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Immer lebe die
Sonne
„Wenn du als Kindergärtnerin in einem Dorfkindergarten beginnst“, sagte mir eine Bekannte, „dann sage allen und jedem ‚Guten Tag’ - auch, wenn du ihn nicht kennst und auch, wenn du ihn schon dreimal am Tag gesehen hast. Solltest du es einmal vergessen, hast du im Dorf versch...“ Ich gelobte innerlich, mich immer daran zu halten und fuhr damit fortan gut. Ich freute mich auf meinen ersten Arbeitstag. An der Pädagogischen Schule für Kindergärtnerinnen hatte ich mir gutes Rüstzeug dafür angeeignet. Das Dörfchen, nahe den Dornburger Schlössern, liegt auf einer Anhöhe. Hier kann man die 2000-Seelen-Gemeinde gut überblicken. Der klapprige Bus fuhr den Berg hinunter und hielt an der Bushaltestelle im Tal. Ich stieg aus und das erste, was mich umfing, war der Duft der gewaltigen, uralten Linde, die gerade blühte. Ich ging die Dorfstraße hinauf, und auf der Mitte des Anstiegs erblickte ich eine kleine Frau. Es war die „kleine Ernie“, ihre grauen Haare waren zu einem Dutt verknotet. Sie saß tagsüber auf der Bank vorm Haus und hatte so immer den Überblick. Sie war die „Dorfzeitung“ und versorgte die Bewohner mit Tratsch und Klatsch. Ich grüßte freundlich, und schon am Nachmittag verbreitete sie die Nachricht, daß die neue Kindergärtnerin eine ganz nette sei. So hatte ich im Dorf einen leichten Start. Die Dorfbewohner hatten mich während meiner Absolventenzeit (die ersten zwei Jahre nach meiner Ausbildung) ins Herz geschlossen und ließen mich z. B. an hausgeschlachteter Wurst, frischen Eiern und duftendem Kuchen teilhaben.
In dem Kindergarten waren (1981) 25 Kinder, aufgeteilt in 2 Gruppen. Ich bereitete die ältere Gruppe auf die Schule vor. Grundlage dafür war der Bildungs- und Erziehungsplan. „Dieser Plan ist Ihre Bibel“, hatte uns eine Pädagogik-Dozentin beim Studium gesagt. Ich eroberte die Herzen der Kinder im Sturm. Jeden Tag spielte ich auf meiner Gitarre, erfand Geschichten aus dem Stegreif und gestaltete im Handumdrehen Puppenspiele. Aber der Plan! Er war eine Geißel und würgte manchmal meine und die Phantasie der Kinder ab. So z. B. konnte ich mich nie an die vorgeschriebenen Zeiten halten. Täglich sollten 2 Beschäftigungen (also Vorschulunterricht) durchgeführt werden, die erste Beschäftigung 25 Minuten, dann 10 Minuten Pause und daran anschließend wieder eine 20minütige Beschäftigung. Oje! Entweder waren sie zu lang oder ich kürzte zu früh ab - meine Leiterin ermahnte mich oft. Aus lauter Verzweiflung stellte ich einen Kurzzeitwecker, der den „Unterrichtsschluß“ scheppernd ankündigte. Das verbot mir die Chefin wieder, da der Beschäftigungsabschluß zu abrupt sei. Nervös schaute ich nun ständig zur Uhr.
