vorhergehender Beitrag

Inhaltsverzeichnis

nächster Beitrag


Ein beseitigter Grabstein

(Rathenow)

 

Das Foto zeigt einen schlichten, fast quadratischen Stein auf einem Rathenower Familiengrab. Er wurde im Jahr 1953 gesetzt und trug folgende Inschriften:

 

Wilhelm Hagedorn

geb. 11.7.1894 ermordet 17.6.1953

Menschen, ich hatte Euch lieb. Seid wachsam !

Fucik

Helene Hagedorn 1904-1968

 

Von den örtlichen Behörden wurde er im Jahre 1997 als „Stein des Anstoßes" und unerwünschtes „Politikum" entfernt. Er sollte durch irgendeine Tafel ersetzt werden. Wie man dazu mitteilte, hatte das Landratsamt zuvor einen Berliner Universitätsprofessor zu Rate gezogen. Der wies zwar daraufhin, daß Grabsteine grundsätzlich nicht entfernt werden sollten, „auch wenn man mit den Entstehungsbedingungen nicht einverstanden ist", andererseits „... sei Hagedorn aber ein offensichtlicher politischer Verbrecher", hier falle die Gedenkfunktion des Grabsteines schon deshalb weg. Der in letzter Instanz für die Beseitigung des Steins verantwortliche Chef der Denkmalschutzbehörde des Kreises verband seine ungewöhnliche Entscheidung mit dem Ratschlag, begleitend in den Schulen und Medien über „Totalitarismus und Gewaltherrschaft im Havelland" zu diskutieren.

Was geschah am 17. Juni 1953 in Rathenow?

Die „Märkische Allgemeine Zeitung" (MAZ) druckte am 15.6.1996 eine Beschreibung des Lynchmordes an Wilhelm Hagedorn ab, die 1953 in der sogenannten „Havelzeitung" (BRD) veröffentlicht wurde. Zunächst einige Auszüge daraus:

„Heute früh, ungefähr um neun Uhr, fing es an. Die Mittelstraße herunter kamen Arbeiter und Angestellte, die Molkereiangestellten schlossen sich an. Durch die Goethestraße (Jägerstraße) kam eine Schlange, die ganze Belegschaft von ROW marschierte den Ring herum, überall schlössen sich andere an. Wo die Torwege abgeschlossen waren, wurden sie überklettert oder eingedrückt. Auch das ganze Personal vom Reißverschlußwerk kam dazu. Ruhlandwerk hatte auch abgeschlossen, wurde gewaltsam geöffnet. Gegen Mittag bemerkte ich in der Mittelstraße ein auffälliges Gedränge. Alles stand voll, von Ketscher bis zur Stalinallee (Berliner Straße). Die Aufregung war aber auf dem Molkereihof, da waren sie sogar auf die dort stehenden Autos geklettert. Und alles drängte nach der Treppe, die rechts hinten in der Ecke von außen in das obere Stockwerk führt. Plötzlich flutet alles zurück, und da sehe ich einen Mann, gut angezogen, in der Mitte laufen, das ganze Gesicht von Blut überströmt, aber sonst glatt laufend. Dann haben sie ihn in den Kanal geworfen und, als er ans andere Ufer geschwommen war, zurückgezogen (sie waren mit einem Kahn hinterher). Nach abermaligem Schwimmen haben ihn dann ein Polizist (die sich sonst um gar nichts gekümmert haben) und ein Russe mitgenommen, Richtung Neue Schleuse oder Jederitzer Straße, wahrscheinlich Krankenhaus. Es ist ein gewisser Hagedorn, der 300 oder 360 Menschen auf dem Gewissen hat, die er zum Teil ins KZ, zum Teil langjährig ins Zuchthaus gebracht hat". - Ein anderer Bericht lautet: „Hagedorn wurde von einem im Demonstrationszug mitlaufenden Jungen erkannt, als er versuchte, sich unbemerkt zu verziehen. Der Junge sprang aus dem Glied und rief: 'Der da ist der Mann, der meine Eltern ins Zuchthaus gebracht hat!' Nachdem Hagedorn verprügelt worden war, warfen die Demonstranten ihn kurzerhand in die Havel, aus der er von Vopos wieder herausgefischt wurde."

