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Wie kurz ist die Geschichte?

 

Gezeugt in der Weimarer Republik. Geboren und die Kindheit verlebt im Faschismus. Die ganze Kraft aus Überzeugung gegeben dem Leben in der DDR. Und im Alter wieder angekommen in Kapitalismus und freier Marktwirtschaft. Wie soll man solch ein Leben in einem kurzen Text zusammenfassen?

Ich wuchs in einer Arbeiterfamilie wohlbehütet auf, bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges. Da war ich Schülerin der 2. Klasse, nach den Sommerferien ging ich den gewohnten Gang zur Schule. Alles war verändert. Männer in Uniformen liefen durch die Gänge, ich kam mir ganz klein und verloren vor. Aus meiner Schule war ein Lebensmittelamt geworden. Man hatte vergessen, uns zu informieren, daß meine Schule jetzt weit weg war. Täglich 45 Minuten hin und wieder nach Hause. Unser neuer Lehrer war aus dem Ruhestand zurückgeholt worden. Mir kam er steinalt vor. Mein Gott, dachte ich, was ist bloß geschehen. Das war, so glaube ich, das erste Mal, daß ich ahnte, daß es etwas gibt, was unser Leben beeinflußt. Nicht Gott allein, nein, Menschen mußten da im Spiele sein.

Sechs Jahre vergingen. Was wir in der Schule lernten, drehte sich meist um Siege der Nationalsozialisten, und in den Zeitungen wurden die Traueranzeigen für die gefallenen Helden immer länger. Gelernt haben wir nur wenig Nützliches. Socken mußten wir Mädchen stricken für die Soldaten an der Ostfront, und im Winter mußten wir monatelang einmal in der Woche zur Schule kommen, in eiskalten Räumen Hausaufgaben von der Tafel abschreiben, die mitgebrachten Aufgaben abgeben, und dann konnten wir wieder gehen. Als der Krieg zu Ende war, beherrschten wir weder die deutsche Sprache noch die Mathematik richtig. Physik, Chemie, Astronomie usw. waren uns völlig unbekannt.

Und dann kam der 13. Februar, der Bombenangriff auf Dresden. Die Erlebnisse machten aus mir, einem verspielten Kind, einen nachdenklichen Menschen. Ich kam zu der Erkenntnis, ein Gott, der so etwas zuläßt, kann kein lieber Gott sein. Ich wurde, ohne es zu wissen, in dieser Nacht zur Atheistin.

Es vergingen viele Tage in Angst und Schrecken, und für mich war der Tag der Befreiung vom Faschismus ein Tag, wo Angst und Bombenkelleraufenthalte ein Ende hatten. Ich erinnere mich noch an die Aufkleber an allen Wänden: „Psst. Der Feind hört mit!“ Dazu die schauderhaften Gesichter, die man als „Kommunisten“ gemalt hatte.

Eines Morgens stand in unserer Straße ein Panzer. Obenauf saß ein junger Mann in einer fremden Uniform. Er winkte uns Kindern freundlich zu und schenkte uns Schokolade. Das war etwas, an das wir uns kaum erinnern konnten. Er sagte uns, daß es für uns in der Turnhalle der Schule Lebensmittel aus Wehrmachtsbeständen gäbe. Wir liefen hin und bekamen Brot, Kondensmilch, Zucker und Trockenei-Pulver. Das waren richtige Schätze.

Einige Wochen gingen ins Land, und plötzlich hingen an den Litfaßsäulen Bilder, aufgenommen im KZ. Ich war erschüttert. Da waren Berge von toten Kindern, bis auf die Knochen abgemagerte Menschen, die sich nur mühsam auf den Beinen halten konnten.

Jetzt begann die Zeit, wo ich mir und anderen die Frage stellte: Warum das alles? Ein Kommunist in unserer Straße wurde auf mich aufmerksam und schickte mich zur ANTIFA-Jugend. Da waren noch mehr junge Menschen, meist viel älter als ich. Diese hatten ja die gleichen Probleme und Fragen wie ich. Anfangs war ich nur stiller Zuhörer, doch bald stellte ich Fragen, ich wollte alles ganz genau wissen. Ich blieb in der Gruppe, und wir gründeten gemeinsam den FDJ-Ortsverband Radebeul.

