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Wollten Herrliches gewinnen, aber es gelang uns nicht
Frei nach Goethe, Faust II
Von vaterländischen Phrasen verführt, hatte ich mich 1943 freiwillig zur „Wehrmacht“ gemeldet, um „das Vaterland zu verteidigen“. Während der letzten Kriegsmonate erlebte ich in Jugoslawien als Rekrut meine „Feuertaufe“. Am 8. Mai schwamm ich in der Adria um mein Leben, während sich die Herren Offiziere mit Motorbooten und großen Koffern an Land fahren ließen.
Von jugoslawischen Partisaninnen gefangengenommen, wurde ich den Engländern übergeben, die mir kostenlos eine Reise durch Italien und übers Mittelmeer nach Ägypten ermöglichten, wo ich 3 1/2 Jahre Zeit hatte, in der Gefangenschaft über meine Riesendummheit nachzudenken, und mir einen festen demokratisch-humanistischen Standpunkt zu erarbeiten. Das war ein langer, schwieriger Prozeß, auf den ich nicht näher eingehen will.
Nur eine kleine Episode, weil mir diese einen wichtigen Denkanstoß für mein weiteres Leben gab: Bei einer „Seelenfilzung“, wie wir die hochnotpeinlichen Gesinnungsprüfungen nannten, wurden mir zwei Fragen gestellt, die ich leider nicht zur Zufriedenheit meiner „Seelenfilzer“ beantwortete. Diese lauteten: „Was halten Sie von den Reichsautobahnen? Was ist Ihre Meinung über die KdF-Schiffe?“ Nachdem ich sowohl die Autobahnen als auch die KdF-Schiffe überschwenglich gelobt hatte, wurde ich als „unverbesserlicher Nazi“ eingestuft. Erst später in der DDR wurde ich darüber aufgeklärt, daß die Autobahnen nicht für meinen Onkel Hermann gebaut worden waren, damit dieser mit seinem Hanomag bequemer nach Bayern fahren konnte, sondern wichtiger Teil der strategischen Kriegsvorbereitung waren, um im zielstrebig vorbereiteten Zweiten Weltkrieg schnell im Falle eines Zweifrontenkrieges Truppen von West nach Ost und Nord nach Süd und umgekehrt verlegen zu können. Und auch die „Kraft-durch-Freude-Schiff“ wurden, so erfuhr ich, erst im Krieg ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt, nämlich als Lazarettschiffe für Verwundete. Ein Mitgefangener aus Weinheim an der Bergstraße, der als Student in München der antifaschistischen Untergrundbewegung „Weiße Rose“ angehört hatte, machte mir den Vorschlag, Lehrer zu werden, um künftigen Generationen ähnliche Dummheiten wie meine zu ersparen. Er wurde bereits 1947 entlassen und schrieb mir nach seiner Repatriierung unsäglich enttäuscht, daß in den Ämtern seiner Heimatstadt die alten Nazibeamten saßen, die sich hinter seinem Rücken lustig machten, als er sich als Antifaschist auswies.
Durch die Autobahnstory stutzig gemacht, widmete ich mich später neben meiner Neulehrertätigkeit vor allem historischen Fragen, und ich begann mich zu fragen, woher eigentlich die Riesengeldsummen kamen, um diese Autobahnen zu finanzieren, die Nazipartei aufzubauen, die „Prunkbauten“ und Nazi-Aufmärsche Hitlers zu bezahlen, die Wehrmacht aufzubauen und Riesenmengen modernster Waffen zu produzieren usw.
Doch zurück in die ägyptische Gefangenschaft. In der Gefangenenbibliothek entdeckte ich eine Broschüre über Karl Marx. Den Namen hatte ich in abfälliger Weise ab und zu gehört, doch etwas Genaueres wußte ich nicht über diesen verfemten Mann. Aber was dieser verteufelte Mann eigentlich wollte, darüber wurde in der Hetzschrift nichts gesagt. Auch ein Philosophiestudent konnte mir keine klare Auskunft geben. Mein Interesse war geweckt, und das verdanke ich den Ideologen der USA, die sicher anderes mit ihrer Broschüre bezweckt hatten.
In der englischen Gefangenschaft warnte man uns davor, ins kommunistische Ostdeutschland heimzukehren, doch mein Vater ermutigte mich, nach Hause zu kommen. Ich wurde Neulehrer, und während der Vorbereitung auf meine erste Lehrerprüfung war es eine CDU-Kollegin, die mich in ausgezeichneter Weise in die Grundlagen der marxschen Lehre einführte. Und während viele vielleicht Marx nur als „Pflichtlektüre“ betrachteten, befaßte ich mich im Selbststudium mit seinen Ideen. Besonders überzeugte mich der historische und dialektische Materialismus. Und ich gewann die Überzeugung (die ich heute noch vertrete - Herr Kohl und Herr Schröder mögen mir diese große Sünde verzeihen), daß Marx und Engels bemüht waren, den Ideen von wahrer Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und den edlen Ideen unserer großen Dichter und Denker, den Aufklärern und Humanisten, für die ich mich durch mein Selbststudium in der Gefangenschaft begeistert hatte, den Weg zu bahnen. Und obwohl ich mich als Sprößling von Kleinbürgern und Handwerkern und als „Vulgärdialektiker“ keiner allzu großen Anerkennung im DDR-Staat erfreuen konnte, setzte ich mich mit besten Kräften für den Sozialismus ein, da er mir vernünftig und erstrebenswert schien und scheint, zumal sich nach dem Tod Stalins mehr Vernunft in der Politik durchzusetzen begann.
