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Warum ich als bewußter Christ gern in der DDR lebte und arbeitete
Warum bin ich, der ich aus einer Arbeiterfamilie kam, bewußter Christ und Theologe geworden? Am liebsten antworte ich darauf, daß Gott selbst mich in seinen Dienst berufen hat. Dieser Satz überzeugt freilich Nichtchristen nicht, und auch ich bin mir bewußt, daß auch „irdische“ Gründe genannt werden können.
Meine Mutter war sehr fromm und hat mich früh in das kirchliche Leben eingeführt, ebenso die Großmutter. In dieser Familie gab es auch sehr fromme Freikirchler pietistischer Prägung, besonders meine Groß- und Patentante. Schon 1945 stieß ich als zehnjähriger Junge zur Jungen Gemeinde und wurde weithin durch sie geprägt, durch die wöchentlichen Zusammenkünfte ebenso wie durch Wochenend- und Sommerfreizeiten, so daß ich als Oberschüler selbst schon kirchliche Jugendgruppen leitete, und der Besuch jedes Gottesdienstes meiner Kirchgemeinde war für mich selbstverständlich. Als Vierzehnjähriger hatte ich schon die gesamte Bibel durchgelesen.
Es gibt sicher in meiner Psyche Anlagen, die auf religiöse Gedanken positiv reagieren. Damit meine ich vor allem die Vorstellung eines liebenden Vaters, des Schöpfers und Erlösers, der aber den Menschen auch in Pflicht nimmt und unter Verantwortung stellt. Ich war schon als Junge grüblerisch und nachdenklich, suchte Geborgenheit und Wärme. Da war mir die Kirchgemeinde das Gegenbild zu nazistischer Verrohung und Gewaltideologie.
Ausdrücklich möchte ich betonen, daß ich meinen Entschluß als Schüler der 9. Klasse, Theologie zu studieren, keinen Augenblick bereut habe, obgleich ich heute zur Institution Kirche ein gebrochenes Verhältnis habe. Es war ursprünglich mein Ziel, Pfarrer zu werden. Aber während meines Studiums band mich früh der Rostocker Inhaber des Lehrstuhls für Kirchengeschichte, Erhard Peschke, an seine wissenschaftliche Arbeit, und da Geschichte schon in der Schule mein Lieblingsfach war, ließ ich mich gern von ihm werben und wurde aus dem Lernenden allmählich ein Lehrender im Bereich der Hochschule. 38 1/2 Jahre hielt ich mich an der Universität meiner Vaterstadt Rostock als Lernender und Lehrender auf, bis ich im April 1992 wegen „Staatsnähe“ entlassen wurde.
Wie kam es allmählich zu dieser „Staatsnähe“? Ich war durchaus nicht sofort ein glühender Verehrer der DDR. Ich erinnere mich noch gut, wie sehr ich mich darüber freute, daß aus den ersten Bundestagswahlen 1949 die CDU/CSU als Sieger hervorging. Ich freute mich nicht eigentlich aus Antikommunismus, sondern wegen des „C“ in ihrem Parteinamen.
In der Kirche und der Jungen Gemeinde wurde ich nicht zu einem Freund der DDR erzogen. Eigentlich redete man immer nur ironisch und abschätzig, zugleich wehleidig im Hinblick auf die eigene Situation, über diesen entstehenden ungeliebten Staat. Als sich die staatliche Polemik gegen die Junge Gemeinde seit Herbst 1952 schnell versteifte, schienen sich kirchliche Befürchtungen zu bestätigen. Ich machte 1953 gerade mein Abitur. Mir persönlich geschah nichts, aber viele andere, die in diesem Herbst meine Kommilitonen wurden, verwies man zeitweilig von der Schule.
Erst 1962 trat ich der CDU in der DDR aus Überzeugung bei. Die fünfziger Jahre waren Jahre eines intensiven inneren Ringens, denn als Norddeutscher liebte ich keine schnellen Entschlüsse, sondern überlegte mir meine neue Positionsbestimmung sehr gründlich.
