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Als blinder Hochschullehrer in Rostock

 Der Sommer 1947 war sehr heiß. Ich lag in der Universitätsaugenklinik der Humboldt-Universität Berlin. Blind werden, blind sein? Dieses Damoklesschwert hing schon länger über mir, aber jetzt drohte es in aller Schärfe auf mich herabzusausen. Wie man weiß, hofft der Mensch, solange noch Hoffnung ist. Trotz mehrfacher Operationen bestand für mich keine Hoffnung mehr, das Augenlicht wiederzuerlangen. Als ich am 30. April 1945 als Jagdflieger (Me 162) nach Ausfall eines Triebwerkes von amerikanischen Jägern abgeschossen wurde, hatten Geschoß- und Glassplitter die Netzhaut beider Augen zu sehr beschädigt.

Von nun an war es dunkel um mich. Es begann die Zeit der Neuorientierung, der Ausrichtung, auf andere Art zu leben.

1946, noch auf einem Auge sehend, hatte ich meine spätere Frau kennengelernt. Sie blieb auch nach meiner völligen Erblindung an meiner Seite. Ihre menschliche Wärme und ihr optimistisches Wesen gaben mir Kraft und Zuversicht. 1948 heirateten wir.

Mit ihrem Einfühlungsvermögen und ihrer Hilfsbereitschaft bewahrte sie mich vor einer „Überbehütung“. Das war für die Erziehung und Selbsterziehung zur Selbständigkeit unter den neuen Lebensbedingungen außerordentlich wichtig. Auch der mir eigene Optimismus half mir, über mein psychisches Tief schneller hinwegzukommen. Nach einiger Zeit damit abgefunden, ist mir die Blindheit bis heute nicht zur seelischen Last geworden. Bald ging ich allein spazieren und gewann zunehmend Sicherheit in der Mobilität.

Aber wie sollte und konnte es nun beruflich weitergehen? Vom Sozialamt beraten, fuhr ich mit meiner Frau nach Neukloster (Kreis Wismar) in die Landesblindenanstalt.

Dort wurde ich mit den Schicksalen, Problemen und Berufsmöglichkeiten Blinder vertraut gemacht. Ich erfuhr eine blindentechnische Ausbildung, lernte Punktschrift, Punktschrift-Stenographie sowie das Schreiben auf der Picht-Blindenschrift-Schreibmaschine und auch auf der normalen Schreibmaschine. Außerdem brachte man mir das Bürstenmachen bei.

Mein erster Arbeitsplatz war eine Stenotypistenstelle im Ministerium für Gesundheitswesen der Landesregierung Mecklenburg. 1952 besuchte ich einen einjährigen Lehrgang an der Landesverwaltungsschule Mecklenburg. Wegen der Betreuung unseres kleinen Sohnes war meine Frau ans Haus gebunden. Ich mußte also während dieses Studienjahres ohne eine feste Begleitung auskommen. Meine Selbständigkeit und wechselnde Hilfen durch die Kommilitonen erleichterten mir den dortigen Aufenthalt. Durch die Notwendigkeit des Vorlesens hatte ich als einziger Blinder an dieser Schule das Privileg, mein Selbststudium nicht wie die anderen Teilnehmer in der Seminargruppe, sondern in meinem Zimmer zu betreiben. Jeder meiner Kommilitonen war scharf darauf, mir vorzulesen, bedeutete dies doch eine lockere Art des Literaturstudiums. Klausuren und schriftliche Prüfungen durfte ich in der vorgegebenen Zeit in Punktschrift erarbeiten und außerhalb dieser Zeit in Schwarzschrift übertragen. Weil das Klappern der Punktschrift-Schreibmaschine in der Gruppe störte, setzte man mich in ein Nebenzimmer. Ob ich wirklich ein Thema bearbeitete oder sonstwas schrieb, konnte keiner kontrollieren.

