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Erinnerungen an meine Arbeit am Theater Anklam

(1963-1970)

  Zu Beginn des Jahres 1963 war ich noch Dramaturg am Deutschen Theater in der Berliner Schumannstraße, dem künstlerisch leistungsfähigsten Schauspieltheater der DDR. Eine Kette von kulturpolitischen Kritiken der SED-Führung an der Theaterleitung, besonders am Intendanten, dem hochangesehenen Antifaschisten und Sozialisten, Regisseur und Schauspieler Wolfgang Langhoff, endete kurz nach dem VI. Parteitag mit dessen Absetzung. Ich war als Parteisekretär tief in die Auseinandersetzungen verstrickt und empfand nach ihrem Abschluß, bei dem ich eine Parteistrafe erhielt, das dringende Bedürfnis, mich zu verändern, um mich unter anderen Bedingungen auszuprobieren und wieder zu mir selbst zu finden. Und so kam es, daß ich im Herbst 1963 aus eigenem Antrieb von einem Spitzentheater in ein Theater der unteren Bedeutungsgruppe wechselte - das Landestheater Anklam. Dort arbeitete ich zunächst als Dramaturg (und Entwicklungsdramaturg für den Bezirk) und von 1966 bis 1970 als Intendant.

1963 erhielt ich auch Angebote von anderen, deutlich höher eingestuften Theatern größerer Städte. Weshalb ging ich ausgerechnet in die kleinste Theaterstadt der DDR - in die „Taiga“, wie man damals sagte? In ein erst 1947 von mutigen und zukunftsgewissen Stadtvätern gegründetes Theater, dessen Domizil ein ständig von baupolizeilicher Sperrung bedrohter, nur provisorisch für Theaterzwecke eingerichteter ehemaliger Gasthof war, und das zwei Drittel seiner Vorstellungen in bis zu 100 Kilometer entfernten mecklenburgisch-pommerschen Kleinstädten spielte, und zwar in Kinos, Schulaulen, Gasthöfen und Armeekulturhäusern, von denen bestenfalls die letzteren halbwegs akzeptable räumliche und technische Voraussetzungen boten?

Ich ging dorthin wegen der Menschen; der Schauspieler, Handwerker, Bühnentechniker, Verwaltungskräfte und auch der Kraftfahrer (Abstechertheater mit eigenem Fuhrpark), die ich dort antraf.

Der Theateralltag verlangte dem tüchtigen Ensemble harte, vergleichsweise sehr schlecht bezahlte Knochenarbeit ab. Eine Vorstellung im am weitesten entfernten Abstecherort Teterow dauerte für die Schauspieler einschließlich Hin- und Rückfahrt 7 bis 8 Stunden und für das technische Personal noch mindestens zwei Stunden länger. Die Abfahrt erfolgte nach der Vormittagsprobe, nach Hause kam man erst wieder gegen Mitternacht. Oft gab es Doppelvorstellungen - nachmittags für die Kleinen ein Märchen und abends für die Großen ein Repertoirestück. Da jeden Vormittag (und natürlich an den wenigen vorstellungsfreien Abenden) probiert wurde, ergaben sich dann für die jeweils Beteiligten drei Dienstleistungen am Tag. Manchmal waren Arbeitszeit- und Transportaufwand nicht mehr zu vertreten. Aber der Vorhang ging immer auf. So schuftend, erreichte man in einem Spieljahr mit über 300 Vorstellungen etwa 65.000 bis 70.000 Zuschauer (nur Schauspiel, kein Musiktheater).

Die Schauspielergagen lagen zwischen brutto 425 Mark für Anfänger und der Höchstgage 700 Mark. Bei diesen Sätzen blieb es bis 1971. In den Großstädten konnten Schauspieler mit vergleichbarem künstlerischen Leistungsvermögen bei weitaus geringeren Arbeitszeiten und unter weit besseren Arbeits- und Lebensbedingungen ein Mehrfaches davon verdienen (und hatten überdies zahlreiche Nebenverdienstmöglichkeiten - etwa bei Funk und Fernsehen -, die es in Anklam nicht gab).