Ich hatte jedoch schon dadurch, daß ich aus einer Arbeiterfamilie stammte, andere gesellschaftliche Voraussetzungen als die meisten Mitchristen und ganz besonders die meisten Amtsträger und Theologen. Ich entstammte nicht einem Pfarrhaus und keinem wohlhabenden Elternhaus ohne materielle Sorgen. Meine beiden Großväter waren noch ungelernte Arbeiter, ihrerseits Kinder von Landarbeitern, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg in Rostock Arbeit suchten. Sie hatten seit ihrer Kindheit, zumal sie viele Geschwister hatten, Not und Elend kennengelernt. Ich hatte stets ein waches soziales Gewissen und meine heute noch, daß soziale Gerechtigkeit mit christlicher Nächstenliebe sehr viel zu tun hat. Mit Erschütterung sah ich italienische neorealistische Filme, angefangen mit „Es gibt keinen Frieden unter den Oliven“, und hörte vor allem auf die Schilderungen meiner Vorfahren, besonders auf die meines durchaus klassenbewußten Großvaters. Hinzu kam noch, daß mein Vater einige Jahre lang politischer Häftling im KZ Sachsenhausen war. Er war ein schlichter, nichtorganisierter Arbeiter, aber er hatte, als die Nazis den Zweiten Weltkrieg vom Zaun brachen, im Kollegenkreis seine Empörung darüber geäußert, worauf zwei von ihnen ihn bei der Gestapo denunzierten. Er kam wieder frei, aber er erzählte mir von den schrecklichen Erlebnissen, besonders von der Anfangszeit in den berüchtigten Steinbrüchen. So war ich stets gefeit gegen den Hitlerfaschismus und erlebte schon den 1. Mai 1945, als sowjetische Truppen in Rostock einmarschierten, real als Tag der Befreiung.
Während mein Vater im KZ war, wurde unsere Arbeiterwohnung in der Rostocker Altstadt mit dem in einem Jahrzehnt mühsam Erworbenen während der ersten schweren britischen Bombenangriffe auf unsere Stadt im April 1942 ein Raub der Flammen. Die Bilder, wie wir aus dem brennenden Haus und durch eine Trümmerwüste flüchteten, werden lebenslang vor meinem inneren Auge stehen. Nur einen kleinen Koffer rettete meine Mutter So waren es traumatische Kindheitserfahrungen, die mich schon früh zur absoluten Absage an den Krieg, wie an den Faschismus führten. Von hier bis zu meinem Wirken als einer der Vizepräsidenten des Friedensrates der DDR gibt es eine direkte Linie. Ich wurde 1992 an der Universität übrigens ausdrücklich auch wegen meiner jahrzehntelangen Friedensarbeit entlassen.
Von der Erfahrung meiner Kindheit her war mir klar: Wir müssen alles Menschenmögliche tun, damit es nie wieder Krieg und Faschismus gibt. Dieser Zielsetzung gerade auch der Marxisten konnte ich nur von Herzen zustimmen. Auch war ich lebenslang so fair, daß ich meinte, man müsse ihnen eine echte Chance geben, sich zu bewähren, statt all ihr Tun selbstgewiß zu negieren. Mich beeindruckte schon 1945 sehr eine frühe Verfilmung von Friedrich Wolfs „Professor Mamlock“. 1956 konnte ich meine erste Auslandsreise unternehmen. Ich gehörte einer Delegation von Theologiestudenten an, die die Comenius-Fakultät, die Ausbildungsstätte der Böhmischen Bruderkirche, besuchte. Josef Hromádka und andere Theologen lernte ich dort persönlich kennen und schätzen. Mich überzeugte die geistliche Kraft ihrer Aussagen, die keinen Zweifel an der Ehrlichkeit ihres Glaubens aufkommen ließ, die sich mit großer Offenheit für die neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten ihres Landes verbanden. Erhard Peschke, Spezialist für westslawische Kirchengeschichte, lenkte meine Aufmerksamkeit auf die hussitische Bewegung, die Reformation und zeitweise Revolution zu gleich war. Wenn ich mich auch schriftlich nur in kleinerer Form zu ihr äußerte, so lernte ich doch viel von ihnen und schrieb meine Rostocker Dissertation über den englischen Reformator John Wyclif, der seinerseits Jan Hus inspirierte.