Nach bestandener Prüfung folgte eine Tätigkeit als Sachbearbeiter beim Rat der Landeshauptstadt Schwerin. Hier begannen einige Jahre harter Arbeit. Die Familie, inzwischen war unser zweites Kind geboren, die Berufstätigkeit und die ehrenamtliche Arbeit im Blindenverband forderten mir eine Menge ab. Meine Arbeitsaufgaben aber befriedigten mich nicht. Über den zweiten Bildungsweg, die Volkshochschule, erlangte ich die Hochschulreife. Danach entschloß ich mich zu studieren.

An der Humboldt-Universität Berlin ließ ich mich als Fernstudent in den Fächern Philosophie und Sozialwissenschaften einschreiben, was für die nächsten Jahre meine ganze Kraft und Willensstärke in Anspruch nahm. Das war natürlich mit Vorlesen, mit sehr viel Vorlesen verbunden. Die Hauptlast trug meine Frau, unterstützt durch eine Vorlesekraft. Finanziell half dabei das Vorlesegeld des Blindenverbandes, denn die damaligen bescheidenen Gehälter ließen es nicht zu, diese wichtige Hilfe aus eigener Tasche zu bezahlen. Mehr jedoch fiel die durch staatliche Anordnung verfügte Maßnahme ins Gewicht, daß Fernstudenten pro Monat ein Studientag und im Jahr eine Woche Studienurlaub bei gleichen Bezügen gewährt werden mußte. Und wenn es in der beruflichen Arbeit sehr hart zuging, drückte auch der OB, in dessen Bereich ich tätig war, mal ein Auge zu. Erst aus späterer Sicht wurde mir bewußt, daß ich in dieser Zeit auch meiner Familie viel Verständnis und Opfer abverlangt habe. Für Gemeinsamkeiten blieben eigentlich nur die freien Sonntagnachmittage, und selbst die waren nicht garantiert. So lief das Studium über sechs Jahre. Zu meiner Genugtuung schloß ich mit „Sehr gut“ und dem Prädikat Dipl.-phil. ab.

Nach Überwindung einiger Widrigkeiten, die mit Voreingenommenheit bzw. Unkenntnis gegenüber dem Leistungsvermögen eines Blinden zusammenhingen, begann endlich meine Arbeit an der Universität Rostock. Zunächst erfolgte eine allgemeine Einweisung in die Aufgaben jenes Bereiches, in dem ich tätig sein sollte. Ich wußte bis dahin wenig über die traditionelle Einheit von Lehre und Forschung im allgemeinen und auf philosophischem Gebiet im besonderen, über notwendige Publikationstätigkeit, wissenschaftliche Konferenzen und Reisetätigkeit auf wissenschaftlichem Gebiet im In- und Ausland. Hinzu kam auch das Vertrautmachen mit der Nachkriegsgeschichte des Faches Philosophie an der Universität, vor allem aber mit der Hauptfunktion meines Institutes, der Durchführung des für alle Studenten obligatorischen marxistisch-leninistischen Grundlagenstudiums. Mit der Einbindung des Hochschulwesens in den gesellschaftlichen Umgestaltungsprozeß nach dem Krieg blieb auch seine Entwicklung nicht von Veränderungen unberührt. Obwohl alle universitären Bereiche von diesen Veränderungen erfaßt wurden, traf dies in besonderem Maße für die gesellschaftswissenschaftlichen Einzeldisziplinen, wie z. B. Geschichte, Literaturwissenschaften oder Pädagogik zu. Tiefgreifende Veränderungen erfuhr aber der philosophische Bereich. Die Philosophie war den Einzelwissenschaften gegenüber von ihrem Gegenstand her neben den Bereichen Politische Ökonomie und Wissenschaftlicher Sozialismus innerhalb des Marxismus-Leninismus unmittelbar weltanschaulicher und politisch-ideologischer Natur. Das hatte generelle Folgen. Auch an meiner Universität veränderte sich einiges auf dem Gebiet der Philosophie.

