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Über die Kampfgruppen
Meinen Hauptwohnsitz habe ich immer in Magdeburg gehabt. Bereits meine Urgroßeltern und deren Eltern, so weit man es verfolgen kann, lebten in dieser Stadt. Die Familien müssen sehr groß gewesen sein. Denn immer wieder, in meinem beruflichen und gesellschaftlichen Leben, erklärten mir Bürger und Kollegen, daß sie mit mir auf diese oder jene Art verwandt seien. Viele waren es aber nur politisch, denn die „Linken“ in unserer Stadt kannten sich recht gut und wußten voneinander. Das war gut so, und Anonymität war somit nicht drin.
Warum dieser kurze Vorspann? Weil er wichtig ist, wenn man in seinem Wohnort einer bewaffneten Einheit angehört. Wie zum Beispiel den Kampfgruppen der Arbeiterklasse bzw. vorher der Betriebskampfgruppe. Hier mußte man sich in Uniform und mit einem konkreten Auftrag zu erkennen geben. Ich tat das und mit mir mein Bruder, mein Sohn, diverse andere Verwandte und viele Kollegen, Freunde und Genossen. Wir taten es freiwillig. Unsere Motive waren mehrfach, darunter als Anlaß auch die Exzesse vom 17. Juni 1953, die plötzlich Altfaschisten und Neonazis sichtbar machten.
Im Herbst 1953 wurde im SAG-Betrieb Buckau-Wolf unsere Betriebskampfgruppe gebildet. Ich war eines der jüngsten Mitglieder und ohne jegliche militärische Erfahrung. Die Zusammensetzung war sehr bunt, altersmäßig und auch von der politischen und beruflichen Entwicklung her. Die Mehrzahl hatte in der Wehrmacht gedient und die Gefangenschaft hinter sich. Andere waren bereits einmal bei der Volkspolizei gewesen. Interessant waren aber für mich Genossen, die bereits im Reichsbanner und Rotfrontkämpferbund für die Arbeiterklasse im Einsatz waren. Besonders ein älterer Genosse, er hieß Paul Ressel, blieb mir in Erinnerung. Er stammte aus dem Sudetenland und war erst spät in die DDR übergesiedelt. Wir arbeiteten zusammen als Maschinenschlosser. Er war ein überzeugter Kommunist und hätte auf Grund seiner antifaschistischen Vergangenheit in der ČSSR bleiben können. Doch er war auch Deutscher und wollte unter seinen gleichsprachigen Landsleuten sein. Er meinte, der Sozialismus müsse sich schützen von Anfang an.
Der Aufbau der Kampfgruppen ging nur
langsam voran. Ich nahm einmal an einem Wochenlehrgang für Unterführer teil.
Es gab weder Uniformen noch Geräte, und geschossen haben wir kaum.
Quelle Bildarchiv d. Märk. Allgem.
Kommandeure einer Einheit der Kampfgruppen der Arbeiterklasse
bereiten eine Übung vor
Da fiel der Partei, Gewerkschaft und FDJ unseres Betriebes etwas Gutes ein. Sie übertrugen den Genossen Kampfern einen Großteil des Aufbaues eines Kinderferienlagers in Arendsee/Altmark. Wir bauten die Versorgungseinrichtungen, Unterkünfte, Spielgeräte und Plätze und übernahmen die Sicherung des Lagers, welches kurz vor der Grenze zur BRD lag. Diese Grenze war damals noch offen und nur durch die Grenzpolizei in Ost und West gesichert. Trotzdem hatte sich schon ein reger Grenzverkehr entwickelt, der besonders von Schiebern und Schmugglern genutzt wurde.
Unsere Arbeit trug Früchte, fast zu gute. Denn in den weiteren Jahren wurde dieses Lager zu einem internationalen Ferienlager ausgebaut, und eine Reihe anderer Betriebe bauten gleichfalls Einrichtungen auf.
Durch den Kalten Krieg in Europa und den heißen in vielen Teilen der Welt wurde auch die DDR in die Kette der Aufrüstung einbezogen. Neben dem schweren Wiederaufbau und den Demontagen war dies ein Stück zu viel für die Wirtschaftskraft der DDR. Zumal seitens der BRD, bei offener Grenze, ständig Arbeitskräfte abgeworben und mittels des künstlichen Wechselkurses Geld- und Warenströme umgeleitet wurden.
Ich kam, wie viele andere junge Menschen, den Anforderungen nach und diente 1955/56 in der KVP (Kasernierte Volkspolizei). Der Standort war Pasewalk, meine Einheit eine Nachrichtenkompanie. Wir waren eine gute Truppe. Die meisten von uns besaßen einen Beruf, einige das Abitur. Schwer hatten es die Offiziere, die die Ausbildung leiten mußten. Die Technik war uralt, das Beste noch aus der Endzeit des Zweiten Weltkrieges. Mein Meldefahrzeug hatte das Baujahr 1932.