Der tüchtige Intendant Albert Bussmann hatte eine ganze Gruppe im Schnellverfahren ausgebildeter Neigungsschauspieler engagiert, die aus anderen Berufen kamen. Diese Gruppe bestimmte mit ihrem unbedingten Leistungswillen und ihrem auffallenden Mangel an traditionell berufstypischen Künstlerallüren in hohem Maß den Geist des Ensembles. Das Theater Anklam war - und das hatte Seltenheitswert - so gut wie intrigenfrei! Ungeachtet mancher kleinkarierter Streitereien dominierte hohes Berufsethos. Und wer abrutschte, wurde von den anderen aufgefangen und regelrecht erzogen, und zwar weitgehend spontan, d. h. ohne sonderliches Zutun der Leitung. Die Neigung zum Alkoholismus - immer wieder durch die Bedingungen an den Abstecherbühnen gefördert - war streng verpönt, und ich lernte latente Alkoholiker kennen, die in Anklam große Milchtrinker wurden. Man erzog sich auch gegenseitig zur unbedingten körperlichen Sauberkeit, die angesichts der winzigen Kollektivgarderoben unerläßlich war.

Das Publikum aus der überwiegend ländlichen Gegend hatte kaum Kunsterfahrung. Es reagierte auf das Bühnengeschehen etwas schwerfällig, aber durchaus feinfühlig, immer direkt und im besten Sinne des Wortes naiv. Geschmäcklerische oder gar snobistische Haltungen kamen nicht vor. Es sah gern leichte Unterhaltung und Schwänke, verlangte aber auch nach anspruchsvoller Kost, sofern sie gut verfolgbar war und einen Bezug zu seiner Gedanken- und Gefühlswelt hatte; es erwartete gelegentlich Klassiker und ging in unbekannte zeitgenössische Stücke mit der gleichen Bereitwilligkeit und Aufgeschlossenheit wie in überall bewährte Zugstücke.

Der unbedingte Wille, gerade für ein solches Publikum unterhaltsames, aufklärerisches, realistisches Theater zu spielen, beherrschte nahezu das ganze Ensemble; er wirkte sich auf Spielplangestaltung, Regiekonzeptionen und Spielweisen aus und prägte in starkem Maße Stil und Image des Theaters. Rückschauend kann ich mich an keine Künstlerhochnäsigkeit gegenüber naiven Besucherhaltungen erinnern, wohl aber zahlreiche Beispiele dafür benennen, wie ernst das Gros der Schauspieler und Techniker dieses so gänzlich großstadtferne Publikum nahm - und auch viele Beispiele dafür, daß das Publikum mehrheitlich sein Theater und dessen besonders hervortretende Künstler liebte.

Im Gespräch mit dem Intendanten und bei vielen Mosaiksteinbeobachtungen in den Proben, Vorstellungen und Pausengesprächen spürte ich diesen Geist der Truppe. Er wirkte auf mich außerordentlich wohltuend und sympathisch wie - einmal von den bedrückenden materiellen Bedingungen abgesehen - im Ansatz ein Stück Sozialismus.

Das gab den Ausschlag für meine Entscheidung, das Anklamer Angebot anzunehmen.

Der am Deutschen Theater geschulte Künstler in mir sah natürlich auch, was dieses Theater, was diese Regisseure und Schauspieler alles nicht konnten, weil die objektiven Bedingungen und auch erkennbare Talentgrenzen es nicht zuließen. Aber manche konnten manches durchaus Erreichbare auch deshalb nicht, weil es ihnen noch keiner abgefordert und beigebracht hatte. Und da lag eine Aufgabe, um deren Lösung ich mich bald nach Kräften bemühte.

