichtung staatlicher Bordelle, in denen Männer wie Frauen ihre überschüssige Kraft hätten lassen können - etwa nach dem Muster von „Haus Tellier“ in der Novelle von Maupassant ...

Ich setzte mich aber hin und schrieb einen Brief an die Schulparteiorganisation: „Genossen, ich kann keine Genossin mehr sein, weil ich so vieles nicht mehr verstehe. Wir haben schon wieder zu viele Ja-Sager unter uns!“ Man schloß mich aus der Partei aus; der Beschluß der SPO wurde durch die Kreiskontrollkommission bestätigt und an die Zentrale PKK weitergereicht. Ich wurde vorgeladen. Der zuständige Genosse - ein graumelierter, sehr gut aussehender Mann - faßte sich an den Kopf und sagte: „Ausschluß? Aber doch nicht wegen so etwas!“ Der Ausschluß wurde zurückgenommen, aber auf den Inhalt des Briefes wurde nie reagiert.

Oder waren es die Menschen - darunter viele Genossen - in der großen Demonstration am 4.11.1989 auf dem Berliner Alexanderplatz, die reagierten, weil sie ähnliches mit der Partei und Regierung der DDR erlebt hatten und das Vertrauen in diesen Staat verloren gegangen war?

Ich nahm mein Leben bald wieder fest in die Hände. Das reine Gewissen ließ mich gerade und aufrecht gehen. Meine Wohnung richtete ich neu ein, arbeitete in der Woche wie besessen in der Schule und an den Wochenenden als Reiseleiter, und das bis zu meinem 61. Lebensjahr. Mit 60 erhielt ich Rente, und da ich keine Lust zum Aufhören spürte, kam das Gehalt noch hinzu und mir ging es wieder sehr gut.

Nach neun Jahren des Alleinseins lernte ich meinen zukünftigen Mann kennen. Wir heirateten - und mir waren Glück und Anerkennung beschieden. Leider versagte sein durch Krieg und Wiederaufbau erkranktes Herz. Nach vier Jahren war ich wieder allein und mußte mich aufrichten, denn das Leben ging weiter.

Dann kam die friedliche „Revolution“. Am Horizont erschien eine bessere DDR, in der die verantwortlichen Funktionäre aller Parteien (SED und Blockparteien) von oben bis unten kritische Hinweise der Bürger, die zum Nutzen der sozialistischen Weiterentwicklung der DDR gedacht waren, nicht abwinken sondern beachten würden.

Das war das eine - und das andere?

Wir waren politisch und ökonomisch vom zerfallenden sozialistischen Lager abhängig, besonders vom „großen Bruder“ Sowjetunion. Auch hatten wir ein westliches Embargo zu ertragen. Dank der regierenden Persönlichkeiten der „Noch-DDR“ und unserer bewaffneten Organe kam es zu keinen bewaffneten Auseinandersetzungen. Heute frage ich mich: Was hätte die BRD-Regierung, hätten ihre bewaffneten Organe angesichts eines dortigen Umsturzversuches getan?

In diesen hochbrisanten Tagen wollte ich etwas Vernünftiges tun. Ich malte Plakate - auf einem Herrn Kohl als Ratte - und lief zu Demonstrationen für die DDR. Auch meldete ich mich zu Hilfsarbeiten im Krankenhaus Friedrichshain - konnte doch jeder über die offene Grenze aussteigen und nicht wenige vom medizinischen Personal hatten den Eid des Hippokrates vergessen. Ich tat meinen Dienst 3 bis 4 Stunden am Tag in der Urologie (Männerstation), so wie ich gebraucht wurde und es medizinisch vertretbar war.

Die Schwestern und Ärzte, die ich dort kennenlernte, hätten alle den „Vaterländischen“ verdient gehabt. Es ging darum, die medizinische Versorgung zu sichern und eine Atmosphäre zu schaffen, wie sie für die Gesundung der Patienten notwendig war. Oft wurden Fragen an mich gerichtet, wie: „Wird auf der Baustelle ... noch gearbeitet? Die Häuser dort sind doch noch nicht fertig!“ Oder: „Die Stilmöbel im Ephraim-Palais haben wir in unserer Werkstatt gebaut. Sie stehen im kleinen Cafe des Erdgeschosses. Ist es noch vorhanden?“ Usw. usf. Es mußte beruhigt und getröstet werden. Wenn ich nach Hause kam, war ich zwar psychisch belastet, aber doch frei in dem Bewußtsein, etwas Gutes getan zu haben.

Bis März/April 1990 habe ich durchgehalten.

Die aus Bayern hereingekarrten Fahnen, die für eine Sportveranstaltung im Westen gedacht waren, wurden nun in Leipzig bei Demonstrationen auch von DDR-Bürgern geschwungen, und aus den Kehlen erscholl der Ruf: „Wir sind ein Volk!“ Wer mit DDR-Fahnen demonstrierte, wurde von den „freiheitlich-rechtsstaatlich“ Gesinnten gejagt und verprügelt.

War das nun Revolution oder Konterrevolution?

Es wurde auch unter der wilhelminischen Reichskriegsfahne demonstriert! In Berlin wagten es diese Leute noch nicht, so aufzutreten.

Am 3.10.1990 war ich - trotz alledem - wieder im kapitalistischen System angekommen, vor dem ich 1948 geflohen war.

Mein damals zweijähriger Sohn Artur entwickelte sich gut, hätte studieren können, wollte aber nicht, sondern erlernte den Beruf des BMSR-Technikers, arbeitete im Kraftwerk und war mir in guten und schweren Zeiten bis zum heutigen Tage eine Stütze. Seine Familie mit zwei Söhnen ist auch meine Familie geworden. Er hat noch Arbeit!

Nun danke ich jeden Tag dem „lieben Gott“ und der DDR für die Arbeits- und Lebensmöglichkeiten, die mich heute in die Lage versetzen, meine erwachsenen Enkel vor der Obdachlosigkeit im Staate der unbegrenzten Möglichkeiten zu bewahren und selbst - zwar ständig beunruhigt von Gedanken an die nächste Katastrophe oder an einen neuen Krieg (mit „Kollateralschäden?“), verbunden vielleicht mit neuem Faschismus - noch anständig leben zu können.

Ilse Wendler 


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