Ähnlich war es mit unserer Bewaffnung und Bekleidung. Im Grunde sahen wir aus wie ein „Ableger“ der Sowjetarmee und hatten des öfteren Probleme, von der Bevölkerung anerkannt zu werden. Aber mit Ernteeinsätzen, Kultur- und Sportveranstaltungen fanden wir doch einen Weg zu den Bürgern.
Unter uns sprachen wir öfters über das Niveau der KVP und unserer Führung. Kritisch wurden die Anwesenheit sowjetischer Berater in fast jeder Kompanie und der Einsatz ehemaliger Wehrmachtsoffiziere vermerkt. Ich hatte während eines Wintermanövers Gelegenheit, einem dieser Offiziere zuzuarbeiten. Es war der ehemalige Stabschef der TV (Territorialen Verwaltung) Nord, Oberst von Witzleben. Er war Soldat durch und durch. Er beeindruckte durch sein Können und stellte uns erfüllbare Aufgaben.
Mein Wunsch, später Politoffizier zu werden, ging nicht in Erfüllung. Ich bestand zwar die Aufnahmeprüfung, aber da ich Verwandte im kapitalistischen Ausland hatte und mein Vater damals aus politischen Gründen1 eine Haftstrafe verbüßen mußte, kam ich nicht in Frage.
Aufgrund meiner späteren Qualifizierung als Ingenieur und der Absolvierung von Reservelehrgängen wurde ich zum Unteroffizier sowie zum Unterleutnant der Reserve ernannt. Bei meinen Reserveübungen und bei Besuchen in der NVA-Pateneinheit merkte ich jedoch stets: Die Sünden der Anfangszeit der Armee blieben bestehen. Es gab keine offene, kritische Atmosphäre, die Bürokratisierung nahm zu, und der wehrpflichtige Soldat wurde ungenügend einbezogen.
In der Industrie entstand inzwischen eine neue Situation. Die SAG-Betriebe wurden volkseigen. Das ergab inhaltliche und strukturelle Probleme, in einigen Bereichen auch einen plötzlichen Überschuß an Arbeitskräften. Da auch mein Betrieb davon betroffen war, begann ich im VEB Fahlberg-List als Reparaturschlosser zu arbeiten. Es war ein chemisch-pharmazeutischer Betrieb mit einer breiten Produktionspalette. Die Belegschaft bestand aus Arbeitern, Angestellten, Ingenieuren und Wissenschaftlern. Fast jeder Betriebsangehörige war in seinem Beruf ein Unikat, denn es gab kaum Massenarbeitsplätze. Die Produktivität war trotz schlechter Grundfondsausstattung sehr hoch. Sie betrug z. B. 1985 250.000 Mark pro Arbeitskraft.
Auch hier gab es eine Kampfgruppenhundertschaft. Der Kommandeur war ein ehemaliger Fallschirmjäger, ein prima Kerl, aber leider mit der Führung der Einheit überfordert. Besonders die Betriebshandwerker, die Chemiefacharbeiter und zusehends auch Wissenschaftler und Ingenieure füllten den Bestand auf und trugen zur Verbesserung des Niveaus bei. Mein Bruder und ich wurden Zugführer. Wir hatten nun schon einheitliche Kleidung, blaue Kombinationen, und konnten Waffen empfangen. Eine Truppenfahne wurde uns übergeben, und die politische Ausbildung gehörte zum Alltag. Unsere Übungen führten wir in der näheren Umgebung sowie einmal jährlich drei Tage in Stolberg/Harz durch. Dort hatten wir ein Betriebsferienheim. Das alles erhöhte unsere Einsatzfähigkeit und festigte die Kameradschaft zwischen den Genossen.
Eines Tages hieß es, die Genossen Nikita Chruschtschow und Walter Ulbricht kommen nach Magdeburg. Auf dem Domplatz gibt es mit beiden eine Kundgebung. Wir bekamen den Auftrag, mit 20 Genossen die Tribüne abzusichern. Ich erhielt die Führung über dieses Kommando. Anfangs wollte ich mich immer mit den anderen Sicherheitskräften abstimmen. Es waren aber außer uns keine da. Das hat uns zwar sehr gewundert, aber wir erfüllten unsere Aufgaben nun besonders korrekt. Die Veranstaltung verlief außerordentlich gut und sehr emotional. Obwohl nach Feierabend, standen die Menschen gedrängt und lauschten den Worten der Redner. Nikita Chruschtschow sprach wie immer ohne Vorlage, und nur den Kenntnissen und dem Talent von Werner Eberlein war es zu verdanken, daß die deutschen Zuhörer einen geordneten Vortrag erhielten. Walter Ulbricht, gleichfalls durch die gute Atmosphäre „aufgeladen“, legte auch sein Konzept beiseite und hielt wohl eine seiner besten Reden. Die Kundgebungsteilnehmer bezeugten dies mit spontanem Beifall. Uns gab der erfüllte Auftrag neuen Mut und den Willen, die Hundertschaft weiter zu stärken. Das war auch bald notwendig, denn das Jahr 1961 kam heran.