Zum näheren Kennenlernen des Theaters und seines Publikums gehörte, daß ich zu vielen Abstechervorstellungen mitfuhr. Besonders in Erinnerung ist mir die Aufführung von Goethes „Egmont“ in der Kreisstadt Demmin in einer noch vor meiner Anklamer Zeit entstandenen Inszenierung. Gespielt wurde in der Aula einer neu erbauten Schule auf einer Guckkastenbühne von 5 mal 4 Metern Spielfläche. (Anklam bot immerhin 8 mal 5 Meter und eine große Vorbühne.) Wie man auf diesem Nudelbrett „Egmont“ spielen konnte, war mir zunächst unvorstellbar. Und daß dieses mir in seinen Leistungsgrenzen schon einigermaßen bekannte Ensemble sich an das anspruchsvolle Werk herangewagt hatte, zeugte, so schien es mir, weniger von Ehrgeiz und Mut als von mangelnder künstlerischer Verantwortung. Ich setzte mich also in den fast bis zum letzten Platz gefüllten Saal - und schämte mich beinahe wegen meiner zwar ordentlichen, aber doch recht alltäglichen Kleidung, denn um mich herum saßen schwarze Festtagsanzüge und weibliche Galagarderoben.

Rechts und links der Bühne hatte Beleuchtungsmeister K. mangels besserer Möglichkeiten zwei Lichtmasten mit je zwei Scheinwerfern aufgestellt; sein „Stellwerk“ bestand aus Ein-Aus-Schaltern.

Nun, alle spielten nach ihren Fähigkeiten und mit viel Hingabe. Goethes Texte kamen verständlich über die Rampe. Vom Tonband erscholl ab und an dünne, etwas zerkratzte Beethovenmusik. Fünf oder sechs Darsteller(innen) packten ihre Rollen recht gut. Bei den anderen verriet mehr oder weniger krampfiger Eifer den besten Willen - indessen traf man doch im großen und ganzen die allgemeine Typologie der Goethefiguren.

Die gewohnte aufwendige Dekoration hatte man wegen Platzmangels auf wenige Einzelstücke reduziert, die als Ortsangabe für die jeweilige Szene möglichst weit hinten aufgestellt wurden, damit sie dem Spiel nicht im Wege waren. Man agierte fast nur an der Rampe in simplen Rechts-Links-Arrangements. Die Schauspieler hatten sichtbare Mühe, sich zwischen hinter der Bühnenaushängung bereitgestellten Requisiten und Dekorationsteilen im rechten Moment auf die Spielfläche vorzukämpfen. Die Rampe war sehr hoch, die Saaldecke sehr niedrig. So erfolgte der Lichteinfall von den Scheinwerfern fast waagerecht, so daß auf der weiß ausgehängten Bühnenrückwand herrliche Schattenspiele mit gespenstischen Effekten stattfanden. Das Publikum schien sie nicht zu bemerken.

Nach guten zweieinhalb Stunden war alles vorüber; der letzte Vorhang schloß sich und das Publikum - verharrte in tiefem Schweigen ...?... Also, etwas Beifall waren die redlichen Bemühungen doch wohl wert! ... Oder sollten alle so ergriffen sein? Dann öffnete sich der Vorhang wieder, das Ensemble verbeugte sich - und erntete geradezu Ovationen! Man zog den Vorhang wieder zu - tiefe, erwartungsvolle Stille. Keine Hand rührte sich. Vorhang auf - prasselnder Beifall - Vorhang zu - Stille. Und so weiter nach dem Motto: Wozu klatschen, wenn niemand zu sehen ist?

Nach sage und schreibe 23 Vorhängen - das war nach Berliner Maßstäben ein guter Premierenbeifall - schien es genug zu sein. Alle standen fast gleichzeitig auf und gingen hochbefriedigt nach Hause. Man hatte Goethes „Egmont“ gesehen und Musik von Beethoven gehört...

Soweit der Eindruck vom Demminer Publikum 1963.