Es machte mir Spaß, unsere Vorschulkinder auf die Schule vorzubereiten. Sie erwarben altersgemäße Kenntnisse und Fähigkeiten in Musik, Kinderliteratur, Mengenlehre, Natur, Gesellschaftserziehung, Sport und Malen. Schneiden, Kleben, Werkeln, Schleifenbinden lernten die Kinder von klein an. Dadurch waren sie sehr selbständig und konnten einfaches Spielzeug, wie Boote aus Papier oder Basteleien aus Leder- bzw. Naturmaterial, selbst herstellen. Um mit beiden Beinen im Leben zu stehen und Geschicklichkeit zu üben, finde ich solche lebensnahe Tätigkeiten unerläßlich. Mir blutet das Herz, wenn ich bei meiner täglichen Arbeit sehe, daß viele Grundschulkinder heutzutage Mühe haben, mit einer Schere zu hantieren oder eine Schleife zu binden, da die Kindergärtnerinnen nicht mehr verpflichtet sind, die „kleinen“ Dinge des Lebens systematisch zu fördern. Ich bedaure auch den Verlust unseres Wortes „Kindergarten“, der durch das Un-Wort „Kita“ ersetzt wurde. Allein mit diesem Begriff kommt die (Nicht)-Wertschätzung dieses Berufszweiges zum Ausdruck.
Mein Gruppenraum war groß und bot viel Platz zum Spielen. In der Ecke stand ein alter Kaufmannsladen aus Holz, für den die Kinder Lebensmittel aus Pappmache gefertigt hatten. Hinter dem Kindergarten war eine idyllische Wiese mit alten Apfelbäumen. Im Sommer aßen wir draußen, spielten Verstecken und bauten in der Sandkiste eine Murmelbahn. Oft nahm ich meine schwarze Westerngitarre unter den Arm und ging mit den Kindern zur Waldwiese. Ich spielte ihnen einmal einen Blues vor und die Kinder tanzten dazu. Wir nannten ihn „Kinderblues“. Maria stürmte eines Tages zu meiner Leiterin (die auf meine musikalischen Fähigkeiten neidisch war) und sagte: „Wir haben Kinderblues getanzt.“ Sofort zitierte die Chefin mich in ihren Raum. Sie machte dabei einen „lockenden“ Finger, wie die Hexe bei Hänsel und Gretel. Dann tippte sie heftig mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf den Plan und sagte spitz: „Zeigen Sie mir mal, wo hier etwas von Kinderblues steht?“ Ich konnte es nicht und durfte keinen Kinderblues mehr spielen. Aber es gab ja auch noch andere Lieder, z. B. von G. Schöne „Jule wäscht sich nie“ und die Geschichtenlieder von R. Lakomy. Die beiden Schallplatten hatte ich mir von meinem bescheidenen Gehalt gekauft (486 M). Die Platten hörte ich auch oft, z. B. wenn ich die Planung für den nächsten Tag schrieb. Diese mußte ausführlich und lückenlos sein.
Meine musikalische Neigung hatte sich herumgesprochen. Manchmal kamen Leiterinnen anderer Kindereinrichtungen, um bei mir Ideen zu sammeln. Dies bewirkte, daß „höhere Mächte“ auf mich aufmerksam wurden. Eines Tages wurde ich in die Abteilung Volksbildung in die nahegelegene thüringische Kreisstadt gebeten. Ich ging mein Sündenregister durch. Hatte ich etwas falsch gemacht? Mit mulmigem Gefühl saß ich meiner Referentin gegenüber. Sie teilte mir etwas mit, was mein Leben gehörig verändern sollte. Ich war auserkoren, ein Zusatzstudium an der Humboldt-Uni Berlin wahrzunehmen. Das haute mich um. Ich!! ... So viel Ehre!! ...
Nach dem Leitungsstudium sollte ich unsere Referentin für Vorschulerziehung ablösen. Ich unterschrieb eine Verpflichtungserklärung, um nach dem Studium „... dort zu arbeiten, wo man mich braucht“ - also beim Rat des Kreises dieser thüringischen Kreisstadt. Nur zwei Kindergärtnerinnen aus unserem Bezirk hatten das Glück, delegiert zu werden. Die andere kannte ich nicht. Im Juni 1985 fuhr ich nach Ludwigsfelde zum Vorbereitungslehrgang. In Berlin-Schönefeld wollte ich mich gerade nach meinem Anschlußzug erkundigen, als mich eine jugendliche Stimme ansprach: „Ich glaube, wir haben denselben Weg?“ Es war die „andere“. Wir mochten uns sofort und auch, wenn uns räumlich viele Kilometer trennen, ist Katrin bis heute meine beste Freundin.