Damit stieß ich zugleich auf alternative Bewegungen des Mittelalters, die - so verschieden sie im einzelnen waren - jedenfalls nicht wie die katholische Staatskirche eine reiche und mächtige Kirche bilden wollten. Das wurde für mein bewußt nicht klerikales Kirchenverständnis sehr wichtig und wohl letztlich entscheidend. Mein Leitbild wurde immer deutlicher das einer bewußt dienenden und - wenn man so will - selbstlosen Kirche, die nicht eigene Rechte gegen andere durchsetzt, nicht auf irdische Sicherungen vertraut, sondern gerade aus einem starken Glauben an Gottes Verheißung sich in das einbringt, was allen zugute kommt. Deshalb war für mich die Formel der CDU in der DDR von der gemeinsamen humanistischen Verantwortung keine blasse Theorie. Ich bin für legitime christliche Anliegen in der DDR stets eingetreten, und wo etwa Eltern christlicher Kinder die Meinung vertraten, ihren Kindern sei an der Schule wegen ihres Glaubens Unrecht geschehen, da bin ich dem noch als Abgeordneter der Volkskammer stets nachgegangen und habe in einigen Fällen eine Korrektur enger und sektiererischer Maßnahmen erreicht Aber es war dies nie das, was mich zentral beschäftigte. Zentral ging es mir immer deutlicher darum, daß wir Christen anderen gerecht werden, daß wir nicht in erster Linie fordern, sondern selbst unseren Beitrag leisten und dadurch freilich auch das Zusammenleben mit Nichtchristen entkrampfen.
Dies wurde mir gerade auch deshalb immer wichtiger, weil ich bei meinen kirchengeschichtlichen Forschungen nach und nach zu meinem eigenen Erschrecken darauf stieß, daß die Kirchen in ihrer Vergangenheit durchaus nicht alles richtig machten, daß sie ihrerseits oft sehr intolerant waren und daß sie auch vor Gott und Menschen schuldig wurden. In der Kirche hatte man sehr einseitig Lobeshymnen über die Haltung der Kirche in der Nazizeit gesungen. Nun aber zeigte sich, daß die Wirklichkeit sehr viel diffiziler war, daß es bis in die Reihen der Bekennenden Kirche hinein auch Nazis gab und daß manche Kirchenmänner klaren Entscheidungen ausgewichen waren, um sich selbst zu schützen. Vor allem zeigte sich mir, daß die Kirchen in der Vergangenheit im Zeichen des Bündnisses von Thron und Altar oft einseitig für die Herrschenden Partei ergriffen und daß sie bei früheren Klassenkämpfen auf der falschen Seite der Barrikade standen. Ich lernte, daß sich schon im 19 Jahrhundert zwar viele Christen für die soziale Frage interessierten und daß sie bewegende Beispiele persönlicher Mildtätigkeit in Diakonie und Innerer Mission gaben, daß sie aber nicht immer offen waren für die legitimen Anliegen derer, die ihre sozialen Menschenrechte im Kampf durchzusetzen suchten. Mit Erschütterung las ich auch im Ersten Weltkrieg gehaltene Predigten, die nicht vom Glauben an den Vater Jesu Christi, sondern vom Glauben an den heidnischen Götzen Mars zeugten und mit schlimmen nationalistischen Tiraden, die der Völkerfreundschaft spotteten, verbunden waren.
Ich lernte also immer kritischer zu fragen, ob die jeweilige Praxis der für alle Zeiten gültigen Glaubensurkunde der Christenheit, der Bibel und besonders dem Neuen Testament, entsprach oder nicht. Ich habe dadurch nicht den Glauben verloren, suchte vielmehr nach den nach vorn weisenden positiven Neuansätzen der Kirchengeschichte und fand auch sie in großer Zahl, merkte aber, daß deren Vertreter oft eine kleine Minderheit in den Kirchen bildeten, diskriminiert und verfolgt wurden und in der kirchlichen Verkündigung oft keine oder höchstens eine Randbedeutung hatten. Es ging mir also immer um die progressive Traditionslinie der Kirchengeschichte, doch ließ ich mich nie von der Theologie abbringen, ging es mir doch um die überzeugende theologische Grundlegung rechten Handelns, das der Gemeinschaft zugute kommt.