Mehr ländlichen Charakter trug das Publikum in dem mecklenburgischen Städtchen Gnoien (an der Straße Demmin - Rostock). Hier wurde in einem Gasthofsaal gespielt - auf einer zureichend großen Bühne mit einer Rampe in Tischhöhe. Als der Saal schon fast gefüllt war, erschien ein älteres Ehepaar. Er mit Hut, Stock, großen blitzsauberen Stiefeln und einer makellosen Lodenjacke, sie mit Kopftuch und einer Tasche, aus der eine Bierflasche herausguckte. Für ihr Abendessen benötigten sie einen Tisch, und so dirigierte der Mann seine Frau mit dem Stock nach vorn in die erste Reihe an der Rampe. Er nutzte diese als Ablage für Hut und Stock, sie deponierte auf ihr die Bierflasche mit Gläsern und ein Stullenpaket. Als die Vorstellung begann, waren sie noch beim Abendessen. Sobald sich das Spiel der Rampe näherte, legte sie geräuschlos Geschirr und Stullenpaket vor sich auf den Fußboden, und er zog Hut und Stock an sich, die er aber, sobald sich das Spiel auf die andere Seite oder nach hinten verlagerte, wieder auf der Rampe ablegte. Von Beginn an verfolgten beide die Vorstellung mit größter Aufmerksamkeit, und nachdem er die letzte Stulle verzehrt und nachgespült hatte, beteiligte er sich mit laut in den Saal gerufenen parteinehmenden Kommentaren und kritischen Hinweisen zumeist in plattdeutscher Sprache. Am Ende spendeten sie reichlich Beifall.

Auf andere Weise naiv reagierte eine große Besuchergruppe in Anklam. Ein stadtbekannter guter Schauspieler hatte die junge Kassiererin des Kaufhauses geheiratet und bald mit ihr zwei Kinder. Die Ehe ging nicht recht, und so ließ er sich scheiden, um bald mit einer anderen attraktiven Bürgerin der Stadt zusammenzuleben. Natürlich sorgte er weiter für seine Kinder. Dennoch - die große Besuchergruppe des Kaufhauses samt Anhang kündigte aus Protest ihr Theateranrecht und war nicht zu bewegen, diesen Schritt rückgängig zu machen ...

Überhaupt war es nicht einfach, Besuchergruppen zu gewinnen und zu halten, besonders aus Dörfern. Der Leiter der Besucherabteilung war täglich mit dem Pkw im Spielgebiet unterwegs und warb in zäher Kleinarbeit, wobei unser seit vielen Jahren am Theater beschäftigter Pkw-Fahrer, der alle aktuellen oder schon einmal aktiv gewesenen Ansprechpartner mit ihren Adressen kannte, ihn mit Rat und Tat unterstutzte und so seinen Anteil am insgesamt guten Besuch unserer Vorstellungen hatte. Besonders intensive Beziehungen unterhielten wir zur damals bestentwickelten LPG Krien nahe Anklam und mit Brigaden aus dem KIM (Kombinat für industrielle Mast) in und bei Ferdinandshof sowie zu vielen Schulen und Armee-Einheiten. Unsere Generalproben spielten wir unentgeltlich vor den zahlreichen Bewohnern des Anklamer Seniorenheims, das schräg gegenüber vom Theater lag. Die Alten waren ein ungemein dankbares und nach Anklamer Möglichkeiten sehr theatererfahrenes Publikum, von dem auch anspruchsvolle Stücke wie etwa Brechts „Mutter“ (nach Gorki) mit größter Aufmerksamkeit verfolgt wurden und für lange Zeit Gesprächsstoff boten.

Für seine Inszenierung der „Mutter“ und seine Gesamtleistung erhielt das Theater im DDR-weiten Wettbewerb der Theater seiner Bedeutungsgruppe den hochbegehrten „Hans-Otto Preis“.