Nach Aufnahme meiner Tätigkeit am Institut Marxismus/Leninismus durchlief ich die normale wissenschaftliche Laufbahn wissenschaftlicher Assistent und Oberassistent, danach Hochschuldozent und später Berufung zum Professor. Dreizehn Jahre lang leitete ich den Wissenschaftsbereich Philosophie an meiner Sektion. Inzwischen wurde ich zum Dr. phil. promoviert und hatte mich einige Jahre später habilitiert.

In meiner praktischen Arbeit zeigte sich nun, daß im Unterschied zum Studium das Vorlesen eine noch größere Rolle spielte. Die notwendige Fachliteratur konnte es nicht im erforderlichen Maße in Blindenschrift geben. Zwar half hier die Deutsche Zentralbücherei für Blinde (DZB), indem sie auf Wunsch bestimmte Literatur für studentische und wissenschaftliche Zwecke in Punktschrift druckte. Aber das reichte trotzdem nicht, es mußte vorgelesen werden. Zum Beispiel betraf das die vielen studentischen Arbeiten, die durchzusehen waren, vor allem aber das Literaturstudium für die Forschung. Hier kam auch mir eine staatliche Verordnung vom Januar 1960 zugute, die vom Blindenverband der DDR initiiert war. Sie beinhaltete, daß Blinde in verantwortlichen Funktionen zusätzlich zum Stellen- und Finanzplan des Betriebes eine Halbtags- und in besonderen Fällen auch eine Ganztagskraft zum Lesen und Schreiben beanspruchen konnten.

Gegenüber meiner früheren Tätigkeit im Staatsapparat empfand ich in meinem neuen Arbeitsbereich die relativ offene und streitbare Atmosphäre sehr wohltuend. Es leuchtet ein, daß für die Schaffung und Erhaltung eines guten, verhältnismäßig offenen und kritischen Klimas auch die Leiterpersönlichkeit von Bedeutung ist. Ich erinnere mich sehr gern eines Mannes, der fünfzehn Jahre lang an der Spitze meines Institutes stand, Prof. Dr. Manfred Krüger. Er war ein sehr undogmatischer und liberaler Kollege, der es verstand, Studenten und Mitarbeitern auch in politischer Hinsicht unkonventionell und mit oft ironisierender, spitzer Zunge gegenüberzutreten. Kritiken und Zurechtweisungen von „oben“ steckte er oftmals weg. Daher war er an der Universität Rostock ein gern gehörter und gesehener Leiter, Hochschullehrer und For scher. Ich spürte eine Freude, als er mir vor wenigen Jahren im Gespräch sagte, daß ihm aus Anlaß seines 70. Geburtstages im Dezember 1995 vom Rektor der Universität ein Gluckwunschschreiben mit der Würdigung seiner Leistungen als Hochschullehrer und Forscher zugegangen ist. Ein nach der „Wende“ durchaus nicht übliches Geschehen für einen Mann mit marxistischer Grundeinstellung und daher ein ermutigendes Politikum. Manfred Krüger, als ein immer sozial denkender Leiter, brachte mir von Anfang an großes Verständnis entgegen. Er blieb aber auch gegen mich hart im Fordern bei der Erfüllung beruflicher Aufgaben.

Ein Gleiches kann ich von meinem Lehrer und Betreuer meiner Dissertation, Prof. Dr. Ulrich Seemann, sagen. Manch gutes und kritisches Gespräch hatten wir auch bei der Anfertigung meiner Habilschrift.