Dresden lag in Trümmern, aber es war trotz allem eine schöne Zeit. Wir gingen jeden Sonntag früh Steine klopfen. Überall häuften sich Stapel um Stapel geputzter Ziegelsteine. Mann, waren wir stolz! Wir gründeten eine Theatergruppe und spielten „Kabale und Liebe“, führten Schattenspiele, frei nach Wilhelm Busch, auf und vieles andere. Wir mußten in größeren Gruppen nach Hause gehen, denn Teile der Landjugend waren uns nicht gut gesinnt. Wir hatten manche Keilerei zu bestehen. Aber das Suchen nach dem politischen Weg, was für einen Staat brauchen wir und wie kann man Kriege vermeiden, das war doch der Hauptinhalt unseres Jugendlebens.

In diese Zeit fiel auch meine Berufswahl. Kindergärtnerin wollte ich werden. Ich ging zum Arbeitsamt. Der freundliche Herr hörte mir aufmerksam zu, nickte mit dem Kopf und ging mit mir ans Fenster. „Kindergärtnerin? Nun ja, siehst Du hier irgendwo einen Kindergarten?“ Draußen waren nur Trümmer zu sehen. „Kindergärtnerin? Das ist nicht gefragt, aber Gärtnerin finde ich gut!“ Und so hatte ich meinen Beruf und auch gleich einen Lehrbetrieb. Ein schöner Beruf. Aber leider war ich gesundheitlich nicht in der Lage, ihn auf Dauer auszuführen. So lernte ich den Beruf der Krankenschwester.

1950 stellte ich auf der Delegiertenkonferenz der SED in Dresden den Antrag, als Kandidat in die Partei aufgenommen zu werden. Es gab eine Sonderausgabe der Sächsischen Zeitung, unter anderem mit Bild und Interview von mir. Als ich abends nach Hause kam, empfing mich mein Vater mit einer Ohrfeige. Meine politische Entwicklung ging ihm zu schnell.

Mein Ehrenbürge wurde Otto Buchwitz. Ein Genosse, wie er im Buche stand, und dazu noch ein Mensch mit hohem Wissen und großer Intelligenz. Ich habe ihn wie einen Vater geliebt. Ich war ungeduldig, hätte am liebsten sofort die ganze Welt verändert und war ein so großer Idealist, daß ich einfach nicht verstehen konnte, warum nicht alle Menschen den Sozialismus als den einzig möglichen Weg für die Zukunft erkannten. Geduldig erklärte mir Otto Buchwitz, daß Menschen überzeugt werden müßten. Er warnte mich auch vor Karrieristen. Er sagte zu mir: „Der Hut eines echten Kommunisten hat viele Löcher, und nicht alle stammen vom Gegner, merke dir das gut!“ Oh, wie oft mußte ich selbst diese Erfahrung machen!

Dann ging mein Weg eigentlich ganz normal weiter, Krankenschwester, Arbeit, Heirat, drei Kinder, zwischendurch Qualifizierung ...

Trotzdem ein langer, ein erlebnisreicher Weg, der nie am Rande, sondern immer inmitten des gesellschaftlichen Lebens lag. Denn ich wollte nicht nur gute fachliche Arbeit leisten, sondern nach besten Kräften bei der Lösung aller entscheidenden Probleme mithelfen. Das kostete viel Zeit und Kraft, und manchmal schien es trotz aller gemeinsamer Anstrengungen nicht voranzugehen.

So 1957. Überall in der Republik gab es bereits Genossenschaften, nur in Radebeul bei Dresden nicht. Die Bauern weigerten sich hartnäckig, eine solche zu gründen. Wir Genossen sollten die Bauern nun endlich überzeugen. Eine schwierige Aufgabe. Wiederholte Versammlungen hatten stattgefunden - die Bauern lachten uns aus. Doch dann kam unser lieber Onkel aus Amerika. Er kam wirklich aus Argentinien, um auf der Leipziger Messe Teeverarbeitungsmaschinen einzukaufen. Nirgends in der Welt könne er sie preiswerter erhalten als in der DDR. Wir erzählten ihm von unserer Not, und er erklärte sich bereit, mit zur Versammlung zu gehen. Die Bauern staunten nicht schlecht, als der Farmer erzählte, daß sie schon längst eine Genossenschaft der Kleinfarmer hätten, um der Konkurrenz der Konzerne zu widerstehen. Viele Fragen bewegten die Bauern, es wurde sachlich diskutiert und auch darüber gesprochen, wie die LPG aufgebaut und welche Satzung sie haben müßte. Als wir uns nach mehr als vier Stunden trennten, war es geschafft. Die Genossenschaft war gegründet! Nur hatten wir viel zu wenig Beitrittsformulare mitgebracht. Trotzdem wurden alle Bauern an diesem Tag Mitglieder. Was so ein „lieber Onkel aus Amerika“ an einem Abend zuwege brachte - wir hatten schon selbst nicht mehr daran geglaubt.