Ehrlich gesagt - in den Augen vieler Anklamer Kollegen war ich kein „richtiger Chef“. Sie hatten meinen gestrengen, oft sehr harten Vorgänger in Erinnerung. Mir trauten sie kein autoritäres Kommandieren zu und hatten in gewisser Weise recht. Ich war kein Kommandeur, eher ein Katalysator und Weichensteller. Ich reglementierte wenig, und wenn, dann freundlich und, wenn von mehreren möglichen Wegen einer auszuwählen war. Viel lieber überzeugte ich die Kollegen und mit besonderem Akzent die Leitungsmitglieder von der Notwendigkeit bestimmter Problemlösungen und versuchte, sie zur Selbständigkeit und Eigeninitiative anzuhalten. Gab es grobe Verstöße, so rief ich die Sünder zum Gespräch nicht, um sie abzukanzeln, sondern um ihnen begreiflich zu machen, daß ihre Fehlleistungen weit unter ihren Fähigkeiten gelegen hatten. Bei halbwegs redlichen Leuten, also bei der großen Mehrzahl, hatte das nachhaltige Wirkung; etlichen wäre freilich ein Abbürsten im Unteroffizierston lieber gewesen. So kam es bald dahin, daß man mich als Leiter achtete, aber nicht fürchtete.

Ich ging - auch von den Parteilosungen „Arbeite mit, plane mit, regiere mit!“ und „Im Mittelpunkt steht der Mensch!“ (die in der DDR-Praxis oft zu hohlen Phrasen degradiert wurden!) inspiriert - davon aus, daß ich ein volkseigenes Unternehmen zu leiten hatte, also ebenso Eigentumer war wie jeder Mitarbeiter oder jeder Besucher. Wer mitbesitzt, hat rechtens mitzureden und sollte sein Bestes einbringen. Das wird er aber nur tun, wenn er nicht nur um sein Miteigentum weiß, sondern es in der Arbeit selbst erleben kann, wenn sein Mitdenken und Mitreden geachtet und respektiert -mehr noch, vom Leiter gewünscht und herausgefordert wird.

Ein solcher, eigentlich selbstverständlicher Grundsatz mußte freilich unter erschwerten Bedingungen angewendet werden. Der auf allen Gebieten immer deutlicher hervortretende Arbeitskräftemangel bedeutete für den Betriebsleiter eines kleinen, schlecht zahlenden Theaters der unteren Bedeutungsgruppe, daß er sich für bestimmte Aufgaben besonders geeignete Arbeitskräfte nicht mehr aussuchen konnte. Man mußte mit denen arbeiten, die man hatte, oder auf irgendeine Weise doch noch bekam. Das galt für technische wie für künstlerische Mitarbeiter und auch für Leitungskräfte. Man mußte im Prinzip jeden im oben dargelegten Sinne als Mitarbeiter ernstnehmen; auch - und das spielte in Anklam eine bestimmte Rolle - Vorbestrafte, ehemalige Zuchthäusler, ins Asoziale Tendierende und anderweitig Vorbelastete. Aber das waren letztlich Konsequenzen aus dem in der Verfassung festgeschriebenen Recht auf Arbeit in Verbindung mit dem es erst ermöglichenden Volkseigentum! Das war ein für Leiter nicht immer leicht zu verkraftendes Stück jener „menschlichen Republik“ von der Peter Hacks seinen Parteisekretär im umstrittenen Theaterstück „Die Sorgen und die Macht“ hatte sprechen lassen und von deren historischer Berechtigung ich fest überzeugt war.

Als ich bei einer Ensemble-Vollversammlung einmal über solche Probleme sprach, hörte man mir aufmerksam zu. Einige mit höflicher Skepsis - sie hielten mich für einen ehrlichen Halbnarren; einige gleichgültig, wie man gemeinhin auf Pflichtversammlungen schöne Reden anhört; einige mit und ohne Parteiabzeichen fühlten sich in ihrem Sozialismusverständnis bestätigt, und es gab Kollegen im Schauspiel wie auch in Technik und Verwaltung, die - ich darf das Wort gebrauchen, weil es in Gesprächen mehrmals vorkam - mich wegen meiner Einstellung „verehrten“.

