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Die „Wismut“ war mein Leben

 

Aufgewachsen bin ich in Crimmitschau, das wegen seiner vielen Betriebe auch „Stadt der 99 Schornsteine“ genannt wurde. Es ist ein traditionsreicher Standort der sächsischen Textilindustrie und eine ehemalige Hochburg der deutschen Arbeiterbewegung. Die guten Stoffe der Crimmitschauer Spinner und Weber waren schon Mitte des 18. Jahrhunderts weithin bekannt. Aber seit 1903/1904 verbindet sich der Name der Stadt auch mit dem damals über 21 Wochen anhaltenden, machtvollen Streik von 9.000 Crimmitschauer Textilarbeitern um den Zehnstundentag und eine angemessene Lohnerhöhung.

1947 war ich 15 Jahre alt, hatte die 8. Klasse abgeschlossen und wollte im Trikotagenwerk arbeiten. Meine Mutter war damit nicht einverstanden, ihr schien die „Triko“ zu fein. Denn dort hatten schon immer „bessere Fräuleins“ gearbeitet, die mit Hut „ins Geschäft“ gingen. (Das erinnert mich an die Schwaben, die gehen auch immer „ins Geschäft“ - egal, was sie tun!) Die Vorgesetzte der Arbeiterinnen war auch nicht einfach Abteilungsleiterin, sondern „Direktrice“, obwohl der Betrieb nur Herrenunterwäsche produzierte. (Später kamen dann Trainingsanzüge für Erwachsene und Kinder hinzu.)

Aber allen mütterlichen Reden zum Trotz bin ich hingegangen und habe es nicht bereut, denn es arbeiteten viele junge Mädchen und Frauen da. Damals gab es noch keine Lehrverträge für Textilarbeiterinnen. Also wurde ich angelernt und arbeitete danach als Näherin - erst mal für 50 Pfennig pro Stunde und nach einem halben Jahr im Leistungslohn. Das bedeutete aber, eine technisch begründete Arbeitsnorm zu haben. Für uns hatte das zunächst große Ähnlichkeit mit Methoden, von denen es in der kapitalistischen Zeit gehießen hatte „Akkord ist Mord“. Deshalb wollte anfangs keine etwas davon wissen.

Andererseits mußte wohl wirklich was geschehen, um jeden nach seiner tatsächlichen Leistung zu entlohnen, einen Anreiz für gute Planerfüllung zu schaffen und im Betrieb zu höherer Produktivität zu kommen. Denn natürlich hatte Frieda Hockauf1 recht, die damals sagte: „So, wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben.“

Also wurde dann doch wieder mit der Stoppuhr gearbeitet. Aber es ging reell zu. Genormt wurden meistens drei Kolleginnen: nicht die schnellsten, sondern „Mittelmaß“. Der Durchschnitt dieser drei Werte ergab dann die Norm. Da auf diese Weise jeder Arbeitsgang geprüft werden mußte, hatte der Normierer eine mühselige Aufgabe, und die Näherin war meist aufgeregt. Einfach bummeln konnte sie natürlich nicht, aber sie wollte ja nicht zu schnell arbeiten, damit eine „gute“ Norm rauskam und der Verdienst gut wurde. Vorher gab es auch immer große Diskussionen, weil keine bereit war, sich stoppen zu lassen. Ich kann ein Lied davon singen, denn ich habe beide Seiten kennengelernt: Als Näherin wurde ich genormt und habe danach zwei Jahre als TAN-Sachbearbeiterin andere Kolleginnen genormt. Nun mußte ich mir u. a. auch Beschimpfungen der Art anhören, ob ich ganz vergessen hätte, daß ich selbst mal Näherin war. Da hatte ich allerdings das Doppelte verdient; denn als Normiererin zählte ich zu den Angestellten und bekam monatlich nur 200 Mark netto. Die diesbezüglichen Unterschiede zwischen Verwaltung und Produktion waren sehr groß. Aber ich fand es gerecht, denn schließlich wurden die gesellschaftlichen Werte in der Produktion geschaffen. Heute ist es umgekehrt: Der Arbeiter ist nichts mehr wert, er wird ausgebeutet. Und wenn ihm das nicht paßt, gibt es ja genug Arbeitslose, die auf einen Job warten.

Ab 1955 arbeitete ich dann auch wieder in der Produktion und wurde einmal als „beste Näherin des Betriebes“ ausgezeichnet. Aus diesem Anlaß durfte ich nach Berlin fahren und mit vielen anderen Gästen zwei Tage lang an einer Volkskammertagung teilnehmen. Ich war davon sehr beeindruckt. Mir gefiel auch, daß es sehr diszipliniert zuging. Wer was zu sagen hatte, meldete sich zu Wort, sprach sachlich über die Probleme, und alle hörten ihm zu. Da gab es keine Zwischenrufe und Anpöbeleien wie z. B. heutzutage im Bundestag. Damals lernte ich auch Sepp Wenig2 persönlich kennen, dem ich später in der SDAG Wismut noch des öfteren begegnete.