Die Zugangsvoraussetzungen für das Studium - 10 Jahre Praxis, davon mehrere Jahre Leitungserfahrung - erfüllte ich nicht im mindesten. (Ich erfuhr davon erst während des Studiums!). Ich hatte lediglich vier Jahre mit Vorschulkindern gearbeitet. Jedoch wurde in vielen Seminaren auf dieser Leitungserfahrung aufgebaut. Um mich herum saßen gestandene Referentinnen, Fachberater und Leiterinnen, die zum Teil deswegen studierten, um ihren Posten zu halten. Mit 23 Jahren war ich das Küken und die anderen alt, also jenseits der Dreißig. Vielleicht kamen sie mir auch deswegen so alt vor, weil sie mit verhärtetem Gesichtsausdruck und wichtigen Mienen politisch-pädagogische Sprüche klopften. Ich staunte, wie lange man eine halbe Stunde über „Nichts“ reden konnte. Wenn wir in Marxismus/Leninismus etwas erklären sollten, waren Katrin und ich meist in wenigen Sätzen fertig. Fakten genannt und basta! Doch das kam nicht gut an. Besser angesehen waren die, die das letzte Plenum des ZK wiederkäuten oder genüßlich über Ethik und Moral schwelgten. Die Phrasendrescherei kotzte mich an und erschien mir grotesk, lächerlich. Katrin und ich machten uns darüber lustig.
Wir gingen lieber ins Seminar zu unserem Psycho-Dozenten, Herrn W, der hatte Charisma. Mit seinem karierten Schal und einer Kreole im Ohr fiel er schon äußerlich aus der Rolle. Seine Art war frisch und seine Fragen provokant. Zum Glück zählten bei ihm die echten Fakten. Da sahen die schlecht aus, die sonst rumschleimten. Ein echter Zusammenhalt kam in dieser Seminargruppe nicht zustande. Katrin und ich bekamen schnell mit, daß kleine Grüppchen gegeneinander arbeiteten, und so hielten wenigstens wir zusammen.
Abends gingen wir oft weg. Doch auch damit konnte man ethisch-moralisch anecken. In der Disko lernte ich einen Soldaten kennen. Er spendierte Mixgetränke, also echte Bretterknaller, die meine Knie weich machten. Daß er mich ins Internat brachte, wußte ich am nächsten Morgen nicht mehr. Auch nicht, daß er am nächsten Tag wiederkommen wollte. Als er geschniegelt und gebügelt erschien, war ich natürlich nicht da. Wohl aber die Moraldiva unserer Seminargruppe. Als ich abends trällernd zur Tür hereinkam, erklärte sie mir wichtig, daß man „Angehörige der bewaffneten Organe“ nicht versetzt und Unstimmigkeiten sauber klären sollte. „Vergiß nicht - die Moral!“ Das Schärfste war, daß eben besagte Moraldiva am selben Abend ein Treffen mit einem Mitstudenten hatte, das wie immer im Gästezimmer endete. Beide verheiratet, aber nicht miteinander. Im Internat standen Gästezimmer für Studenten „von außerhalb“ zur Verfügung. Diese waren ständig ausgebucht (man mußte sich dafür eintragen), weil es viele „solche“ Pärchen gab. Ich gestehe ja jedem „Tierchen sein Pläsierchen“ zu. Aber wenn man sich schon morgens Marx aufs Butterbrot schmiert und in den Seminaren lautstark und penetrant Loblieder auf die Ethik und Moral singt, dann sollte man abends nicht die Gästebetten quietschen lassen.
