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Langsame Mühlen und rasche Erfolge

(Eisenhüttenstadt)

 

Mein Mann Erich Bunke und ich waren beide Kommunisten und Mitglieder der antifaschistischen Widerstandsgruppe „Kurt Steffelbauer", die aus kommunistischen, sozialdemokratischen und parteilosen Lehrern bestand. Wir wurden von der Gestapo verfolgt und emigrierten 1935 mit einem sechs Monate alten Baby nach Buenos Aires/ Argentinien. Da wir dort Mitglieder der ebenfalls verbotenen und verfolgten Kommunistischen Partei Argentiniens waren, wurde meinem Mann nach Kriegsende der Ausreisepaß verweigert, und wir konnten erst im Juli 1952 in die DDR zurückkehren.

Von den Genossen des Zentralkomitees in Berlin befragt, war es unser ausdrücklicher Wunsch, in die Wohnstadt des Eisenhüttenkombinates Ost zu gehen, um sieben Jahre nach 1945 auch von „Null" aus zu beginnen, den Sozialismus aufbauen zu helfen und damit unseren ersehnten Wunschtraum zu verwirklichen. Damals bestand die Stadt aus fünf Wohnblöcken und der im Bau befindlichen Schule.

Nach einem sechsmonatigen Intermezzo als Russischlehrerin an der ersten Zehnklassenschule und beim weiterführenden Fernstudium im Lehrerbildungsinstitut Neuzelle wurde ich im April 1953 die vierzehnte Mitarbeiterin des zwei Monate zuvor gegründeten Rates der Stadt Stalinstadt, wo ich nach dem im Juli gleichen Jahres bestandenem Lehrerexamen das Referat für Jugendhilfe und Heimerziehung übernahm. Da Russisch meine Muttersprache ist (ich wurde 1911 in Odessa geboren), fungierte ich bei bestimmten Anlässen auch ehrenamtlich als Dolmetscherin für den sowjetischen Stadtkommandanten von Fürstenberg/Oder. Im Juni 1953 wurde ich außerdem zur BGL-Vorsitzenden gewählt.

Täglich las ich aufmerksam das „Neue Deutschland", in dem es immer wieder hieß: »Nur in Westdeutschland steigen dauernd die Preise. Dagegen bleiben die Preise in der DDR stabil oder werden gesenkt." Bis dahin hatte das auch gestimmt, und deshalb glaubten wir fest daran Dann aber erschien eine schlimme Mitteilung, wegen Streichung der bisherigen Subventionen mußten die Preise für Zucker sowie alle zuckerhaltigen Produkte erhöht werden Auch die Arbeiterwochenkarten für die Eisenbahn sollten sich verteuern Außerdem sei es notwendig, die Arbeitsnormen zu steigern.

Da die Arbeiter des EKO größtenteils von weither kamen, mußten die beiden letzten Punkte sie besonders empfindlich treffen „Das kann doch nicht richtig sein", war meine Überzeugung, die ich auch mit meinem Abteilungsleiter diskutierte Er versuchte mich zu überzeugen Ich widersprach und verstummte schließlich betroffen Bisher hatten die Veröffentlichungen des „Neuen Deutschland" stets mit meinen Vorstellungen vom Aufbau der besseren Gesellschaft übereingestimmt (abgesehen von der wörtlichen Übernahme jeder „Prawda"-Äußerung zur Person Stalins. Diesen fast komisch wirkenden Personenkult hatten wir in Argentinien nicht gekannt)

Der 17 Juni 1953 begann für mich ganz friedlich. Unser Oberbürgermeister nahm, soweit ich mich erinnere, an einer Weiterbildungsmaßnahme in Potsdam-Babelsberg teil, und sein Stellvertreter sollte vor EKO-Arbeitern über die Notwendigkeit der Normerhöhung reden. Ich selbst hatte eine Besprechung beim Referat Jugendhilfe/Heimerziehung des Rates des Kreises Fürstenberg/Oder, das in einem Gebäude abseits der Hauptstraße untergebracht war Deshalb erfuhr ich erst gegen 14 Uhr nach Rückkehr zu meiner Arbeitsstelle, daß es Unruhen gegeben habe und inzwischen alle Geschäfte, die alkoholische Getränke verkauften, geschlossen worden seien (Viel zu spät, da hatten sich die entsprechenden Leute nämlich schon reichlich versorgt.)