Als ich in einem von der SED-Kreisleitung veranstalteten Seminar über Leitungstätigkeit zu dieser Thematik sprach, sagte man: „Schön und gut, aber das ist doch alles Psychologie! Wo bleibt die politische Erziehungsarbeit?“

Ich war mir sicher, daß ich mich auf meinem kleinen Wirkungsfeld an der Lösung einer zentralen politisch-moralischen Frage, an der Entwicklung sozialistischer Demokratie versuchte.

In der Wende- und Nachwendezeit wurde von führenden Politikern wie von Bürgern aus allen Schichten immer wieder die Frage aufgeworfen, ob Sozialismusvisionen angesichts der Menschen, wie sie nun einmal beschaffen seien, überhaupt jemals realisierbar sein werden. „Ihr mit euren sozialistischen Idealen! Schauen Sie sich doch die Menschen an - mit denen wollen Sie Sozialismus machen? Da denkt doch jeder zuerst und zuletzt nur an sich selbst!“ tönte es im Kollegenkreis um mich herum. Für die letzten DDR-Jahre mag das weitgehend zugetroffen haben; die allgemeine Arbeitsmoral sank spürbar.

In den sechziger Jahren habe ich in Anklam immer wieder erlebt, wie Kollegen aus eigenem Antrieb für das Theater Leistungen erbrachten, von denen sie selbst keinen unmittelbaren Nutzen hatten und die kein Leiter von ihnen hätte verlangen oder gar erzwingen können, ohne mit dem geltenden Arbeitsrecht in Konflikt zu kommen. Aber viele Kollegen hielten solche Zusatzleistungen für selbstverständlich.

Ich weiß natürlich, daß es zu jener Zeit Vergleichbares überall im DDR-Alltag gab, möchte aber nur von Selbsterlebtem berichten.

1963 wurde dem Theater seine Anklamer Hauptspielstätte baupolizeilich gesperrt. Es gab eine Menge von Auflagen, die elementaren Sicherheitsbestimmungen geschuldet waren; es ging auch um zureichende sanitäre Einrichtungen und Garderobenräume, um eine Totalerneuerung der Elektroinstallation und eine neue Zentralheizungsanlage. Um den Auflagen zu genügen und auch die gravierende Raumnot zu überwinden, mußte viel an-, aus- und umgebaut werden.

Ein solches Bauvorhaben, von dessen Gelingen nichts Geringeres als die Fortexistenz des Theaters in Anklam abhing, stand in keinem staatlichen Plan, und folglich waren dafür keine Mittel im Haushalt vorgesehen. Der Bezirk konnte nur 300.000 Mark zur Verfugung stellen. Als nach ca. zwei Jahren die Bautätigkeit ihr vorläufiges Ende fand, hatten wir, wie Fachleute ausrechneten, für die 300.000 Mark Werte in Höhe von 1.2 Millionen Mark geschaffen.

Hier kann nicht näher erläutert werden, wie das auf teils legale, teils halblegale Weise und auch mit Hilfe mancher „krummer Touren“ bewältigt wurde. Man muß schon „gelernter DDR-Bürger“ sein (so nannte das O. F. Weidling), um sich alle Besonderheiten eines ungeplanten Millionenbaus innerhalb der Planwirtschaft vorstellen zu können.

Aber jeder wird verstehen, daß es dazu dreier Voraussetzungen bedurfte: eines erfahrenen, hoch engagierten, ideenreichen Bauleiters (in Gestalt unseres Technischen Direktors), der uneigennützigen solidarischen Unterstützung durch viele andere Betriebe (u. a. bei „krummen Touren“) und der Bereitschaft nahezu aller Mitglieder des Ensembles (auch der künstlerischen Kräfte) zu zahllosen freiwilligen zusätzlichen Arbeitseinsätzen (die in der Mehrzahl unbezahlt bleiben mußten). Es waren in der Tat zusätzliche Arbeitsstunden, denn während der ganzen Bauzeit lief der Proben- und Vorstellungsbetrieb auf einer eigens hergerichteten kleinen Nebenbühne und im Abstecherbereich weiter - und zwar bei steigenden Vorstellungs- und Besucherzahlen!