In meiner praktischen Tätigkeit an der Universität wurde ich zunächst in das Gebiet der Lehre eingewiesen. Hier hatte ich mich relativ schnell und gut eingearbeitet, trotz einiger pädagogischer und methodischer Besonderheiten, die von einem Blinden bei der Durchführung von Seminaren und Vorlesungen zu beachten sind. Auch die Studenten mußten sich hierauf einstellen. So funktionierte z. B. die Methode des Meldens durch Handheben nicht. Ich mußte die Möglichkeit haben, die Studenten auch namentlich anzusprechen. Damit der erforderliche „Blickkontakt“ hergestellt werden konnte, setzte dies eine feste Sitzordnung voraus, die ich mir nach einem Punktschrift Sitzspiegel einprägte. Um jedoch keinem schulmäßigen Abfragen zu verfallen, müssen auch von einem Blinden Problemfragen zur freien Diskussion in den Raum gestellt werden. Die Studenten nannten ihren Namen und „schossen los“. Kamen zur gleichen Zeit mehrere Wortmeldungen, griff ich regulierend ein. So brauchte ich letztlich nur noch diejenigen persönlich zur Diskussion aufzufordern, die von „Hause aus“ zurückhaltend waren. Zur Förderung philosophischer Streitgespräche mußte ich als Seminarleiter darauf achten, durch entsprechende Zwischenfragen die Aufmerksamkeit auch auf die Beiträge meiner Studenten zu lenken. Dies war besonders im ersten Studienjahr schwierig, wirkte doch die typisch schulmäßige Lehrweise nach.

Es kam jedoch noch ein weiteres Problem hinzu. Die neuen Studenten waren es von der Schule weitgehend gewöhnt, in gesellschaftstheoretischen Fächern nur das zu sagen, was nach ihrer Meinung der Lehrer hören wollte. Hier nun aber sollte eine lebendige Streitatmosphäre entwickelt werden. Das bedingte Offenheit auch dann, wenn andere Auffassungen als die der marxistischen Philosophie vertreten wurden. Anders würde man nur zum Heucheln erziehen, wie das leider so oft geschah. Aus diesem Grunde konnte ich auch nur die Kenntnis philosophischer Thesen des Marxismus werten bzw. zensieren, nicht aber das Bekenntnis zu ihnen. So verfahren zu können, setzte die Herausbildung eines gewissen Vertrauensverhältnisses zwischen meinen Studenten und mir voraus.

Ein anderes methodisches Problem, mit dem man es als Blinder in Lehrveranstaltungen zu tun hatte, war folgendes: Um die vom Gegenstand her sehr allgemeinen philosophischen Zusammenhänge zu veranschaulichen, nutzte auch ich Tafelbilder. Sie wurden nach meinen Angaben von meiner Frau angefertigt. Mein Assistent oder ein Student zeichneten das Schema während meiner Vorlesung oder im Seminar an die Wandtafel, so daß ich aus dem Gedächtnis heraus in der Vorlesung danach sprechen und im Seminar danach arbeiten konnte. Bei gutem Zusammenspiel konnte ein solches Tafelbild auch während des Sprechens „wachsen“, also in Abhängigkeit von meinen Ausführungen aufgebaut und erweitert werden. Das Gleiche war im Prinzip für mich auch mit fertigen Folien per Overheadprojektor möglich. Die Hauptsache war, daß man das Bild oder die wachsenden Bilder (ob als Folie oder Eigenzeichnung) gedächtnismäßig im Kopf hatte, um danach synchron sprechen zu können.

Mit dem zentral vorgegebenen und dogmatische Züge tragenden Lehrprogramm tat ich mich oft schwer. Es enthielt die Themen bzw. Schwerpunkte des in den Vorlesungen und Seminaren abzuhandelnden Stoffes. Als Leiter des Wissenschaftsbereiches Philosophie oblag es mir u. a., für die Einhaltung der Programmschwerpunkte zu sorgen. Der zentralistische Zwang, sich an die vorgegebenen Schwerpunkte zu halten, bedeutete jedoch nicht, daß es keinerlei individuelle Variabilität der Interpretationsmöglichkeiten gegeben hatte. Wo es Zwange gibt, da sind im Regelfall auch Freiräume vorhanden. Und diese sind von mir und vielen meiner Kollegen auch genutzt worden - naturlich weit entfernt von einem spannungsvollen und unbeschnittenen Pluralismus in Wissenschaft und Politik. Die Nutzung vorhandener Freiräume war aber auch nicht identisch mit dem sogenannten Nischenverhalten, wie man es heute so oft bezeichnet; denn es ging trotz allem um das Einhalten eines vorgegebenen Lehrprogramms. Dabei mußte man sich nicht unbedingt an Lehrbücher halten, konnte von ihren Thesen teils abweichen und auch konträre Meinungen vertreten. Die Hauptsache, man blieb den Grundgedanken der marxistischen Philosophie treu. Zuweilen war dies eine Gratwanderung, aber das machte die Sache auch interessanter und konnte für mich und vor allem für die Studenten etwas Farbe in die Darlegung des Stoffes bringen.