Die DDR hatte sich weiterentwickelt. Die Lebensverhältnisse verbesserten sich. Wir verdienten etwas mehr. Feriendienst, soziale Sicherstellung sowie umfassende Bildungsmöglichkeiten waren echte Errungenschaften. Jedoch die Abwerbung von Arbeitskräften, ein riesiger Schwarzhandel und ständige politische Diffamierungen nahmen immer größere Dimensionen an. Auch aus unserem Betrieb wechselten einige Leute die Seiten und gingen in den Westen. Das Wirtschaftsinstitut in Kiel unter der Leitung von Professor Baade rechnete damals aus, daß die DDR durch die offene Grenze 100 Milliarden Mark verloren hat. Viele Werktätige fanden diese Situation unerträglich. Es mußte ein Zeichen gesetzt werden. So entschlossen sich die Staaten des Warschauer Paktes, am 13. August 1961 die Grenze nach Westberlin zu schließen und auch die Westgrenze der DDR stärker abzusichern.
Die Stimmungen im Betrieb und in der Kampfgruppe waren vielfältig. Überwiegend wurde der Grenzsicherung zugestimmt. Zwar waren solche Formulierungen wie „antifaschistischer Schutzwall“ nicht besonders populär, aber zum Schlag gegen den Schwarzhandel und den Ausverkauf der DDR gab es ziemlich einhellige Meinungen.
Unsere Einheit erhielt den Auftrag, zwei Gruppen für die Grenzsicherung zu stellen. Es meldeten sich sofort genügend Genossen freiwillig für diesen Dienst. Eine Gruppe wurde nach Langenapel/Salzwedel verlegt, um dort die Volkspolizei im hinteren Grenzgebiet zu unterstützen. Die zweite Gruppe galt als Reserve. Sie kam aber nicht zum Einsatz, da die erste über sechs Wochen ihren Auftrag konsequent wahrnahm. Die Genossen hatten sich eng mit der Dorfbevölkerung und den Mitgliedern der LPG verbunden und somit keine Probleme, ihre Sicherheitsaufgabe zu erfüllen.
Ich selbst habe 1962 die Kampfgruppenschule in Schmerwitz/Fläming besucht und war dann bis 1965 Kommandeur der Einheit. Nach meinem Ingenieurstudium war ich fast 20 Jahre Parteisekretär im VEB Fahlberg-List und hatte somit die politische Verantwortung für die Hundertschaft der Kampfgruppen. (Diese erhielt später den Namen des Magdeburger Antifaschisten Walter Kaßner.)
Jawohl, das Jahr 1961 hatte uns zusammengeschweißt. Doch um Inhalte muß man ständig ringen. Die Ausrüstung, die gesamte materielle Sicherstellung verbesserten sich rasant. Es war schon zu viel für eine Miliz, die ehrenamtlich arbeitete. Andererseits wurde die Aufgabenstellung der Parteiführung für die Kampfgruppen immer begrenzter. Nur mit Aufmärschen, Kranzniederlegungen und als Hilfstruppen für die VP war der Dienst nicht ausgefüllt. Dazu kamen einige lebensfremde Beschlüsse des Politbüros der SED. So sollten z. B. Genossen, die zeitweilig in Westdeutschland bzw. im kapitalistischen Ausland gewesen waren oder Kontakte mit dort lebenden Verwandten unterhielten, ausgesondert werden. Gleiches galt für die Mitglieder von Blockparteien. Eigentlich sollte mit diesen Beschlüssen vor allem eine ideologische Abgrenzung erreicht werden, aber die verantwortlichen Organe machten daraus eine Kaderfrage. Somit entstanden, besonders bei den Kommandeuren, Bedenken und Unsicherheiten in der Führungstätigkeit sowie bei den Betroffenen ein Mißtrauen gegen unsere Partei und unseren Staat. Genau genommen, begannen mit dieser Art von Kaderarbeit die Spaltung und der Zerfall unserer Partei und ihrer Einrichtungen. Plumpe Bürokraten bekamen die Oberhand, Kader wurden nach dem Niveau der Fragebögen beurteilt und dem MfS die Macht über die Partei erteilt. Verhängnisvoll, meine ich.
Trotzdem hatten wir in Treue zur DDR und unseren Menschen noch einige gute Ergebnisse, darunter die Absicherung von großen Sport- und Kulturveranstaltungen, den Einsatz bei Havarien und Wetterproblemen (z. B. Hochwasser und Schnee) sowie den Aufbau eines Kinderferienlagers in Jerchel bei Tangermünde. Hier waren alle Kämpfer mit Herz und Hand dabei.
Das gesamte Leben der Einheit wurde in mehreren Chroniken festgehalten, die heute genauso wie das Ehrenbanner noch existieren und einen geeigneten Platz suchen.
Insgesamt waren die 35 Jahre Kampfgruppen Bestandteil der DDR und sollten dementsprechend auch historisch bewertet werden.
Jonny Haegebarth
1 Mein Vater wurde als ehemaliges Mitglied der KAPD stalinistisch verfolgt; Haftstrafe von 1950 bis 1953. 1990 rehabilitiert.
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