Ich wurde bei dieser Suche an vielen Stellen fündig. Meine Bücher sind Ausdruck der Ergebnisse meiner Forschungsarbeit. Ich sprach schon von den alternativen Bewegungen des Mittelalters. In meiner Habilitationsschrift, 1969 in Jena erfolgreich verteidigt, ging es um die Geschichtstheologie des 1202 gestorbenen süditalienischen Mönches Joachim von Fiore, in meinem Buch „Gott und Geschichte“ um einen zweiten Teil mit Hinweisen auf chiliastische Gedanken bis hinein in die Neuzeit erweitert (Leipzig 1974). Das Buch über Franziskus von Assisi (Leipzig 1977) erlebte 1981 eine 2. Auflage. In diese Reihe gehört auch mein Buch über den großen Zisterzienser Bernhard von Clairvaux (Frankfurt/M etc. 1993). Da ich ein bewußt lutherischer Theologe bin, kann nicht verwundern, daß ich das Angebot des Union-Verlages Berlin gern annahm, zum großen Luther-Jubiläum 1983 eine neue theologische Luther Biographie vorzulegen. Nach der „Wende“ beteiligte ich mich an mehreren Buchpublikationen des Marburger Politologen Friedrich-Martin Balzer über die in gesellschaftlicher Hinsicht besonders klarsichtigen Religiösen Sozialisten, besonders über die badischen Religiösen Sozialisten Erwin Eckert und Heinz Kappes. In der Reihe Fakten/Argumente des Union-Verlages, die sich ganz aktuellen Problemen zuwandte, steuerte ich drei Titel bei zum Verhältnis von Versöhnung und Parteilichkeit (gegen ein Mißverständnis des theologischen Leitbegriffs der Versöhnung als Versöhnlertum), zum Darmstädter Bruderschaftswort von 1947 als „Charta der Neuorientierung“ mit seiner wiederholten Feststellung „Wir sind in die Irre gegangen“ und über verschiedene Traditionslinien auch in der pietistisch-evangelikalen Ausprägung des Glaubens.
Politisch habe ich immer nur ehrenamtlich mitgearbeitet, entzog mich dagegen Versuchen der CDU-Parteileitung, mich hauptamtlich in die Parteiarbeit zu ziehen, etwa im Bereich Kirchenfragen der Parteipresse. Mein theologischer Beruf war mir zu allen Zeiten Berufung und ist es auch heute noch, weil mit meiner Entlassung aus dem Universitätsdienst nach meiner Auffassung Gottes Berufung nicht ungültig wurde. Und da gab es genug zu tun.
Meine Interessen waren zu allen Zeiten sehr weitgespannt. Aus subjektiven wie objektiven Gründen hatte ich mich mit großen Themenkomplexen zu befassen. Meine Berufung zum Hochschullehrer nach meiner Habilitation fiel in die Zeit der III. Hochschulreform, die im Bereich Theologie die Neue und Neueste Kirchengeschichte und die Ökumenik besonders hervorhob. Beides war sachlich völlig richtig. In meinem eigenen Studium war der Kirchengeschichtler nur bis zum Pietismus, also bis etwa 1700, gekommen. Ich aber hatte nun Vorlesungen über das 19. und 20. Jahrhundert, über die Geschichte der ökumenischen Bewegung in allen ihren Zweigen vom Ökumenischen Rat der Kirchen über die konfessionellen Weltbunde und die Konferenz Europäischer Kirchen bis zur Christlichen Friedenskonferenz auszuarbeiten, dazu über die Kirchengeschichte und aktuelle Lage der Christenheit in den anderen Erdteilen, wobei Lateinamerika, aber auch Schwarzafrika und einige asiatische Länder intensiv beleuchtet wurden. Das alles war, wie gesagt, in meinem eigenen Studium fast noch gar nicht vorgekommen und erforderte ein hohes Maß an eigenen Forschungen, während ich mich als Mediävist und Reformationshistoriker lange Zeit nur in Buchform äußern konnte. Intensiv rezensierte ich auch Fachliteratur in der Theologischen und der Deutschen Literaturzeitung (in letzterer noch in ihrem letzten Heft, als auch sie dem „Markt“ zum Opfer fiel).