Ende der fünfziger Jahre wurde ich nach einjähriger Kandidatenzeit Mitglied der SED. In die FDJ war ich schon viel eher eingetreten. Wir hatten eine gute Tanzgruppe, mit der wir oft unterwegs waren. 1951 nahm ich mit einer Sportgruppe an den Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Berlin teil. Während einer Großveranstaltung im Walter-Ulbricht-Stadion3 stellten wir mit vielen anderen Arbeitersportlern das Emblem der DDR - Hammer, Zirkel und Ährenkranz - tänzerisch und sportlich dar. Das war ein unvergeßliches Erlebnis.

Da mein Mann bei der SDAG Wismut arbeitete, zogen wir 1958 nach Ronneburg/ Thür. Meine neue Arbeitsstelle war der dortige Transportbetrieb der SDAG Wismut. Eingestellt wurde ich erst mal als Abrechnerin für Fahrbefehle mit einem Nettogehalt von 275 Mark monatlich: Das bedeutete damals sehr viel Arbeit, jede Menge unbezahlter Überstunden, die „abgefeiert“ werden sollten (was wegen der Termine überhaupt nicht möglich war). Aber dann bekam ich die Möglichkeit, mich von 1961 -1963 in einem Frauen-Sonderlehrgang der Betriebsberufsschule zum Industriekaufmann zu qualifizieren. Dafür wurde ich diese drei Jahre lang jede Woche einen Tag von der Arbeit freigestellt und schaffte meinen Abschluß mit „Gut“. Ich war 32 Jahre alt und hatte nun endlich einen richtigen Beruf. Von da an arbeitete ich als Buchhalterin und gleichzeitige Abteilungsleiterin mit einem Nettogehalt von 500 Mark monatlich. Das war eine schwierige Aufgabe, denn die meisten Kolleginnen waren älter als ich und außerdem schon länger im Betrieb. Aber gemeinsam haben wir alles geschafft, und es war ein gutes Arbeitsklima. Durch bessere Arbeitsorganisation konnten wir die Überstunden stark reduzieren bzw. überflüssig machen. Dazu trugen unsere verbesserte technische Ausstattung sowie die Übernahme von Arbeiten durch die Rechenstation in Gera bei. Mit der Zeit wurde also vieles leichter.

Wir Kolleginnen der Buchhaltung veranstalteten viele sehr schöne Brigadenachmittage und organisierten Ausflüge oder Kegelnachmittage. Im Betrieb gab es auch eine Sportgruppe, an deren Übungsstunden wir uns nach Feierabend unter dem Motto „Mach mit, bleib fit“ beteiligten. Es gab sogar öffentliche Wettkämpfe mit anderen Betrieben.

Einmal jährlich veranstaltete unsere Brigade eine Wochenendfahrt mit allen Kolleginnen sowie deren Männern und Kindern. Dabei lernten wir unsere schöne Heimat kennen und besuchten z. B. den Spreewald, Berlin oder Dresden. Mehrmals waren wir auch für drei Tage in der ČSSR. Und zwar sozusagen kostenlos, denn das Geld dafür hatten wir in der Brigadekasse angespart. In ihr sammelten wir außer Wettbewerbsprämien auch das sogenannte „Reinigungsgeld“. Denn da Reinigungskräfte knapp waren, machten wir unsere Büroräume selbst sauber. (Heute würde das aus den Verwaltungen wahrscheinlich niemand mehr tun.)

Quelle Privatarchiv Ruft  

8. März - Internationaler Frauentag - jedes Jahr ein Höhepunkt in allen Kollektiven. Nach der offiziellen Würdigung das beliebte zwanglose Zusammensein im Kollegenkreis

 

Unsere Brigade hatte auch einen Patenschaftsvertrag mit der sowjetischen Kaserne in Gera, und bei bestimmten Höhepunkten - z. B. Frauentagsfeiern oder Ausflügen - luden wir die Frauen der Offiziere zu uns ein. Da eine unserer Kolleginnen russisch sprach, konnten wir uns gut verständigen.

