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Stahl,
Kaffee und Zigaretten
(Eisenhüttenstadt, Strausberg)
So erlebte ich den 17. Juni 1953: Wir saßen in einem Klassenzimmer in Frankfurt/O. Wir, das waren junge Menschen, die den Krieg mit seinem Grauen erlebt, denen die Nationalsozialisten ihre Jugend gestohlen und sie in den faschistischen Eroberungskrieg getrieben hatten. Unsere Augen waren sehend geworden und die Ohren hörend. „Auf daß nie wieder von deutschem Boden ein Krieg ausgehe und nie wieder eine Mutter ihren Sohn beweinen muß." Dafür wollten wir leben. Zu unserem Klassenverband gehörten bürgerliche sowie Arbeiter- und Bauernkinder.
An diesem Morgen des 17. Juni 1953 kam unsere Lehrerin aus Stalinstadt (heute Eisenhüttenstadt) in die Klasse und berichtete: in mehreren Teilen der DDR und auch in Stalinstadt sind Leute unterwegs, die zum Streik aufrufen, in Betrieben und Dienststellen Einlaß fordern und Gewalt anzuwenden beginnen. So sind auch in Stalinstadt Leute aufgetaucht, die Kioske anstecken, Autos umkippen und in Brand setzen. Sie versuchen auch die Anlagen unseres neuen Stahlwerkes zu zerstören. „Wir brauchen eure Hilfe. Sprecht mit diesen Leuten. Man kann doch keine Arbeitsstätten, Häuser und Lebensmittel zerstören."
Wir standen auf- alle, obwohl die meisten von uns Frauen waren. Wir glaubten an die Vernunft, denn dieses Stahlwerk wurde dringend gebraucht: zum Stahlschmelzen, um Kochtöpfe und andere Gebrauchsgegenstände für Haushalt und Wirtschaft herstellen zu können. Wir wußten, das Gebiet der DDR war zu einem großen Teil Agrarland. Es gab zwar auch verarbeitende, aber wenig Grundstoffindustrie. Deren Hochburgen waren in den Westzonen angesiedelt. Stalinstadt und sein Hochofen, an der Oder/Neiße im Waldgebiet erbaut, waren eine bittere Notwendigkeit. Russisches Erz und polnische Kohle, auf billigen Wasserwegen herangeschafft, ergaben in Verbindung mit deutscher Weiterverarbeitung eine nützliche Troika für alle beteiligten Völker. Von den westlichen „Brüdern und Schwestern" bekamen wir in der Regel nichts und wenn, dann unter unzumutbaren Bedingungen.
In Stalinstadt schlugen einige Arbeiter bei unserem Anblick allerdings die Hände über dem Kopf zusammen: „Sprechen wollt ihr mit denen? Die versuchen eben, die Sinteranlage zu zerstören. Aber die wird von einer Jugendbrigade verteidigt. Hier werden keine Menschen mit viel Grütze im Kopf gebraucht, sondern vor allem welche mit viel Muskeln." Danach fuhren wir in unsere Heimatstädte zurück.
Von meinen Kollegen in Strausberg erfuhr ich, daß Berufsschüler Bilder von den Wänden zu reißen versucht hatten, wobei Karl Marx in Trümmer ging. Sonst verlief m Strausberg nach meiner Erinnerung alles ruhig. Allerdings hörte ich von Ausschreitungen in anderen Orten, beispielsweise durch einen glaubwürdigen Bekannten von der brutalen Mißhandlung eines Schuldirektors, welche an Nazigreuel erinnerte.
Manchmal konnte man sich auch dann ein Bild vom Charakter der Ereignisse machen, wenn man nicht selbst dabeigewesen war. So erinnert sich einer unserer Strausberger Bekannten noch heute daran, daß zwei seiner Schüler am Nachmittag des 17. Juni verspätet zur Arbeitsgemeinschaft Sport erschienen. Vater bzw. Bruder, die als Maurer in Berlin arbeiteten, hätten Kaffeepäckchen, Zigaretten und Schnaps nach Hause gebracht. Wobei sie erzählten, daß die Bauarbeiter in Berlin gegen die DDR demonstrierten, Geschäfte demolierten und Waren stahlen. Sie selbst hätten das am Potsdamer Platz miterlebt, wo das HO-Geschäft in Brand gesetzt worden sei.
Ilse Wendler
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