In der gleichen Veröffentlichung wird Hagedorn als „Chef der Rathenower Dienststelle des Staatssicherheitsdienstes" bezeichnet.

Dr. Rainer Hildebrandt1 ergänzt die Darstellung der beabsichtigten Ertränkung Hagedorns durch detailgetreue Schilderung eines zusätzlichen Strangulierungsversuchs. Hagedorn sei mit gebrochener Nase und Schlüsselbeinbruch, Schädelbruch und schweren inneren Verletzungen in das Rathenower Kreiskrankenhaus eingeliefert worden.

In einer wissenschaftlichen Veröffentlichung heißt es. „ Eine in Rathenow über viele Jahre eifrig ausgeübte und offenbar stadtbekannte Spitzel- und Denunziantentätigkeit kostete im bekanntesten der Lynchfälle Wilhelm Hagedorn das Leben. Der SED-Bericht vermerkte laufbahngerecht: Vor seinem Tod im Krankenhaus konnte er die Haupttäter noch angeben .. ."2

Wer war und was verschuldete Wilhelm Hagedorn?

Wohl selten wurde ein Mensch noch mehrere Jahrzehnte nach seinem Tod mit einer derartigen Mischung von Haß, Häme und Zynismus überschüttet. Aber offenbar sollen damit nicht nur ein Lynchmord und die Schändung einer Grabstätte gerechtfertigt, sondern mittels der Person Hagedorns der sogenannte „Unrechtsstaat" DDR samt SED und „Stasi" an den Pranger gestellt werden. Das Wesentliche gerät dabei in mehr als einer Hinsicht aus dem Blickfeld, beispielsweise, daß Lynchmord - gleich aus welchen Motiven er begangen wurde - in jeder zivilisierten Gesellschaft ein verabscheuungswürdiges Verbrechen, der Getötete zweifelsfrei ein Mordopfer ist. Und obwohl Wilhelm Hagedorn niemals Mitarbeiter oder gar Chef des Rathenower Staatssicherheitsdienstes war, suggeriert die verantwortungslose Verleumdungskampagne gegen ihn, daß die Verfolgung und sogar Tötung von „Stasi-Spitzeln und Denunzianten" irgendwie verständlich und moralisch berechtigt sei.

Zum Zeitpunkt seines Todes war Wilhelm Hagedorn als Betriebsschutzangehöriger und unmittelbar nach dem Krieg als Volkspolizist und Kriminalist - vor allem zur Durchsetzung des Befehls 201 der Sowjetische Militäradministration - tätig. Heute wird gern „übersehen", daß nicht nur die Sowjetunion, sondern auch der Alliierte Kontrollrat mit den Direktiven Nr. 24 und Nr. 38 Festlegungen für die Entnazifizierung als Voraussetzung für einen antifaschistisch-demokratischen Neuanfang in Deutschland getroffen hatten Ein Auftrag, dem sich seinerzeit selbst die westlichen Alliierten erklärtermaßen nochmals mit Strenge stellen wollten, nachdem sie zuvor an der deutschen Zivilbevölkerung bereits durch erbarmungslose Bombenangriffe Vergeltung geübt hatten

Unstrittig gab es in diesem Zusammenhang auch in der ersten Nachkriegszeit noch manches unverschuldete tragische deutsche Schicksal, und die Gefühle dieser Men sehen sowie die anhaltende Trauer von Hinterbliebenen sind zu respektieren. Allerdings konnte man nach mehr als fünfzig Jahren von den ehrlichen unter ihnen erwarten, daß subjektive Haß- und Rachegefühle in den Hintergrund treten und sie sich nicht zu gefährlichen politischen Scharlatanerien mißbrauchen lassen.