Auf die Übernahme des Ordinariats für Kirchengeschichte in Rostock im September 1989 bereitete ich mich jahrelang intensiv vor, indem ich die Vorlesungen für den Zeitraum von der Zeitenwende bis 1550 und die Dogmengeschichte neu ausarbeitete, wähnend, ich könnte im zweijährigen Turnus bis 2000 jede dieser Vorlesungen noch fünf Mal halten. In Wahrheit konnte ich vor meiner Entlassung dies alles nur ein einziges Mal, die Anfänge der Kirchengeschichte freilich noch ein zweites Mal lesen, aber für mich selbst war diese Ausarbeitung sehr ertragreich, und ich profitiere noch heute bei vielen Fachvorträgen, besonders unter Nichtchristen, davon.
Meine ehrenamtliche gesellschaftliche Arbeit aber vergrößerte sich seit meinem Eintritt in die CDU 1962 sehr schnell. Ich wurde Mitglied des Bezirks- und später des Hauptvorstandes der CDU, Abgeordneter des Bezirkstages und später der Volkskammer, stellv. Vorsitzender des Bezirksausschusses der Nationalen Front, zeitweise Mitglied ihres Nationalrats und, nach dem Tode des Thüringer Oberkirchenrats Gerhard Lotz 1982, einer der Vizepräsidenten des Friedensrates der DDR. Auch in der Christlichen Friedenskonferenz arbeitete ich im Rahmen der mir noch bleibenden Zeit mit und nahm z. B. an der I. und II. Allchristlichen Friedensversammlung in Prag 1961 und 1964 teil.
Im Bezirkstag Rostock wurde ich auf eigenen Wunsch Mitglied der Ständigen Kommission Sozialistisches Bildungswesen. Gelegentlich kam es zu Auseinandersetzungen mit der an sich von mir sehr geschätzten Bezirksschulrätin, aber ich erhielt einen intensiven Eindruck vom schulischen Leben durch die allmonatlichen Einsätze in den einzelnen Kreisen.
In der Volkskammer gehörte ich wie andere Mitglieder des Friedensrates dem Außenpolitischen Ausschuß an, ging es hier doch stets primär - wohl etwas zu einseitig - um Frieden und Abrüstung, wobei ich Hermann Axen, den Ausschußvorsitzenden, als klugen und integeren Politiker kennen lernte.
In der Nationalen Front war ich besonders für die Arbeitsgruppen „Christliche Kreise“ zuständig, wo es um den der Praxis dienenden Dialog von Christen und Marxisten entsprechend den aktuellen kirchenpolitischen Gegebenheiten ging. Auch in kirchenpolitischer Hinsicht brachte ich mich vor allem als Theologe ein.
Im Bezirksverband der CDU hielt ich z. B. zahlreiche theologische Vorträge in Ortsgruppen, so zur Luther-Ehrung, überhaupt zu kirchengeschichtlichen und ökumenischen Themen und natürlich zur Friedensfrage, sprach auch auf zahlreichen Weihnachtsfeiern. Besonders im Zentralorgan „Neue Zeit“ und in der CDU-Bezirkszeitung „Der Demokrat“ veröffentlichte ich zahlreiche Beiträge vor allem zu theologischen, kirchengeschichtlichen und Friedensthemen.
Mit zentralen Ämtern war naturgemäß auch der internationale Austausch verbunden. Wir empfingen viele Gäste in Rostock wie in Berlin, aber ich trat auch in der BRD und später in anderen kapitalistischen Staaten vor allem auf Friedensveranstaltungen und bei DDR-Tagen auf, wobei ich auch dort besonders kirchliche Gemeinden und Bildungseinrichtungen, so in New York, den Niederlanden und Belgien, besuchte.