Am Ende half auch unsere oberste staatliche Behörde, der Rat des Bezirkes. Sein zuständiger Vertreter beglückwünschte uns und erklärte, man werde nicht nachprüfen, was da alles illegal gelaufen sei - und man tat es auch nicht.

Nun, das war eine Ausnahmesituation. Ich will einige alltägliche schildern.

Unmittelbar vor einer ganz normalen Abendprobe, deren Ausfall durchaus zu verkraften gewesen wäre, wütete ein fürchterlicher Schneesturm. Er wehte den Schnee stellenweise zu meterhohen Bergen zusammen; es gab in der Stadt Häuser, deren Haustüren und Fenster des unteren Geschosses in Schneewehen verschwanden. In den Böen war der Sturm so heftig, daß er erwachsene Menschen umriß. Das Unwetter brach Bäume um, deckte Dächer ab und begrub alle Verkehrswege unter Schneemassen. Zahlreiche Ortschaften wurden für Tage von der Außenwelt abgeschnitten. Ich saß im Theater, das hinter einem Hügel und kräftigen Bäumen relativ geschützt lag und stellte mir die Frage, ob wohl jemand zur Probe kommen würde.

Sie kamen alle. Die meisten mit Verspätung, weil sie sich erst den Weg vor ihren Haustüren bahnen und sich durch die Schneeberge auf den Straßen hindurchkämpfen mußten. Einige Jüngere hatten Ältere abgeholt. Ein Schauspieler und die Souffleuse, beide schon recht bejahrt, waren stellenweise auf allen Vieren gekrochen, weil sie sich in den Sturmböen nicht auf den Beinen halten konnten. Natürlich wurde erst einmal Verpusten bei heißem Tee angesagt. Nach der sehr ergiebigen, launigen Probe brachten die Kräftigeren die Schwächeren nach Hause.

Der Pkw-Fahrer Heinz J., genannt Heini, kam gegen 21 Uhr mit mir von einer dreitägigen Dienstfahrt nach Thüringen zurück, brachte den Wagen in die Garage, stieg auf sein Moped und fuhr nach Hause in ein Dorf bei Anklam. Vor dem Dorf stieß er auf eine Schranke mit Polizeiposten. Er erfuhr, daß das Dorf wegen Maul- und Klauenseuche abgesperrt sei. Er dürfe hinein, weil er dort wohne, dann aber auf unbestimmte Zeit nicht wieder heraus. Heini wußte sehr gut, daß er bei dieser Art von Arbeitsausfall Anspruch auf vollen Lohn hatte. Er sorgte für die Benachrichtigung seiner Familie, fuhr zurück in die Stadt, übernachtete auf Autositzen in der Garage und trat am nächsten Morgen wie gewöhnlich seinen Dienst an. Für die nächsten Tage kam er bei Bekannten unter. Da er sein Verhalten für selbstverständlich hielt, erzählte er niemand davon - erst ein Zufall brachte es an den Tag.

Der Vorstellungsplan sah zwei nachmittags und abends liegende Märchenvorstellungen im ca. 65 km von Anklam entfernt liegenden Dargun vor, und am Nachmittag des folgenden Tages zwei ausverkaufte Märchenvorstellungen in einem etwa 60 Kilometer in anderer Richtung entfernten großen Dorf. Nach der zweiten Darguner Vorstellung luden die Techniker die Bühnendekoration auf den kleinen Hänger, und der Lastzug fuhr Richtung Anklam. Nach einigen Kilometern hatte der Hänger Reifenpanne, das Rad wurde schnell gewechselt. Dann knallte ein zweiter Reifen weg. Nun war kein Reserverad mehr da, denn die vom LKW paßten nicht für den Hänger. Auch war beim Aufschlagen der Felge auf das Katzenkopfpflaster noch weiterer Schaden entstanden. Der Hänger wurde für die nächsten Tage ausfallen. Was tun?