Da ich besondere geistig-literarisch-philosophische Ambitionen hatte und habe, war ich gesellschaftlich vor allem im Kulturbund aktiv tätig. Auf der einen Seite lobte man mich ob meiner Bemühungen um ein reges geistig-kulturelles Leben in meinem Heimatort, doch auf der anderen Seite wurde ich vom Ortssekretär der SED wiederholt ins Gebet genommen, da wir bei unseren Geselligkeiten bewußt in kabarettistischer Weise Kritik übten an Mißständen in der sozialistischen Gesellschaft, soweit diese uns bekannt waren. Ich förderte das aus dialektischem Verständnis ganz bewußt, da mir nichts notwendiger erschien als sachliche Kritik, um die Entwicklung zu fördern daß diese nicht im Sumpf steckenblieb. Auf der anderen Seite verteidigte ich auch manches, was sich im Nachhinein als Fehler erwies. Doch die „Mächtigen“ legten mir die gutgemeinten Kritikastereien als „Nestbeschmutzung“ aus, was schließlich dazu führte, daß ich mein Ehrenamt niederlegte.
Der Kulturbund-Sekretär des Bezirkes, der meine Aktivitäten gut kannte, versuchte mich umzustimmen. Als ich ihm ehrlich den Grund meines Rucktritts erläuterte, erwiderte er empört: „Denkst Du, w i r können im Bezirk einfach so Kritik üben; wir müssen auch so manches unter den Teppich kehren!“ - „Siehst Du“, erwiderte ich, „und genau deshalb trete ich aus Protest zurück“, und empfahl ihm, einmal den Paragraphen eins im Parteistatut der SED nachzulesen, in dem von jedem Genossen Kritik und Selbstkritik gefordert wurde.
Ich habe mich nach meinen Kräften und nach meinem Verständnis bis zur „Wende“ für den Sozialismus eingesetzt, mußte aber immer deutlicher erkennen, daß es absolut keinen Zweck hatte, wohlmeinende Kritik zu üben. Im Frühjahr 1989, als der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis unerträglich geworden war, schrieb ich an das Zentralkomitee der SED und verlangte im Interesse unserer guten Sache, zwei wissenschaftliche Mitarbeiter zu schicken, um sich einmal an der Basis die Meinungen einfacher Bürgerinnen und Burger anzuhören. Von irgendeinem Sekretär bekam ich eine kotzengrobe Antwort, die darauf hinauslief, daß sie Wichtigeres zu tun hätten. Das Ende der Geschichte ist bekannt.
Doch nichtsdestotrotz halte ich den Sozialismus für eine gute Sache, für welche die Zeit wahrscheinlich noch nicht reif war. Sozialistische Ideen lassen sich nur mit demokratischen Mehrheiten verwirklichen, welche ernsthaft wahre Demokratie, soziale Gerechtigkeit, ökologische Vernunft und Frieden wollen und aus den bitteren Erfahrungen der Geschichte gelernt haben, und zwar in vielen Völkern.
Als einfacher Bürger bin ich bemüht, durch meine aufklärerische Tätigkeit mein Scherflein dazu beizutragen, daß Frieden und Gerechtigkeit gedeihen können. Denn eine wahrhafte Demokratie - das hat mich in englischer Gefangenschaft ein schottischer Kommunist gelehrt - gedeiht umso besser, je mehr einfache Bürgerinnen und Bürger aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Dieser Gesinnung werde ich bis ans Ende meiner Tage treu bleiben, trotz alledem; selbst wenn es vergeblich sein sollte, die existentielle Bedrohung der Menschheit abzuwenden.
Mit meinen 73 Jahren bin ich ständig bemüht, durch das Studium wichtiger Bücher und Zeitschriften, durch den Besuch von Kongressen und Konferenzen dazuzulernen, um mir als Aufklärer und Humanist selbst erst einmal immer größere Klarheit über die wichtigsten Probleme unserer Zeit zu verschaffen. Was mir für alle Bürger zu wissen wichtig scheint, gestalte ich in volkstümlichen Flugblättern. Dabei bilde ich mir nicht ein, den Stein des Weisen gefunden zu haben, sondern ich halte es mit Galileo Galilei der sagte: „Ich behaupte nicht, recht zu haben, aber ich möchte wissen, ob ich recht habe.“ Und er hatte recht: Die Sonne dreht sich nicht um die Erde, sondern die Erde um die Sonne. Selbst der Papst in seiner großen Wahrheitsliebe hat Galilei nach 500 Jahren von der ewigen Verdammnis freigesprochen. Und mir scheint, daß die Globalkapitalisten, selbst wenn sie wollten, nicht in der Lage sind, die existenzgefährdenden Probleme der Menschheit zu lösen: Naturzerstörung, wachsende Arbeitslosigkeit, Armut, immer mehr Hungernde und Durstende, wachsende Brutalisierung des Lebens und Zerstörung menschlicher Werte. Und nach meinem Demokratieverständnis sollen nicht die Völker ums Goldene Kalb tanzen, sondern die Wirtschaft hat den Menschen zu dienen und nicht umgekehrt.
Man beweise mir das Gegenteil, aber bitte nicht erst nach 500 Jahren, womit ich mir nicht anmaßen möchte, mich als kleiner Mann mit Galileo Galilei zu vergleichen.
Günter Rahm
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