Insgesamt ergab sich aus alledem eine ungeheure Arbeitsbelastung. Wohl über l.000mal fuhr ich nachts nach Berlin, kehrte spätabends zurück und stand zuweilen am nächsten Morgen um 7 Uhr schon wieder im Hörsaal, bereitete öfters wahrend der Bahnfahrt meine nächsten Lehrveranstaltungen vor oder las Fachliteratur.
Heute scheint all diese Mühe vergeblich gewesen zu sein, aber ich folgte dem von mir als richtig Erkannten. Natürlich kann ich mich wie jeder Mensch irren, aber da alles wohl durchdacht war, stehe ich auch heute noch dazu und sehe mich eigentlich nicht verpflichtet, auch nur einen einzigen Satz zurückzunehmen.
Bin ich also unbelehrbar? Bin ich naiv? Ich hoffe, daß beides nicht der Fall ist. Ich habe vielmehr selbst den Eindruck, daß ich täglich hinzulerne. Tatsache ist, daß mir stets bewußt war, innerhalb der Christenheit nicht den allgemein anerkannten Weg zu gehen. Aber ich mußte ihn gehen, von meinen Erkenntnissen und meinem Gewissen dazu genötigt. Ich stand mit meiner Überzeugung innerhalb der Christenheit der DDR auch durchaus nicht allein. In dem von Friedrich-Martin Balzer und Christian Stappenbeck herausgebrachten Buch „Sie haben das Recht zur Revolution bejaht“ (Bonn 1997) habe ich in einem Aufsatz die im einzelnen theologisch unterschiedlich begründeten progressiven Neuansätze unter evangelischen Christen in der DDR dargestellt. (In diesem Buch findet der interessierte Leser auf Seite 346-361 auch ein Verzeichnis meiner Veröffentlichungen in Auswahl.)
Ich habe wohl von allen diesen Strömungen wie von unzähligen anderen willig gelernt und mich bereichern lassen, woraus sich dann freilich eine Gesamtüberzeugung mit durchaus originalen Zügen ergab, die kein Abklatsch irgendeiner anderen ist. Ich war dabei um theologische Sauberkeit stets genauso bemüht wie um politische Klarheit und Parteilichkeit in ihrer unaufgebbaren Verbindung mit Sachlichkeit. In der CDU der DDR war über lange Zeit dieser Prozeß des gemeinsamen Lernens und der an der Sache ausgerichteten Diskussion stark ausgeprägt, wie ja auch die beiden der CDU gehörenden Verlage Union-Verlag und Koehler & Amelang mit ihrem reichen geistigen Leben und ihrer unverkennbaren Spezifik bevorzugte Orte meiner Buchveröffentlichungen waren. Aber ich führte das Sachgespräch genauso mit parteilosen progressiven Theologen, wobei mich Rosemarie Müller-Streisand und Hanfried Müller zum Ärger der CDU-Parteileitung besonders in den achtziger Jahren (als die CDU sich bereits prinzipienlos nach rechts zu öffnen und nach links hermetisch abzuschließen begann) in den Beratungen von Fachvertretern für Neue und Neueste Kirchengeschichte wie durch die „Weißenseer Blätter“ stark beeinflußten, ohne daß ich meinen unverwechselbaren eigenen Denkansatz in theologischer Hinsicht (der auch stark von so großen Neutestamentlern unseres Jahrhunderts wie Rudolf Bultmann und Ernst Käsemann geprägt ist) aufgegeben hatte.
Aber die progressiven Christen und Theologen waren in der DDR bei allen Schwankungen doch immer eine kleine Minderheit, übrigens auch die, die im Bund Evangelischer Pfarrer in der DDR vereint waren, der leider 1974 aufgelöst wurde. Hier arbeitete ich zeitweise im Vorstand, besonders aber als Verfasser zahlreicher Beiträge im Redaktionskollegium des Evangelischen Pfarrerblattes mit, wo man mich als jungen Theologen am ehesten kennenlernen kann.