Vor der Beseitigung des Grabsteines führte die „MAZ" mit einseitig-tendenziösen Artikeln zum 17 Juni 1953 sowie mit Hilfe geeigneter (auch westdeutscher) Leserbriefe eine zielgerichtete Kampagne gegen Hagedorn Dagegen verzichteten sie und selbst die verantwortlichen Staatsorgane weitgehend auf Vermittlung der notwendigen Denkanstoße, um zu Ursache und Wirkung, d h. zum historischen Kern der Kriegs- und Nachkriegsereignisse vorzudringen Aber ohne den vorangegangenen deutschen Eroberungs- und Ausrottungsfeldzug hatten weder Abermillionen unschuldiger Menschen ihr Leben lassen müssen - auch jene 300 Sowjetsoldaten nicht, die für die Befreiung Rathenows fielen - noch hatte es jemals eine sowjetische oder andere Besatzungsmacht in Deutschland gegeben. Und auch Wilhelm Hagedorns Leben sowie das seiner „Opfer" wäre in anderen Bahnen verlaufen.

Mit der gegenwärtigen Meinungsmanipulation tritt man in die Fußstapfen jener Politiker, Geheimdienste, Medien und Sabotagezentralen, die in der psychologischen Kriegführung gegen die DDR vor nichts zurückschreckten und erwiesenermaßen auch den „Fall Hagedorn" provozierten. Denn laut Mitteilung der „MAZ" machte der Westberliner RIAS bereits 1951 in einer Spitzenmeldung auf Hagedorn aufmerksam, und Alt-Rathenower konnten sich daran erinnern, daß dieser Sender ihn auch im Juni 1953 ins Visier genommen hatte. Dazu stimmt ein aktenkundiger Vermerk, der laut „MAZ" im Karteiblatt des Westberliner „Untersuchungsausschusses freiheitlicher Juristen" (UfJ) nur vier Tage vor Hagedorns Tod, eingetragen wurde Denn unstrittig war die enge Verbandelung des RIAS mit diesem UfJ, dem amerikanischen Geheimdienst CIA sowie der wegen ihrer üblen Methoden besonders berüchtigten Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) - u a. in Person eines Herrn Dr. Birkenfeld - jederzeit gewährleistet.

Rathenow hatte damals mehr als 30.000 Einwohner, von denen Hunderte oder Tausende der grausigen Tat aufgeputschter Jugendlicher nicht nur tatenlos, sondern sogar billigend beiwohnten, undenkbar, daß es sich dabei auch nur zum Teil um Hagedorn's angebliche „Opfer" gehandelt haben sollte Es kann kein Zweifel bestehen, daß dieses unentschuldbare Verhalten primär auf die Hetze westlicher Medien zurückzuführen war. Ein schlimmer Posten also auf dem Schuldkonto des RIAS und ähnlicher Institutionen, die im Namen von Freiheit und Humanität zu handeln vorgaben'

Der „Fall Hagedorn" findet in zahlreichen wissenschaftlichen Abhandlungen über den 17 Juni 1953 Erwähnung. Allerdings läßt die Wortwahl meist keinen Zweifel daran, daß der „Volkszorn" Wilhelm Hagedorn und andere DDR-Funktionäre zu Recht ereilt hat Die „Aufständischen" werden generell brutal mißhandelt und gefoltert. Dagegen verdreschen, verprügeln oder hauen sie ihre verhaßten Gegner allenfalls - wenn auch fast oder ganz zu Tode.

