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Vom hohen Wert gesellschaftlicher Gerichte

 Auf dem Gebiet der Rechtsprechung ging die DDR völlig neue Wege mit der Einrichtung der gesellschaftlichen Gerichte, den Konfliktkommissionen in den Betrieben und den Schiedskommissionen in den Wohngebieten. Die Mitglieder dieser Kommissionen wurden in den Betrieben unter Anleitung der Gewerkschaft von den Belegschaften aus ihrer Mitte gewählt. Für die Vorbereitung der Wahl der Mitglieder der Schiedskommissionen waren die WBA (Wohnbezirksausschüsse der Nationalen Front) verantwortlich, die diese Laienrichter aus den Einwohnern des Wohngebietes zur Wahl vorschlugen. Die Wahl selbst erfolgte durch die Volksvertretungen auf Stadt- und Gemeindeebene. Die Mitglieder der Kommissionen wurden regelmäßig von den Juristen der zuständigen Kreisgerichte geschult, und ihre Beschlüsse unterlagen der Kontrolle der zuständigen Gerichte. Einsprüche gegen die Beschlüsse der gesellschaftlichen Gerichte wurden von den ordentlichen Gerichten verhandelt.

Die Mitglieder der gesellschaftlichen Gerichte wohnten bzw. arbeiteten in den Bereichen, für die sie zuständig waren, und urteilten als gleiche unter gleichen. Sie konnten dadurch erzieherisch wirken und waren nicht unbedingt auf die Verhängung von Bußen angewiesen. Alle Beratungen waren öffentlich. Dies wirkte erzieherisch viel tiefgreifender als vor einem anonymen Gericht, und wir hatten gelegentlich die Erfahrung, daß ein Beschuldigter darum bat, sich lieber vor einem ordentlichen als vor einem gesellschaftlichen Gericht verantworten zu dürfen (obwohl das ordentliche Gericht härtere Strafen verhängen durfte, als dies dem gesellschaftlichen Gericht gestattet war).

In unserer Praxis - ich war Vorsitzender erst einer Konfliktkommission und dann einer Schiedskommission - hatten wir solche Fälle zu beraten wie einfache zivile Streitigkeiten mit begrenztem Streitwert, Beleidigungen und Verleumdungen sowie geringfügige Straftaten, die von der Staatsanwaltschaft an unsere Kommission übergeben wurden. Dazu gehörten Schulbummelei, körperliche Angriffe geringer Intensität sowie Vergehen gegen persönliches Eigentum.

Die Konfliktkommission, der ich im Betrieb (einem Teilbereich der Karl Marx-Universität Leipzig) vorstand, mußte sich u. a. mit dem unmittelbaren Vorgesetzten wie auch mit dem Rektor auseinandersetzen, wobei es auch manchmal zu Differenzen mit den vorgesetzten Gremien der SED kam. Es gab Mitglieder der Kommissionen, die die Auseinandersetzung mit den genannten Stellen scheuten, aber im Endeffekt setzte sich die Kommission intern mit solchen Auffassungen auseinander und beriet ohne Ansehen der Person bzw. der Autoritäten über alle gestellten Anträge. Es war nicht immer leicht, einen Beschluß gegen die Vorgesetzten im Betrieb durchzusetzen, aber es ist mir kein Fall bekannt, wo wir uns nicht hätten durchsetzen können.

Ein Beispiel dafür, wie die Autorität der Schiedskommission im Wohngebiet geachtet wurde: Ein Jugendlicher hatte sich gegen die Gesetze vergangen und war durch Beschluß der Schiedskommission zu einer Geldbuße verurteilt worden. Als Lehrling verfügte er nur über sein Lehrlingsentgelt, seine Familie konnte ihn nur wenig unterstützen. Er beantragte deshalb, die Buße in Raten zahlen zu dürfen. Daraufhin erboten sich die Mieter seines Wohnhauses, die Buße für ihn zu zahlen, und übernahmen damit sozusagen die Bürgschaft für sein weiteres Verhalten. Die erzieherische Wirkung war durchschlagend. Der Jugendliche kam nicht mehr mit dem Gesetz in Konflikt, weil er sonst das Vertrauen seiner Hausgenossen enttäuscht hätte.

Als wir gegen einen Trinker, der nicht bereit war, einer geregelten Arbeit nachzugehen, wegen körperlicher Angriffe auf eine alte Bürgerin eine Geldbuße verhängten setzten wir uns gegen das Gericht durch, das die Verhängung der Geldbuße gegen einen mittellosen Bürger als zu hart betrachtete. Unsere Schiedskommission war nicht bereit anzuerkennen, daß ein Bürger ohne Buße davonkommen sollte, nur weil er durch eigenes Verschulden mittellos war und das Geld, das er z. B. durch den Verkauf von Pfandflaschen erwarb, in Alkohol umsetzte. Unser Beschluß blieb bestehen, und der Trinker unterzog sich einer Entziehungskur.

Tatkräftige Unterstützung erhielten wir durch unseren ABV (Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei), der alle Bürger in seinem Bereich kannte und stets bereit war, ihnen in Zeiten von Schwierigkeiten zu helfen. Hier war wirklich die Polizei Freund und Helfer.

Die Arbeit der gesellschaftlichen Gerichte genoß auch im Ausland Interesse und Ansehen. So bat z. B. eine Delegation österreichischer Kommunalpolitiker, die der Stadt Leipzig einen Besuch abstattete, an einer Beratung einer Schiedskommission teilnehmen zu dürfen. Dazu war unsere Kommission ausgewählt worden. Leider kam dies nicht zustande, weil für den betreffenden Tag bei uns keine Anträge eingingen, und so erhielt eine andere Kommission österreichischen Besuch.

Die Tätigkeit der gesellschaftlichen Gerichte trug bedeutend zur Entlastung der ordentlichen Gerichte bei und ermöglichte es den Bürgern, sich ohne finanzielle Belastung und unproblematisch ihr Recht zu suchen. Es genügte ein formloser Antrag, um eine Beratung vor diesen Gerichten herbeizuführen. Rechtsanwälte waren dazu weder nötig, noch waren sie zu den Beratungen als Rechtsbeistand zugelassen. Häufig kannten sich alle Teilnehmer an den Beratungen persönlich, und es kam vielfach zu kameradschaftlichen Aussprachen, soweit nicht ernstere Vergehen einen strengeren Ton erforderten.

Nach 1990 ging diese demokratische Errungenschaft der DDR unwiederbringlich verloren - ein Verlust, der sich in der Folge sehr nachteilig für die Bürger und für die ordentlichen Gerichte bemerkbar machte. Nutzen durch die für die ehemaligen DDR-Bürger neue Lage haben nur die Rechtsanwälte.

Es wird nun versucht, durch Schiedsgerichte bzw. Schiedsleute etwas Ähnliches aufzubauen. Diese Schiedsgerichte werden jedoch nur gegen Bezahlung tätig und haben aufgrund der geänderten gesellschaftlichen Verhältnisse nur geringe Einflußmöglichkeiten. Hier zeigt sich deutlich ein wesentlicher Unterschied auf dem Gebiet der Rechtsprechung zwischen der DDR sowie der alten und neuen Bundesrepublik.

Dr. Günter Lewin 


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