Unser Stipendium besserten wir auf, indem wir in der Charité arbeiteten. Meine Mitstudentin Petra hatte mich einfach in die Wäscherei mitgenommen. Da, wo sie auftauchte, war immer Stimmung. Während wir OP-Laken sortierten und Kittel bügelten, gackerten wir um die Wette. Petra hatte eine goldene Nase, wenn es darum ging, etwas nebenbei zu verdienen. Einmal hatte sie von einem Filmprojekt gehört. Für einen Fernsehfilm wurden Statisten gesucht. Dort meldeten wir uns an. Der Filmdreh sollte abends 22.00 Uhr beginnen. Wir arbeiteten uns vorher warm und schoben in der Wäscherei die Spätschicht von 14.00 bis 21.30 Uhr. In der Palastdiskothek wurden bei normalem Diskobetrieb mehrere Szenen gedreht. Es war eine lustige Nacht, denn die Dreharbeiten dauerten bis morgens 6.00 Uhr. Natürlich ließen wir uns sagen, wann der Film gesendet wurde. Er lief, glaube ich, am 7. Oktober (Nationalfeiertag) und hieß „Wir vom Bau“. Wenn ich gewußt hätte, daß der Film so schlecht ist - wäre ich trotzdem hingegangen und hätte 65 M verdient.
Mit Petra sang ich auch im Singeklub unserer Sektion, den ich leitete. Gelegentlich hatten wir Auftritte und sangen politische und andere Lieder. Der Singeklub war von unserer Wissenschaftsbereichsleitung wohlwollend gesehen, etwa so, wie eine alte Tante ein Kind tätschelt.
Die Meinung der älteren und angesehenen Wissenschaftlerinnen galt als uneinnehmbare Festung. Die Leiterin dieses Bereiches wirkte sehr krank und noch kränker, als sie einen persönlichen Schicksalsschlag hatte. Das weckte wirklich Mitleid in uns. Wir wollten unser Mitgefühl auf besondere Weise zeigen. Uns war ihre Vorliebe für Volkslieder bekannt, deshalb wollten wir ihr ein Volkslied singen, aber nicht irgendwo, sondern zu einem feierlichen Anlaß, nämlich einem wissenschaftlichen Kolloquium. Zum Kolloquium waren bedeutende Wissenschaftlerinnen gekommen, auch die emeritierten. Die Atmosphäre war echt knisternd. Wir sangen: „Die Gedanken sind frei“. Mit versteinerter Miene registrierte unsere WB-Leiterin das Lied. In der Pause ging ich aufs Klo, dort paßte mich die WB-Leiterin ab. Sie kam mit großen Augen auf mich zu, ich trat immer mehr zurück, bis ich rücklings an der Wand lehnte. Nun streckte sie ihre Arme aus und stutzte ihre Handflächen an der Wand neben meinem Kopf ab. In diesem „Klammergriff“ fragte sie mich eindringlich: „Warum habt ihr dieses Lied gesungen!?! Haben Sie das Gesicht der Professorin So und so gesehen? Ist Ihnen aufgefallen, Frau Prof. So und so klatschte nicht! Und wissen Sie warum? Weil die Gedanken nun mal nicht frei sind! Wo kommen wir da hin, wenn jeder machen kann, was er will!“ Ich schluckte. War das wirklich so, Frau Prof. So und so klatschte nicht? Daß wir dieses Lied wegen ihr persönlich gesungen hatten, um ein seelisches Trostpflaster zu geben, wagte ich nicht zu sagen. Sicher hätte es sie verletzt. Ehrfurchtsvoll ertrug ich die Moralpredigt.
Während des ganzen Studiums rumorte in mir die Frage des „Danach“. Immer öfter fragte ich mich, ob nach der Ausbildung ein hoher Posten beim Rat des Kreises für mich das Richtige sei - weg von den Kindern und weg von schöpferischer Tätigkeit im Kindergarten. Hinzu kam, daß mir bestimmte Zwischenstufen und die damit verbundenen Erfahrungen als Leiterin und Fachberater fehlten. Dann nur noch Schreibtischarbeit, nur ab und zu eine Hospitation im Kindergarten - das konnte und sollte es auch noch nicht gewesen sein.