Sehr deutlich erinnere ich mich an die Zeit vor dem 13. August 1961. Ich wohnte mit meiner Familie in Cottbus und arbeitete als Krankenschwester. Täglich verschwanden Ärzte, Schwestern und Hebammen über die offene Grenze nach Berlin. Der Krankenhausbetrieb konnte kaum noch aufrechterhalten werden. Ich weiß von einer Mutter, die in dieser Zeit mit ihren Zwillingen sterben mußte. Es war niemand da, der das erste Kind im Mutterleib drehen konnte. Es war eine Steißgeburt. Nach diesem Vorfall kam eine Gruppe bulgarischer Ärzte zu uns, die danach über mehrere Jahre den Krankenhausdienst versahen. Viele Leute haben heute leider schon vergessen, daß wir damals froh waren, als die „Mauer“ stand und die Republikflucht ein Ende hatte.

Später wohnte und arbeitete ich in Berlin. Nach einem Parteischulbesuch fragten mich die Genossen: „Willst Du nicht unser Parteisekretär werden?“ Spontan sagte ich: „Nein!“ Ich wurde überzeugt, doch „Ja“ zu sagen.

Nun folgte eine schwere Zeit. Ein mittleres Krankenhaus in Berlin, relativ wenige Genossen. Die meisten Chefärzte waren parteilos. Das möchte ich besonders unterstreichen, denn es wird heute immer wieder behauptet, daß nur Genossen in wichtige Positionen gelangen konnten. Ich habe in dieser Zeit viel lernen müssen. Wie funktioniert ein solcher Betrieb, wer ist bei uns bzw. im Stadtbezirk für was zuständig. Außerdem war ich plötzlich für alles zuständig, was mit politischer Bildung zu tun hatte. „Weshalb haben wir keine Exponate für die Messe der Meister von morgen? Wer hat sich nicht genügend gekümmert?“ Wer schon, die Parteisekretärin. Klappte es nicht mit den Schulen der sozialistischen Arbeit - wer hatte den Ärger neben dem BGL-Vorsitzenden? Die Parteisekretärin natürlich. Ich hatte eine viel zu dünne Haut. Manchen Abend habe ich im Bett geheult, es sollte ja keiner sehen.

Dazu kamen die ellenlangen Berichte. Als der Ärztliche Direktor und ich wieder einmal über einem solchen Bericht saßen, fragte ich, als wir so bei Seite 50 angelangt waren: „Sag mal, wer liest das eigentlich alles, wer hat denn so viel Zeit?“ Darauf diktierte mir mein „ÄD“ mitten im Bericht: „Absatz. Nur, warum wir die im 1. Quartal bestellten lilafarbenen Toilettenbrillen nicht erhalten haben, ist uns unverständlich!“ Dann ging der Bericht normal weiter. Es hat uns nie jemand gefragt, warum die Toilettenbrillen lila sein sollten. Also hatte niemand bis zur Seite 50 gelesen. Von da ab haben wir nur noch Kurzberichte geschrieben und bekommen, was wir brauchten.

Es waren acht schwierige Jahre, aber ich habe viel gelernt. Besonders an meinen Charaktereigenschaften mußte ich arbeiten. Geduld, Beharrlichkeit, Überzeugungskraft, Ausdauer, Menschenkenntnis und Vertrauen zu den Menschen, das alles habe ich mir damals angeeignet. Heute denke ich gern an diese Zelt zurück. Als die Stadtbezirke Berlin-Marzahn und Hellersdorf gebaut wurden, war uns klar, daß unser Krankenhaus bald zu klein sein würde. Wir begannen zu überlegen, wie man mit relativ wenig Mitteln das Krankenhaus Berlin-Kaulsdorf um- bzw. ausbauen könnte. Nachdem dieser Gedanke dann auch den Amtsärzten in den Rathäusern kam, hatten wir die Pläne schon fix und fertig. Schnell konnten dann unsere Vorschläge umgesetzt werden, alles wurde fast so gebaut, wie wir es vorgeschlagen hatten.

Nun bin ich Rentnerin und in der freien Marktwirtschaft angekommen. Ich bin zwar traurig, daß es so ist. Doch ich bin davon überzeugt, daß der Gedanke und das Ziel Sozialismus und Kommunismus in den Köpfen und Herzen erhalten bleiben werden. Die nächsten Generationen werden aus unseren Fehlern lernen und es besser machen. Egal, wie die Gesellschaftsordnung einmal genannt wird: Eine Teilung der Welt und Gesellschaft in arm und reich wird beseitigt werden. Davon bin ich überzeugt.

Christa Nikusch 


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