Der Anführer der Rathenower Ereignisse des 17. Juni 1953 wird in der „MAZ" unter Zugrundelegung einer Veröffentlichung der „Märkischen Volksstimme" (DDR) namentlich benannt und soll Mitglied der SA sowie führender Funktionär des Reichsluftschutzbundes in Rathenow gewesen sein. Offenbar entging er der Verhaftung, indem er sich rechtzeitig nach dem Westen absetzte. Als Haupttäter des Lynchmordes wurden zwei Jugendliche ermittelt, deren Namen die „MAZ" nicht erwähnt Die zunächst vom Bezirksgericht Potsdam gegen sie verhängten Todesurteile wurden vom Obersten Gericht der DDR in 15jähnge Zuchthausstrafen umgewandelt, da nach dessen Auffassung „die erzieherischen Kräfte der demokratischen Ordnung bei den Angeklagten noch wirksam werden" konnten.

Nur eine Frage von vielen, die sich aufdrängen: sind sie wirksam geworden oder fühlen sich die inzwischen etwa 65- bis 70jährigen, sofern sie noch leben, seit der „Wende" als die eigentlichen „Opfer"? Verwunderlich wäre es nicht, nachdem die Debatte darüber, wie mit Hagedorns Andenken zu verfahren sei, in der „MAZ" beschämend einseitig verlief und die zuständigen Staatsorgane flugs eine „Lex Hagedorn" schufen, d. h. zur Schändung seiner Familiengrabstätte erklärtermaßen die allgemeingültigen Rechts- und Verhaltensnormen beugten.

Doch immerhin gibt es ja noch die famose Empfehlung, in den Schulen und Medien über „Totalitarismus und Gewaltherrschaft im Havelland" zu diskutieren ... Allerdings wird man verstehen, daß mir beim Gedanken daran keineswegs wohler wird - im Gegenteil. Denn welche Lehren, so darf man doch fragen, haben jene denn gezogen, die den Lynchmord an Wilhelm Hagedorn nachträglich de facto rechtfertigen? Wie wollen sie jungen Menschen ein Gefühl für Ethik und Moral, Recht und Gesetz vermitteln, da sie selbst damit nach politischem Gutdünken umspringen? In welches ihrer Schubfächer gedenken sie das Leben und Sterben Wilhelm Hagedorns einzuordnen? Opfer? Täter? Leider haben sie die letzten Fragen bereits durch ihr Handeln beantwortet.

Zweifellos gehörte und gehört Wilhelm Hagedorn zu den zahllosen Opfern massiver antikommunistischer Hetze. Auch andere Beispiele zeigen, daß diese unheilvolle Traditionslinie im sogenannten freiheitlich-demokratischen deutschen Rechtsstaat ungebrochen weiterlebt. So brachte erst im Jahre 1998 ein Altbundesbürger in der „Märkischen Oderzeitung" seine Empörung darüber zum Ausdruck, daß in so manchem Dorf des Oderbruchs noch immer Straßen nach solchen „erwiesenermaßen politischen Verbrechern" wie Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Ernst Thälmann usw. benannt sind. Ein purer Zufall, daß Worte und Windrichtung denen des geschilderten Feldzuges gegen den „Grabstein Hagedorn" gleichen?!

Eigentlich bin ich davon überzeugt, daß auch die Rathenower nicht auf Dauer mit politisch motivierten Geschichtsfälschungen vorliebnehmen werden. Immerhin wurde selbst in der „MAZ" bereits die unter dem 27.8.1997 datierte Zuschrift eines Lesers veröffentlicht, der sich inmitten der üblen Kampagne gegen Hagedorn dafür einsetzte, dem Toten seine Ruhe zu lassen.

Ein selbstverständlicher Akt der Humanität, sollte man denken. Aber: Rathenow liegt in Brandenburg, dessen Bürger sich bei den Bundestagswahlen 1998 immerhin zu mehr als 5 % für neonazistische Parteien entschieden. Die letzten Worte von Julius Fucik sind heute leider aktueller als je zu DDR-Zeiten: Seid wachsam!

Johanna Zimmermann


1 Rainer Hildebrandt: Der 17. Juni. 1983 by Verlag Haus am Checkpoint Charlie

2 Manfred Hagen   DDR-Juni'53 Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1992


vorhergehender Beitrag

Inhaltsverzeichnis

nächster Beitrag