Andererseits hatte ich aber diese Verpflichtung unterschrieben, nach dem Studium in meinen Heimatkreis zurückzukehren. Hin- und hergefetzt von diesem Gedanken trat ich Anfang Januar, wenige Monate vor Abschluß der Ausbildung, ein Praktikum beim Rat des Kreises an. Die eigentliche Arbeit, nämlich Hospitation und Auswertung im Kindergarten, war interessant, aber das „Drumherum“ war nervig. Als erstes legte man mir andere Kleidung nahe, damit man auch wie eine „richtige Referentin“ aussieht.
In einer Sitzung hatte der Schulrat alle Verantwortlichen und die Schulräte der einzelnen Bereiche, z. B. Ober- und Unterstufe einberufen. Die Neujahrsansprache von Erich Honecker wurde ausgewertet. Die Schulräte saßen wie versteinert da. Es war ganz still Nur die leise, warme Stimme des Schulrates und das Rascheln des „Neues Deutschland“ waren zu hören. Ich merkte, wie ich verstohlen gemustert wurde. Mir war die Situation unangenehm, und ich knüllte mein Tempo-Taschentuch von einer Hand in die andere. Ich saß „Artschi“ gegenüber, so sein inoffizieller Spitzname, der seinem Verhalten zugeschrieben war. Er war klein, hatte eine Halbglatze und trug einen wollenen Westover, der seinen Bauch erst richtig betonte. Als ich zufällig in seine Richtung sah, bemerkte ich, wie er mir, mit dem Kopf wippend, zuzwinkerte und dabei schnalzte, so, als ob man eine „Bordsteinschwalbe“ anmachen will. Ich dachte: ‚Nein, das ist nicht wahr, das kann doch nicht sein Ernst sein?’ Doch, war es. Ich vergewisserte mich mit einem zweiten Blick, und auch diesmal baggerte mich dieser eklige Typ an - mitten in der Sitzung.
Während des Praktikums wurde ich auch verschiedenen „Persönlichkeiten“, z B von der SED-Kreisleitung vorgestellt. „Und hier ist die Genossin So und so“; dann „gib artig Pfötchen“. Ich sah in breit grinsende Gesichter voller Selbstzufriedenheit und auf dicke Bäuche.
Als ich nach dem Praktikum wieder nach Berlin fuhr, hämmerte der Gedanke in mir: ‚Das kann doch nicht der Sinn meines Lebens sein!’ Ich sah mich als eisgraue Frau mit Stricknadeln im Dutt vor verstaubten Akten sitzen. Aber sollte ich auf solch eine Karriere verzichten? - Ich konnte!
Zögernd ging ich zum Magistrat im Roten Rathaus. Die Referentin war sehr nett und freute sich über meinen Entschluß, in Berlin zu bleiben, da es hier einen hohen Bedarf an pädagogischen Kräften gab. Sie schlug vor „Wir setzen dich in einem jungen Stadtbezirk als Leiterin einer Kinderkombination ein. Aber in deinem Kreis, mußt du dich selber loseisen. Das dürfen wir nicht für dich übernehmen.“
Durch Zufall erzählte ich das meiner Studienkollegin Petra. Sie hatte dieselben Probleme. Nun muß ich an die Verpflichtungserklärung erinnern. Wir wurden „zu Hause“ erwartet und konnten nicht auf einmal sagen: „Ich fühle mich nicht geeignet.“ Meine Kollegin ging deshalb zu ihrer Abteilung Volksbildung und teilte mit, daß sie heiraten und in Berlin eine Familie gründen wolle. Sie hatte ihren, oder besser gesagt einen Mann, mitgebracht (doch der war schwul und dachte nicht ans Heiraten. Es war lediglich ihr Kumpel.) Da Berlin einen Heiligenschein und Vorrang hatte, bekam sie ihre Versetzung und machte mir Mut: „Versuch es doch auch so! Wenn du willst, borge ich dir meinen Kumpel.“
Also begab ich mich in die Höhle des Löwen. Glücklicherweise war an diesem Tag der Schulrat da, ein netter, besonnener Mensch. Ich erzählte ihm die Heirats-Story, obwohl ich zu dieser Zeit keinen Freund hatte. Er fragte „Wo arbeitet denn dein (zukünftiger) Mann?“ „Das darf ich eigentlich nicht sagen“, erwiderte ich. Diese Antwort ließ ahnen, daß er beim MfS tätig sein könnte. Dies schien alles zu legitimieren. Zwar bedauerte der Schulrat mein Weggehen, veranlaßte aber die Versetzung. - Ich war frei!