Der Leser wird fragen, ob ich denn in der DDR keine Probleme gehabt habe. Doch, ich hatte sie in hohem Maße, aber nur in geringem Maße mit Marxisten. Natürlich gab es auch mit einigen von ihnen gelegentliche Querelen, und sei es, daß ich zeitweise etwas kühler gegrüßt wurde, und dann nur erraten konnte, was ich in ihren Augen falsch gemacht hatte. Aber ganz primär kann ich ihnen nur dankbar sein für all die Forderung und Anerkennung, die ich von ihrer Seite erfuhr, woraus sich in Einzelfallen sogar Freundschaft ergab. Dabei konnten sie eigentlich nicht verstehen, wie ein Mensch mit meinem „biographischen“ Hintergrund aus Überzeugung Theologe sein konnte. Und um es gleich hier zu sagen: Selbstverständlich habe auch ich unter dem einen oder andern in der DDR gelitten, was auch für viele andere eine Last war. Es war mir zu allen Zeiten klar, daß die DDR nicht die abschließende Form sozialistischer Gesellschaftsgestaltung sein konnte. Im stillen hoffte ich auf eine Zeit, in der der Sozialismus eine neue, reife Qualität erlangen werde. Darum war ich zunächst von Gorbatschow begeistert. Aber da ich regelmäßig die sowjetische Wochenzeitung „Neue Zeit“ las, wurde ich bald nachdenklich, und schon 1988 sagte mir Frau Müller-Streisand unter vier Augen über Gorbatschow: „Wir (sc. sie und ihr Mann) hielten ihn für einen neuen Lenin, aber er ist ein neuer Dubček.“ Diese frühe Beurteilung hat sich, wie vieles in den „Weißenseer Blättern“, bestätigt.
Wie gesagt, auch ich hatte Wunschträume, die in der DDR nicht in Erfüllung gingen. Obgleich ich mich selbst als Kandidat zur Wahl stellte, hat mir der Wahlakt nie gefallen. Auch die Plenartagungen der parlamentarischen Körperschaften zeichneten sich nicht gerade durch lebendigen Meinungsstreit aus. Aber sozialistische Politik war stets nicht nur berechenbar, sondern wirklich verstehbar, auch dann, wenn es zu Kurskorrekturen kam.
Ich selbst konnte es, aus einer armen Familie kommend, bis zum Professor bringen, und das war kein Privileg, sondern ich nahm nur Möglichkeiten wahr, die prinzipiell allen offenstanden. Ich freute mich täglich daran, in einem Staat ohne Arbeits- und Obdachlosigkeit, ohne Ganoven und Prostituierte und ohne Millionäre leben zu dürfen. Ich kaufte jede Woche ein Buch zu unwahrscheinlich günstigem Preis und profitiere jetzt noch täglich davon. So konnte man im Hinblick auf sozialistische Errungenschaften fortfahren. Ich äußerte durchaus, wo ich es für nötig hielt, abweichende Meinungen, hätte es freilich gern gesehen, wenn Marxisten meiner Überzeugung in noch stärkerem Maße Aufschlüsse für sich selbst entnommen hätten. Aber mit Hanfried Müller war ich darin einig, daß man revolutionäre Disziplin üben müsse. Ich wollte ja nicht den Tod des Sozialismus, sondern seine Reifung. Die Friedenspolitik der DDR fand ich schlechthin überzeugend, während mich an der Einstellung der christlichen Protestgruppen, von einigen die Friedensbewegung der DDR genannt, gar nichts überzeugte. Ich diskutierte gelegentlich mit ihnen, aber sie waren nicht tolerant, wollten nur die eigene Linie durchsetzen. Ich versuchte aber auch in ihren Reihen zu differenzieren zwischen denen, die ehrlich den Frieden wollten und die man also ernst nehmen mußte, und denen, die Todfeinde der DDR und des Sozialismus waren.