Da einige Lehrer im Auftrag der Partei mit den Massen mitgezogen waren, erfuhren wir am Abend, was sich abgespielt hatte. Aus der Barackenstadt „Helmut Just" des VEB Bau-Union, in der meines Wissens damals rd. 5 000 Bauarbeiter wohnten, waren gegen 10 Uhr etwa 1.000 Mann nach Fürstenberg/Oder marschiert. Sie hatten die dortige Kreisleitung der SED gestürmt und die Leninbüste sowie Akten auf die Straße geworfen. Fakt ist, daß sie zuvor von mehreren, erst wenige Tage zuvor eingestellten, Leuten aufgeputscht und mit vielen großzügig spendierten Kasten Bier richtig in Stimmung gebracht worden waren Da sich der VEB Bau-Union in Terminnot befand, mußte er die Anzahl der Beschäftigten auf der Großbaustelle EKO in kurzer Zeit von 5 000 auf 8 000 erhöhen und nahm ohne Überprüfung jeden, der sich im Baubüro meldete Auf solche Weise war die gezielte Einschleusung von Agenten ein Kinderspiel. Wie ortsunkundig diese waren, zeigte sich daran, daß sie die aufgeputschten Bauarbeiter nach Fürstenberg/Oder führten, obwohl sie auf dem Weg dorthin unmittelbar an der SED-Kreisleitung Stalinstadt vorbeikamen. Als einige von ihnen am selben Tage festgenommen wurden, hatten sie prallgefüllte Geldbörsen mit DDR-Mark und DM bei sich.

Auf dem Marktplatz von Fürstenberg/Oder ging alles sehr schnell zu Ende, nachdem mehrere sowjetische Jeeps erschienen. Die Soldaten saßen ab, umzingelten die Menschenmenge und bewegten ihre Waffen unmißverständlich im Halbkreis Nach ca. 10 Minuten hatte sich der Platz geleert.

Der größte Teil der Bauarbeiter (rd. 4.000) war am 17 Juni der Arbeit fern- und demonstrativ in der Barackenstadt geblieben. Auf dem Bau erschienen nur die Lehrlinge vom Lehrkombinat des VEB Bau-Union. Sie wurden vom damaligen FDJ-Sekretär Sigi Graupner geleitet Er war ein sehr bekannter FDJ-Aktivist, der - beginnend mit dem Talsperrenbau Sosa, dem Aufbau von Stalinstadt, Schwarze Pumpe und Schwedt bis hin zum Atomkraftwerk Greifswald - stets eine hervorragende Arbeit unter der Jugend geleistet hat.

In der folgenden Nacht wurde ich gegen 2 Uhr von unserem Abteilungsleiter für Inneres durch Rufen geweckt (Telefon gab es in den Neubauten noch nicht) und mit dem Motorrad in die SED-Kreisleitung Stalinstadt gebracht, weil ich als Dolmetscherin für den Stadtkommandanten von Fürstenberg/Oder fungieren sollte.

Die Lage an den Hochöfen war ernst, denn eine ziemlich große Gruppe Bauarbeiter aus der Barackenstadt des EKO drohte, die Anlagen zu stürmen. Die Schmelzer verteidigten sich und drohten ihrerseits: jeder, der die Hochofenbühne zu betreten wage, wurde mit glühendem Stahl übergossen. Eine wirklich schwierige Situation.

Der zu Hilfe gerufene sowjetische Kommandant aus Fürstenberg traf ein, wurde informiert und versprach, in etwa 40 Minuten mit einigen Geschützen (er nannte sie „apparatiki" - d h. „Apparatchen") wiederzukommen. Nach seiner Rückkehr sagte er: „Sie können durch die Baume die apparatiki sehen, die wir dort aufgestellt haben Lassen Sie durch Lautsprecher bekanntgeben, daß sie in Aktion treten, wenn sich die Arbeiter nicht innerhalb von zehn Minuten in die Baracken zurückziehen." Die Bekanntmachung ertönte im Lautsprecher, und innerhalb weniger Minuten war der Platz vor den Hochöfen leer. Vorsichtshalber blieben die Geschütze noch für einige Zeit stehen, aber es fiel kein Schuß.

Wie es sich gehört, arbeitete ich trotz der durchwachten Nacht am Morgen des 18. Juni im Rat der Stadt. Gegen 12 Uhr fragte ein sowjetischer Offizier nach mir, der Dolmetscherin Es ging um die Übersetzung einer Bekanntmachung folgenden Inhalts, die danach tagelang über Lautsprecher in Stalinstadt, Fürstenberg/Oder, im EKO und in den beiden Barackenstädten verbreitet wurde:

1. Sperrstunde von abends 22 Uhr bis 6 Uhr morgens

2 Jeder Arbeiter hat bei der Einlaßkontrolle ins Werk neben seinem Arbeitsausweis auch den Personalausweis vorzuzeigen

3. Bis auf weiteres werden keine alkoholischen Getränke verkauft.

So gingen diese beiden schwierigen Tage in Eisenhüttenstadt vorüber. Erst später erfuhr ich, daß jene unseligen Beschlüsse, die so viel böses Blut, so viele Aufregungen und Gefahren gebracht hatten, vom Politbüro der SED zurückgenommen wurden. Und erst viel später, daß dies bereits am 9. Juni geschehen war Für mich war das unfaßbar, da der Rat der Stadt Stalinstadt in den ersten Monaten seines Bestehens einen ganz direkten Kontakt zum ZK der SED besaß. Offenbar hatte der Westen sehr schnell mitbekommen, wie langsam die Mühlen der Parteibürokratie mahlten und die Zeit unseres Schweigens gut genutzt. Das war wohl der schwerste Fehler der SED.