Die Patenschaftsarbeit wurde überhaupt sehr gepflegt. Jede Brigade unseres Betriebes schloß einen Vertrag mit einer Schulklasse und betreute sie danach ständig - von der Schuleinführung bis zur Jugendweihe. Da eine unserer Kolleginnen auch im Elternaktiv „unserer“ Klasse mitarbeitete, waren wir immer gut über alles informiert. Selbstverständlich nahmen wir auch an jeder Zeugnisausgabe teil. Die Kinder waren sehr anhänglich und freuten sich, wenn wir kamen. Dann wollten sie auch viel über unsere Arbeit wissen, z. B. was ein Buchhalter den ganzen Tag macht: vielleicht die „Bücher halten“?!

Unsere Brigade war für mich und die meisten Kolleginnen jedenfalls nicht nur einfach ein Arbeitskollektiv, wo man notgedrungen irgendwie miteinander auskommen mußte, sondern sehr viel mehr. Wir konnten uns aufeinander verlassen, auch wenn es mal persönliche Schwierigkeiten gab.

So hatte ich mich 1965 scheiden lassen, weil meine Ehe nach zehn Jahren immer noch kinderlos war. Mit meinem neuen Partner bekam ich 1966 eine Tochter und 1969 einen Sohn. Da ich nicht wieder heiratete, war ich seitdem eine alleinerziehende Mutter und habe das nie bereut. Denn durch die großzügige Unterstützung des Betriebes und die vorbildliche Gesetzgebung der DDR waren alleinstehende Mütter oft besser gestellt als verheiratete. Aber die Arbeitsplätze der werdenden Muttis waren generell geschützt.

Auch ich konnte also nach meinem Schwangerschaftsurlaub - sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt - wieder meiner bisherigen Arbeit nachgehen. Meine Tochter bekam ohne Wartezeit einen schönen Platz in der Tageskrippe - früh habe ich sie hingebracht und nachmittags wieder abgeholt. Das gleiche war bei meinem Sohn der Fall - kein Problem. In der Krippe waren sie bis zu drei Jahren. Dann kam der Wechsel in den Kindergarten bis zur Einschulung. Das alles verlief reibungslos, fast automatisch. So konnte ich tagsüber arbeiten, ohne mir Sorgen zu machen.

Die meisten Mütter hatten den Kindergarten im Wohngebiet und mußten keine großen Wege zurücklegen. Das war sehr angenehm, auch für die Kinder. Meine sind gerne in diese Einrichtungen gegangen, wir reden heute noch oft darüber. Sie empfanden das nie als Zwang, obwohl mir ja gar keine andere Wahl blieb. Immerhin mußte ich den Lebensunterhalt für uns drei verdienen. Der Kindergarten war auch eine gute Vorbereitung auf die Schule. Denn die Kinder wurden nicht nur „beaufsichtigt“, sondern durch gut ausgebildete Fachkräfte betreut, unter deren liebevoller Anleitung sie sich beim Spielen und Lernen schon zu kleinen Persönlichkeiten entwickeln konnten. Das half ihnen im weiteren Leben sehr. Selbstverständlich war auch die ärztliche Versorgung jederzeit gesichert.

Als Schulkinder sind meine beiden oft in das betriebseigene Kinderferienlager gefahren, die SDAG Wismut hatte in vielen Gegenden welche. Preis: 10 Mark für zwei Wochen. Anreise umsonst.

Aus meiner Sicht war die soziale Betreuung der in den Betrieben der SDAG Wismut Beschäftigten überhaupt vorbildlich. So wurden beispielsweise die meisten Arbeiter und Angestellten mit bereitgestellten Bussen kostenlos zur Arbeitsstelle und zurück in ihre Wohnorte gefahren, auch wenn das nur Dörfer waren. Kaum jemand brauchte also frühmorgens 5 Uhr den eigenen PKW starten. Das ersparte nicht nur jedem einzelnen viel Streß und finanzielle Mehraufwendungen, sondern war darüber hinaus eine im besten Sinne ökonomische Lösung - ganz im Gegensatz zur heutigen Zeit, wo jeder einen PKW benötigt, um seinen Arbeitspflichten nachzukommen (vorausgesetzt, man hat überhaupt eine Arbeit).

Vorbildlich war auch das betriebliche Gesundheitswesen der SDAG Wismut entwickelt. Es verfügte über moderne Einrichtungen mit qualifiziertem medizinischem Personal, das hohe Leistungen bei der Prophylaxe und der Früherkennung von Krankheiten sowie bei der Anwendung vielfältiger therapeutischer Maßnahmen erbrachte. Das Angebot an preisgünstigen Ferienplätzen war gut. Außerdem wurden die Wismut-Kumpel bevorzugt mit Kuren bedacht (die für sie - wie für jeden anderen Werktätigen der DDR - selbstverständlich kostenlos waren).