In einem Berliner Neubaugebiet erhielt ich eine 2-Raum Wohnung und wurde als Leiterin einer Kinderkombination (Kinderkrippe und -garten) eingesetzt. In diesem neuen Stadtbezirk schossen die Kindergärten wie Pilze aus dem Boden. Meist waren sie das erste, was in einem neuen Wohngebiet fertiggestellt war. Straßen und Verkehrsanbindungen gab es noch nicht. Die Häuser waren noch im Rohbau. Morgens stiefelte ich im Halbdunkel mit Gummistiefeln durch Matsch und Pfützen. Der einzige „Lichtblick“ war das grelle Licht der Schweißer, die die Platten der Häuser montierten. Meine Kindereinrichtung war besonders weit ab vom Schuß - am Stadtrand von Berlin. Jeder Bezirk der DDR war für ein Straßenkarree verantwortlich. Demzufolge hatte jeder Bezirk seine eigenen Bautypen für Häuser und Kindergärten. Bei uns waren es die Cottbuser.
Der „Schnitt“ meines Kindergartens gefiel mir nicht. Mir kam er zu verwinkelt vor, und der Flur war zu dunkel. Ich finde, ein Flur muß hell und geräumig sein, gerade in einem Kindergarten. Immerhin entscheidet der erste Eindruck mit, ob man sich wohl und geborgen fühlt. Die Eingangsflure ließ ich lindgrün streichen, das war aber nicht im Bauprojekt vorgesehen. Mit einer Flasche „Goldbrand“ konnte ich den Bauleiter dazu überreden.
Während der Bauphase fanden regelmäßig Rundgänge mit den Verantwortlichen vom Bau und von der Abteilung Volksbildung statt. Anschließend wurde eine Mängelliste erstellt. Ich merkte, dem Bauleiter war es lästig, wenn er auf Unzulänglichkeiten aufmerksam gemacht wurde. Versprechen halten, war nicht seine Stärke. Die ersten Mängellisten hatten ca. 10 Posten. „Heimlich“ zeigte ich meiner Freundin Katrin und ihrem Mann die Einrichtung. Ihr Mann war Bauingenieur, und er erstellte mir eine Mängelliste mit 40 (!) Posten. Der Umgang mit den Bauleuten war eine Gratwanderung. Einerseits drängte ich natürlich darauf, meine Einrichtung im Tip-Top Zustand zu übernehmen, und andererseits mußte man mit den Handwerkern taktvoll umgehen. War ihre Laune verdorben, fingen sie an zu pfuschen. So manche Flasche „Goldbrand“ bezahlte ich aus eigener Tasche, z. B. um neben dem Turnraum noch ein Waschbecken zu installieren oder hier und da eine Steckdose mehr zu haben. Als der Rohbau fertig war, durfte ich meine zukünftigen Kolleginnen anfordern. Nun galt es die Grobreinigung vorzunehmen. Noch heute höre ich das schrille Geräusch der Spachteln. Wir arbeiteten uns von Raum zu Raum vor. Diese Zeit war echt lustig. Trotz Kälte, Staub und jeder Menge Baudreck machte die Reinigung riesigen Spaß. Gegen 12 Uhr war gemeinsame, wenn auch keine warme, Mahlzeit (da noch keine Küche da war). Der Heizkörper bullerte, und wir lachten viel.