In Stalinstadt gab es noch ein unerwartetes Nachspiel. Erneut wurde ich als Dolmetscherin benötigt, und zwar für ein Gespräch des sowjetischen Kommandanten mit dem Sekretär der SED-Kreisleitung Stalinstadt. Nicht die Betriebsgewerkschaftsleitung oder die SED-Betriebsparteileitung - nein! - der sowjetische Stadtkommandant von Fürstenberg/Oder ließ eine Kontrolle der Lebensverhältnisse in der Barackenstadt „Helmut Just" des VEB Bau-Union durchführen. Die von ihm beauftragten Offiziere hatten gründlich gearbeitet und mit vielen Bauarbeitern geredet. Nun wollte der Kommandant mit dem Parteisekretär von Stalinstadt über alle die aufgedeckten Mängel und Mißstände sprechen. Während dieser Zusammenkunft habe ich mich sehr für unsere Partei geschämt. Denn folgendes kam zu Tage:

 

1.  Nach der Arbeit reichte das warme Wasser meist nicht für alle zum Duschen.

2.  Oft wurde nicht genügend geheizt, und die Baracken blieben kalt.

3.  Bettwäsche und Handtücher wurden nur gewechselt, wenn sie schon ganz schmutzig waren.

4. Es gab kein Freizeitangebot; die Bauarbeiter konnten praktisch nur saufen.

Tatsächlich existierten damals in Stalinstadt weder Kino noch Klub. Ganz selten fand mal eine Kulturveranstaltung in der großen „Kulturscheune" (vor 1945 eine Flugzeughalle von Degussa) statt. Sie lag zwar in der Nähe der EKO-Barackenstadt, aber 3 km von Stalinstadt und 5 km von der Barackenstadt „Helmut Just" des VEB Bau-Union entfernt. (Ich verknüpfe mit einer der seltenen Veranstaltungen allerdings eine besondere Erinnerung. Nachdem die sowjetischen Turner bei den Weltmeisterschaften viel „Gold" errungen hatten, machten sie auf dem Heimweg in Stalinstadt Station und führten in der Kulturscheune ihr weltmeisterliches Können vor. Unsere Tamara -die künftige Tania la Guerrillera - kam glückstrahlend nach Hause: begeistert von den sportlichen Leistungen; und, weil sie wegen ihres Namens Tamara sowie der guten russischen Aussprache dem besten Turner im Auftrag der Clara-Zetkin-Schule hatte Blumen überreichen und dazu sagen dürfen: „Posdrawlaju Was" - „Ich gratuliere Ihnen".)

Der Parteisekretär von Stalinstadt versprach dem sowjetischen Kommandanten, alle Mißstände mit der Partei- bzw. der Betriebsgewerkschaftsleitung des VEB Bau-Union zu beraten und erhielt selbst die Auflage, schnellstens wenigstens ein provisorisches Kino mit mindestens allwöchentlichen Filmvorführungen einzurichten.

Da der Rat der Stadt damals noch keine Kulturabteilung besaß, fiel diese Aufgabe danach unmittelbar in das Ressort unserer Abteilung Volksbildung. Sie bestand aus zwei Mitarbeitern: sozusagen der Legislative in Person des Abteilungsleiters und der Exekutive - nämlich mir. Es war ein Abenteuer für sich, aber wir schafften es. Innerhalb einer Woche wurde das Kino eröffnet, und jeden Donnerstag gab es eine Filmvorführung. Es geht eben alles, wenn der gute Wille da ist...

Erst im Jahr 1955 wurde für Stalinstadt das wirklich schöne Friedrich-Wolf-Theater gebaut, in dem allmonatlich das Ensemble von Frankfurt/Oder gastierte und viele andere Kulturveranstaltungen stattfanden.

Zum Schluß vielleicht noch etwas, das kaum einer glauben wird: außerhalb des EKO gab es damals für etwa 10.000 Stalinstädter nur einen Volkspolizisten, den bereits bejahrten Genossen Matuscheck. Aber er hatte eben auch keine schwerwiegenden Straftaten zu bearbeiten.

Nadja Bunke 


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