So weckte ich auch das Interesse und forderte die Mitarbeit der Studenten, wenn z. B. in Übungen das Gemeinsame und Unterschiedliche in den Auffassungen von Platon, Hegel und Marx zu einem konkreten staatsphilosophischen Sachverhalt herauszuarbeiten war. Hierfür hektographierte ich entsprechende Passagen aus Platons „Staat“, von Hegel und Marx fertigten die Studenten selbst Auszüge an. Damit hatte jeder Student entsprechendes Material zur Verfügung, und die Diskussion konnte beginnen. Ähnlich verfuhr ich mit der Gegenüberstellung philosophischer Positionen im Blick auf andere Sachverhalte, wie z. B. die Herausarbeitung der Unterschiede zwischen der mit seiner Offenbarungstheologie verbundenen dialektischen Theologie von Karl Barth, dem bekannten Schweizer evangelischen Theologen und Wissenschaftler, der dialektischen Grundkonzeption von Hegel und der von Engels. Diese Art von Lehrveranstaltungen in der Seminargruppe war auch von mir als Blinden methodisch gut durchzuführen und vor allem geeignet, theoretischen Meinungsstreit zu entwickeln.

Am Ende eines jeden Studienjahres kam die spannungsvolle Zeit der Prüfungen und die Vorbereitung darauf. Sie war aber auch für den Prüfer eine außerordentlich anstrengende Phase, denn 100 bis 150 Studenten mündlich zu prüfen, erforderte konzentrierte Aufmerksamkeit und Zeit. Entsprechend der notwendigen Unterscheidung von Wissen und Gewissen, von Kenntnis und Bekenntnis, von Erlerntem und Überzeugung verfuhr ich natürlich auch bei den Prüfungen. Dies war es jedoch nicht, was ich als Blinder zu beachten hatte. Das für mich Besondere bestand darin, während des Prüfungsgesprächs den „Blickkontakt“ zu wahren. Hierbei waren meine normalen, natürlichen Augen sehr wichtig. Ich mußte Ruhe ausstrahlen, um in dieser Atmosphäre auch helfend eingreifen zu können. Bei dem Prüfling konnte so das Gefühl entstehen, auch von einem Blinden gerecht beurteilt zu werden. Mein Assistent führte währenddessen das Prüfungsprotokoll, welches er mir vorlas und das ich dann nur zu unterschreiben brauchte.

Um einen möglichst hohen Grad an Selbständigkeit und Mobilität zu erreichen, nutzte ich viele Jahre Blindenführhunde. Sie waren mir auf allen Wegen in die Vorlesungen und Seminare und natürlich auch im privaten Leben treue Begleiter. Von meinen Studenten forderte ich auch insofern Disziplin, als sie oft geneigt waren, meine „Anke“ mit besonderen Leckerbissen aus ihrer Ruhe zu locken. Im Laufe der Zeit wurde die Anwesenheit meiner „Gefährtin“ zur Normalität. Nach Ableben des letzten Hundes stellte ich mich auf die Langstocktechnik um, die mir eine mindestens ebenso große Sicherheit und Selbständigkeit garantierte und mit der ich bis heute gut zurechtkomme.