Mit den letzten Sätzen aber ist bereits mein eigentliches Problem in der DDR angedeutet. Dieses Problem waren nicht die Marxisten, sondern die schroffen Antikommunisten im kirchlichen Raum. Sie betrachteten mich als Verräter. Mit ihnen kam es auch nie zum eigentlichen Sachgespräch, so wenig die bundesdeutschen Antikommunisten je ehrlich geistig mit Marxisten gerungen haben. Seit ich meine starke Sympathie für die DDR Anfang der sechziger Jahre auch öffentlich bekundete, war ich in Kirche und Theologie isoliert und im Grunde einsam. Trotzdem gab es gelegentlich Gemeinschaft, aber daß wir auf unterschiedlichen Seiten der Barrikade standen, blieb letztlich immer entscheidend. Nach außen war das Verhältnis zu den Kollegen friedlich, und es fiel kaum je ein böses Wort. Auch mit einem Teil der Studenten konnte ich arbeiten, und es waren nicht die schlechtesten unter ihnen. Aber ich war zu allen Zeiten an der Theologischen Fakultät und auch an der Sektion Theologie ein Fremdkörper, und man ließ es mich fühlen, was man von mir hielt. Da ich ein sensibler Mensch und ehrlicher Gläubiger bin, litt ich darunter. Im Glauben mußte ich meine Existenz „unter dem Kreuz“ als normale christliche Existenz schweren Herzens verstehen lernen. Mein Leben glich eigentlich zu allen Zeiten dem eines Kommunisten in einem kapitalistischen Staat. Wenn man eine solche schwierige Situation durchsteht, läßt das freilich reifen und stählt den Charakter. Vielleicht war dies auch in der „Wendezeit“ die entscheidende Hilfe, meiner Überzeugung treu zu bleiben.
Nein, ein „Wendehals“ wurde ich nicht, aber es kam auch nicht zu Resignation und Verbitterung. Ich bin mir selbst und der Wahrheit, wie ich sie erkannt zu haben meine, treu geblieben und bin innerlich ungebrochen. Ich werde niemals aus der Kirche austreten, werde mich am kirchlichen Leben aber erst wieder beteiligen, wenn eine neue Reformation ausbricht, was freilich zu meinen Lebzeiten nicht mehr zu erwarten ist. Aber man sollte den Heiligen Geist nicht unterschätzen! Ich mußte lernen, daß der Korpsgeist der Kirche durchaus nicht identisch ist mit dem Heiligen Geist. Ich lernte aber auch immer neu, daß der Heilige Geist weht, wo er will, und daß es eine weltumspannende Gemeinschaft der wirklich Glaubenden gibt, jene unsichtbare Kirche aus vielen kirchlichen Organisationsformen, der ich mich zutiefst zugehörig fühle.
Ich bin auch heute kein Atheist. Vor dem weltanschaulichen Atheismus der Marxisten habe ich Respekt, obgleich ich ihn nicht teile. Den in der spätbürgerlichen Gesellschaft herrschenden Atheismus aber halte ich für schrecklich banal und oberflächlich in seiner Sicht des Menschen und teilweise auch für inhuman. Allen Humanisten weiß ich mich nach wie vor im Innersten und in der Tat eng verbunden, ganz gleich, ob sie Gläubige, Irrgläubige oder Ungläubige sind. Denn die Nächstenliebe ist die der Welt zugewandte Seite des Glaubens. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“, gebot schon Jesus, denn: „Nicht alle, die Herr, Herr! sagen, werden ins Himmelreich kommen, sondern die den Willen meines Vaters im Himmel tun.“
Gottes Wille aber ist, daß alle Menschen in Frieden, Würde und Erfüllung leben dürfen, und darum gebietet der Glaube mir, jeder Form von Zerstörung des Lebens entgegenzutreten.
Ich weiß, daß auch ich ein Sünder bin mit schwachen wie starken Seiten. Viele auch meiner Jugendträume sind nicht gereift. Aber mitten in der „Wende“ sandte mir Christian Stappenbeck eine Ansichtskarte mit einem schönen Wort von Marie v. Ebner-Eschenbach: „Nenn dich nicht arm, weil deine Träume nicht in Erfüllung gegangen sind. Wirklich arm ist nur, der nie geträumt hat.“ Es geht freilich nicht nur um Träume, so wichtig für mich die emotionale Seite der Existenz ist. Es geht um Erkenntnisse und Lebenserfahrung, um Weisheit und ganz primär um Liebe, die noch bleibt, wenn alles andere vergeht.
Prof. Dr. Gert Wendelborn
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