Normal wäre gewesen: der LKW wäre mit den Technikern nach langem Arbeitstag nach Hause gefahren, und am nächsten Tag hätte man sich um den havarierten Hänger gekümmert, d. h. die Märchenvorstellungen des kommenden Tages hätten ohne Dekoration stattfinden oder abgesagt und nachgeholt werden müssen. Kein Intendant hätte gegen eine solche Verfahrensweise Einwände geltend machen können.

Nachts auf offener Straße war es nicht möglich, jemand von der Theaterleitung zu informieren und eine Weisung einzufordern. Also hielten die Kollegen untereinander Rat. Dann stellten sie den Hänger irgendwo ab und fuhren mit dem LKW nach Anklam. Der Bühnenmeister M. und der Kraftfahrer F. holten aus der Garage ein Reserverad und Werkzeug für die Notreparatur. Damit fuhren sie zurück zum Hänger. In den frühen Morgenstunden kamen sie mit dem provisorisch reparierten Fahrzeug wieder auf dem Theaterhof an. Dort hatten inzwischen die anderen Kollegen den zweiten, größeren Hänger entladen (auf ihm befand sich die umfangreiche Dekoration für ein Abendstück), damit er für die Märchendekoration frei wurde. M. und F. schliefen in dieser Nacht 2 bis 3 Stunden, die anderen nur wenig länger. Gegen 8 Uhr morgens versammelte sich die ganze Mannschaft, lud die Märchendekoration von einem Hänger auf den anderen und fuhr nach der Frühstückspause wieder ab. Die beiden ausverkauften Märchenvorstellungen wurden mit voller Dekoration gespielt.

Diesen Einsatz begriffen die Kollegen als eine „nun eben mal eins“ vorkommende Belastung innerhalb ihrer normalen Arbeit. Ihr Argument: Man könne doch die Kinder nicht enttäuschen!

Kann man mit solchen Menschen „Sozialismus machen“?

Menschen, die vermutlich nicht im entferntesten darüber nachdachten, ob ihr Verhalten irgend etwas mit Sozialismus zu tun hatte?

Ich könnte viele Beispiele dieser Art erzählen. Sie sollen keineswegs zudecken, daß es am Theater Anklam auch manche Gründe zu großem Ärger gab.

So setzte sich ein Techniker mittels Täuschung des Pförtners in den Besitz des Garagenschlüssels, stahl einen Pkw und fuhr mit einigen seiner Saufkumpel (nicht aus dem Theater!) über die Dörfer. Den Wagen fanden wir am nächsten Tag in etwa 20 Kilometer Entfernung stark beschädigt an einem Chausseebaum. Die Insassen waren zum Gluck nur leicht verletzt. Ein anderer (er war einschlägig vorbestraft) stahl eine große Rolle neuer Auslegware. Leider mußte ich auch einem Mitglied der Theaterleitung wegen vorstellungsgefährdenden übermäßigen Alkoholgenusses einen Verweis verpassen, den der reuige Sünder widerspruchslos akzeptierte ...

Das Theater litt zeitweilig unter der Invasion von Flöhen. Wir waren gezwungen, immer wieder den Kammerjäger zu bestellen. Zum Jahreswechsel rüffelte mich der gestrenge staatliche Revisor, da wir aus zunächst unerfindlichen Gründen das Konto „Müllabfuhr“ maßlos überzogen hatten. Die Nachprüfung ergab: Man hatte aus ihm ordnungswidrig den Kammerjäger bezahlt...

Mit solchen und anderen Problemen mußte man sich eben auch herumschlagen.

Trotzdem - es machte Spaß, am kleinen Anklamer Theater zu arbeiten.

 

  (Unter freier Verwendung von Texten aus der 1996 erschienenen Autobiographie des Autors)  

Jürgen Schmidt 


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