Blicke ich heute auf meine Universitätsjahre zurück, so kann ich feststellen, daß die spezifische Eigenart des Wissenschaftsbetriebes an den Sektionen M/L durch die Einflußnahme der Partei wissenschaftliche Leistungen zwar erschwerte, nicht aber unmöglich gemacht hat. Das betraf vor allem die Forschungsarbeit. Trotz des von der Parteiführung indoktrinierten Wahrheitsanspruches auf den Marxismus und auf marxistische Theorienbildung sind auch an der Sektion M/L national und international vorzeigbare wissenschaftliche Leistungen erbracht worden. Dies insbesondere im Bereich der Forschung. Hier war es mehr als auf dem Gebiet der Lehre möglich und notwendig, jene im Lehrprogramm staatlicherseits vorgegebenen ideologischen Positionen unberücksichtigt zu lassen, die von einem gewissen Dogmatismus geprägt waren und dem Erkenntniszuwachs im Wege standen. Dabei wurde die weltanschauliche Grundauffassung der marxistischen Philosophie nicht in Frage gestellt. Auf diese Weise behaupteten auch Wissenschaftler der Sektionen M/L einen Selbständigkeitsanspruch für ihre Forschungsvorhaben.

Ich habe insgesamt 32 wissenschaftliche und 15 populärwissenschaftliche Beiträge publiziert. Davon einige in Ungarn, Polen, der Sowjetunion und in skandinavischen wissenschaftlichen Zeitschriften. Einige dieser Arbeiten waren aus heutiger Sicht nicht ganz frei von ideologisch gefärbten Einseitigkeiten.

Zu den Aufgaben eines Hochschullehrers gehört auch die Betreuung von Doktoranden zur Anfertigung ihrer Dissertation („Doktorvater“). Die damit verbundene Arbeit ist für einen Blinden durch die Notwendigkeit des Vorlesens zeitaufwendiger. Trotzdem habe ich diese Anleitungstätigkeit gern übernommen. Ähnlich verhielt es sich auch mit Gutachteraufgaben. Von den Dekanen der eigenen als auch anderer Universitäten bin ich viele Male zum Gutachter für Doktordissertationen einschließlich Habilitationsschriften bestellt worden. Diese waren sowohl philosophischer, sonderpädagogischer und auch medizinischer Art. Letztere natürlich nur mit sozialen Komponenten der Rehabilitation. Die Bestellung von Gutachtern bedeutet zwar Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Kompetenz, Gutachtertätigkeit ist auch interessant und kann vertiefende Kenntnisse bringen, beansprucht für Blinde jedoch ebenfalls einen relativ hohen Zeitaufwand. Es muß nicht nur die zu beurteilende Doktorarbeit vorgelesen, sondern auch, ähnlich wie beim Quellenstudium in der Forschung, teilweise in Punktschrift exzerpiert werden. Auf diese Weise hatte man die Grundlage für eine Abfassung des Gutachtens, welches in Schwarzschrift dem Dekan der jeweiligen Universität fristgerecht hinzureichen war. Auch die zuweilen mit ihrer Erarbeitung verbundenen Studien über Randbereiche der Dissertation oder die Überprüfung auf Plagiate fordern von einem Blinden durch die Notwendigkeit des Vorlesens oder Vergleichens erhöhte Konzentration und zusätzlichen Zeitaufwand. Spätestens hier ist ein Wort zum „Diagonallesen“ angebracht. Jeder sehende Leser nutzt diese Möglichkeit, wenn er einen Lesestoff schnell ohne wesentlichen Substanzverlust überfliegen möchte oder muß. Ich als Blinder konnte das nicht. Hier hing es weitgehend vom Können und von der Sachkenntnis der Vorlesekraft ab, wie schnell gesuchte Passagen gefunden wurden.

Die mir von meiner Universität ermöglichten Vortrags- und Studienreisen führten mich u. a. an ungarische, polnische, norwegische, finnische und sowjetische Hochschulen. Obwohl ich seit Kriegsende nicht mehr am Steuerknüppel eines Flugzeuges gesessen hatte, war seither stets auch das Mitfliegen ein schönes Erlebnis. Erinnerungen wurden wach und gedankliche Vergleiche fielen höchst unterschiedlich aus: Im Kriege als Jagdflieger, später in modernen, großräumigen, zivilen Düsenjets mit anderer geographischer und inhaltlicher Zielorientierung. Es waren Flüge in den sowjetischen Orient, nach Jerewan, Taschkent und Samarkand, aber auch nach Leningrad und Riga.

Prof. Dr. Willi Finck 


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