Nachdem wir unseren Kindergarten ein halbes Jahr geputzt und geschrubbt hatten, kamen im Januar die ersten Kinder. Also, das heißt - fast. Denn fünf Tage, bevor die Kinderkombination eröffnet werden sollte, galt es einen Riesenberg zu beseitigen. Der Berg bestand aus Müll, Bauschutt und Lebensmittelresten der Bauarbeiter. Ein wahrer Tummelplatz für Ratten! Ich drängte darauf, daß der Berg beseitigt wurde. Wenigstens wollte ich den Kindergarten in hygienischem Zustand in Betrieb nehmen, wenn schon um die Einrichtung herum bedauerlicherweise noch eine Baustelle war. Aber dies war den Bauleuten nicht wichtig. Ich rief bei sämtlichen Verantwortlichen an. Sogar bei der SED-Kreisleitung. Sie schickten einen jungen, schmächtigen Genossen. Er sah sich den Berg an und versprach, einen Bautrupp zu schicken. Mein Hausmeister nutzte die Gelegenheit und sagte: „Wenn Sie einmal da sind, können Sie mir helfen. Hier sind nur Frauen, die können keine Schränke schleppen. Können Sie mir beim Tragen helfen?“ Der Schrank war schwer und mußte zwei Etagen abwärts transportiert werden. Der Genosse schwitzte vor Anstrengung und hatte einen hochroten Kopf. Die Prozedur dauerte etwa eine halbe Stunde. Er kam nie wieder.
Der Bautrupp beseitigte zähneknirschend den Rattenberg. Ca. 50 Ratten wollen sie entsorgt haben. Als „Erinnerung“ legten sie uns zwei tote ins Küchenfenster.
Anfangs hatten wir fünf Kinder, aber von Tag zu Tag und Woche zu Woche wurden es mehr.
In dieser Zeit eroberte ich das Glück meines Lebens. Ich heiratete, und bald stellte sich Nachwuchs ein. In unserem Kindergarten traten die Röteln auf. Von heut’ auf morgen mußte ich die Einrichtung wegen Ansteckungsgefahr verlassen. So wurde ich bis zum Mütterjahr als Fachberater eingesetzt. Mit weiteren sechs Kolleginnen kontrollierten wir den Bau neuer Kindereinrichtungen und die pädagogische Betreuung der Kinder.
Wenn es auch viele Unzulänglichkeiten gab, z. B. noch keine Bäume in den Kindergärten, so stand die Sorge im Vordergrund, daß sich jedes Kind wohl und heimisch fühlen sollte. Aber ich war nun wieder auf einer Ebene angelangt, in der Doppelzüngigkeit angesagt war. Bevor der letzte Pädagogische Kongreß vor der Wende stattfand, war lautgeworden, daß drei Kindergärtnerinnen aus der DDR am Kongreß teilnehmen dürfen. (Ob diese Zahl stimmt, entzieht sich meiner Kenntnis.) Meines Wissens wurden zwei Erzieherinnen aus der „Republik“ und eine aus Berlin delegiert. Als mir mitgeteilt wurde, daß eine ganz junge, unerfahrene Kindergärtnerin am Kongreß teilnehmen sollte, empörte ich mich und fragte, warum nicht eine gestandene, erfahrene Erzieherin unseren Bereich vertreten dürfe. Die Referentin lächelte selbstgefällig und sagte in etwa: „Die Auflagen sind: Die Delegierte muß jung sein, nicht älter als 25, muß gut aussehen und auf Reporterfragen antworten können.“ Entrüstet fragte ich: „Auf diesen Quatsch habt ihr euch doch nicht etwa eingelassen?“ Selbstzufrieden lächelte die Referentin: „Tja, was sollen wir da machen?“
Hier endet mein Ausflug in die DDR. Die Umbrüche nach 1989 veränderten auch mein berufliches Leben. Ich wollte nicht mehr „gelenkt“ werden und nahm meine Geschicke in die eigenen Hände. Ich vereinte Musik- und Kinderalltag und widmete mich der musikalischen Früherziehung. Doch davon vielleicht in einem nächsten Buch.
Silvia Stelzer
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