Diese besondere staatliche und betriebliche Fürsorge war vollauf berechtigt. Bekanntlich haben die Bergleute seit jeher einen der schwersten und gefährlichsten Berufe, und für die unmittelbar mit dem Abbau und der Aufbereitung von Uranerz Beschäftigten kommen zusätzliche Gesundheitsrisiken hinzu. Daran gibt es nichts zu deuteln. Ich wende mich allerdings energisch gegen die Behauptung, daß die bekannten Fälle von Gesundheitsschädigungen, Frühinvalidität oder vorzeitigem Tod auf angeblich miserable Zustände im Betriebsregime der SDAG Wismut zurückzuführen seien. Nach meiner Kenntnis wurde dagegen - z. B. durch Arbeitsschutzmaßnahmen sowie Nutzung neuer medizinischer Erkenntnisse - alles nur Mögliche getan, um die Risiken ständig zu verringern. Aber wenn es um die Diffamierung der DDR geht, schrecken bestimmte Politiker und Medien seit jeher vor keiner Verleumdung zurück und nehmen selbst auf die Gefühle Betroffener keine Rücksicht. Besonders empörend fand ich eine Sendung des ZDF aus dem Jahre 1991. In ihr wurde das Grabmal meines Bruders in Crimmitschau gezeigt, und der Kommentar dazu lautete sinngemäß: „Dieser Verstorbene ist ein Opfer der Politik der DDR-Führung und der verantwortlichen Funktionäre der „Wismut“.“ - Jawohl, mein lieber Bruder starb leider bereits im Alter von 39 Jahren an Krebs, aber es gab keinerlei ursächliche Zusammenhänge mit seiner Tätigkeit bei der SDAG Wismut.

Nach der „Wende“ wollte man offenbar verstärkt den Eindruck vermitteln, daß sämtliche Wismut-Beschäftigten bzw. auch die Bevölkerung durch den Uranerzbergbau von erhöhten Gesundheitsrisiken bedroht gewesen seien. Nun, ich selbst habe länger als 30 Jahre bei der SDAG Wismut gearbeitet und ebensolange in Regionen der Wismut gelebt. Weder damals noch heute hatte bzw. habe ich irgendwelche Krankheiten, noch waren bzw. sind Symptome feststellbar, die im Zusammenhang mit der Wismut stehen könnten.

Noch manches Nachteilige wurde über unseren Betrieb geredet, geschrieben und in Medien veröffentlicht. Ich kann dazu nur sagen: Wir waren kein Staat im Staate und unsere Kumpel keine Truppe von halb Asozialen oder Säufern, sondern das waren hart arbeitende Leute, die sich nicht vor den bekannten Gefahren des Untertagebaus scheuten.

Von mir selbst kann ich behaupten, daß ich stolz darauf war, zur SDAG Wismut zu gehören. Und ich glaube, daß ein großer Teil der Betriebsangehörigen dieses Gefühl selbst heute noch teilt. Die Bergarbeiter waren in der DDR so hoch angesehen wie keine andere Berufsgruppe. „Ich bin Bergmann - wer ist mehr?“ konnte auch jeder unserer Kumpel von sich sagen. Aber viele Kolleginnen und Kollegen verstanden darüber hinaus, daß es der UdSSR einst auch dank unserer Uranerzförderung gelungen war, das Atomwaffenmonopol der USA zu brechen - ebenso, wie wir damit später einen unmittelbaren Beitrag zur Aufrechterhaltung des militärischen Gleichgewichtes und zur jahrzehntelangen Bewahrung des Weltfriedens leisteten. In diesem Sinne hatte die gängige Losung: „Mein Arbeitsplatz - mein Kampfplatz für den Frieden“ für uns ganz besondere Bedeutung.

So verging ein Jahr ums andere. Dann waren meine Kinder erwachsen, und ich arbeitete immer noch im gleichen Betrieb: 32 Jahre lang und stets in der Buchhaltung, obwohl in verschiedenen Abteilungen. Wenn ich heute so zurückdenke: Es war ein gutes Betriebsklima, denn sonst bleibt man wohl auch nicht so lange.

1990 mußte unser Betrieb Arbeitsplätze abbauen. Ich war damals zwar erst 58 Jahre alt, aber als Dienstälteste in der Buchhaltung bin ich dann doch in den Vorruhestand gegangen. Immerhin hatte ich insgesamt 44 Arbeitsjahre vorzuweisen.

Elfriede Rutt


1 Bekannte DDR-Aktivistin und Heldin der Arbeit, Initiatorin der „Hockauf-Bewegung“

2 Bergmann und bekannter Aktivist der SDAG Wismut, Held der Arbeit

3 Das spätere Stadion der Weltjugend; nach 1990 ersatzlos abgerissen


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