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Am Tor Polizist, Pförtner und Streikposten

(Wolfen/Bitterfeld)

 

Als Angehöriger des Betriebsschutzes der Farbenfabrik Wolfen war ich damals im Posten- und Streifendienst eingesetzt. Wir gehörten zum VPKA1 Bitterfeld und erfüllten unsere Aufgaben im Dreischichtsystem. Natürlich merkten wir, daß sich die Stimmung im Betrieb immer mehr verschlechterte. Das geschah insbesondere, als man zu umfangreichen Normerhöhungen überging. In den Politschulungen reagierte man kaum oder beschwichtigte uns. Und selbst als wir den Nachrichten entnehmen mußten, daß es am 16.6.1953 in Berlin bereits zu Krawallen gekommen war, wurden für uns keine Alarmbereitschaft oder andere Maßnahmen ausgelöst.

Am 17.6.1953 hatte ich eigentlich bis 18 Uhr dienstfrei. Als meine Frau vom Einkaufen kam, erzählte sie, daß die Arbeiter in allen Werken streikten. Nach Aussage der in die Wohnorte Zurückkehrenden hatten Tausende an einer Demonstration in Bitterfeld teilgenommen. Obwohl ich nicht alarmiert wurde, ging ich gegen 12 Uhr zur Dienststelle. Unterwegs kamen mir eine Menge Arbeiter aus meinem Wohnort Muldenstein entgegen. Ich trug die Uniform und begegnete vielen feindlichen Blicken. Als ich auf dem schmalen Wehr die Mulde überquerte, sagte einer: „Schmeißt doch den Vopo in die Mulde." Andere sprachen aber sofort dagegen, so daß ich unbehelligt in meiner Dienststelle ankam.

Hier herrschte völlige Ratlosigkeit. Die Verbindung zum VPKA war unterbrochen, und es lagen keinerlei Befehle vor. Inzwischen war man allerdings über die Ereignisse in Bitterfeld näher informiert. Dort hatten Demonstranten das VPKA, die UHA2, das Gericht und andere Dienststellen besetzt. Vor dem Gericht war ein LKW mit unbewaffneten Bereitschaftspolizisten umgekippt worden. Ein Genosse trug dabei bleibende Schäden davon und wurde später Invalide. Wie wir danach erfuhren, hatten beherzte Genossen wenigstens die Waffenkammer des VPKA vor der Besetzung geschützt. Da auch Befehle der damaligen Landesbehörde der Polizei in Halle ausblieben, wurde von uns ein Kradmelder in Zivil dorthin geschickt. Er kam erst gegen Abend ohne konkrete Weisungen zurück.

In der Farbenfabrik Wolfen hatten zu Beginn der Tagschicht Meetings stattgefunden, auf denen DDR-feindliche Kräfte als sogenannte „wahre Arbeitervertreter" die Führung an sich rissen und die Stimmung anheizten. Unmittelbar danach war man zur Filmfabrik Wolfen (15.000 Beschäftigte) gezogen - wo sich Tausende anschlossen - und von dort über die Farbenfabrik zum Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld (19.000 Beschäftigte). Anschließend hatte sich die gewaltige Menschenmenge auf dem Platz der Jugend versammelt. In späteren Gesprächen wurden mir folgende Forderungen genannt: Weg mit SED und FDGB, weg mit der DDR, Herstellung der Einheit Deutschlands durch Anschluß an die BRD (man sang das Deutschlandlied), Besetzung der Volkspolizeidienststellen, des Gerichts, der UHA sowie anderer Verwaltungen. Gleichzeitig streute man das Gerücht aus, die in der UHA einsitzenden Gefangenen hätten bis zum Bauch im Wasser stehen müssen - was selbstverständlich nicht den Tatsachen entsprach. Aber diese plumpe Verleumdung löste unter der Bevölkerung große Empörung aus. Vom Vorhandensein eines vorbereiteten Aktionsplanes zeugt meiner Meinung nach die Tatsache, daß in Bereichen mit fortlaufender Produktion eine Notbesetzung organisiert war.

Als ich am Mittag des 17.6.1953 in meiner Dienststelle ankam, fand im Vortragssaal eben eine Kundgebung mit ca. 500 Menschen statt. Dort wurde ein Streikkomitee gebildet und beschlossen, an allen Toren Streikposten einzusetzen. Was danach auch geschah und folgendes Bild ergab: an jedem Tor standen ein Polizist, ein Pförtner und ein Streikposten. Der Leiter meiner Dienststelle und sein Politstellvertreter mußten im Vortragssaal erscheinen und sollten sich mit den Streikenden solidarisch erklären. Später wurde bekannt, daß sie keine konsequente Haltung bezogen hatten. Als Zeichen solidarischen Verhaltens sollten wir unsere Schulterstücke ablegen. Aber einige beherzte alte Kommunisten aus der Dienststelle überzeugten uns Jüngere, daß wir mit diesen Leuten nichts gemein hatten. Als dann drei Mann vom Streikkomitee kamen und die Waffen „unter Kontrolle" nehmen wollten, wurden sie unsanft hinausbefördert, wobei sie uns haßerfüllt beschimpften. Dagegen flohen die betrieblichen Funktionäre der SED, FDGB u. a. über den Werkszaun, als ihre Räume besetzt wurden. Die Randalierer richteten darin große Verwüstungen an. Fahnen, Büsten von Marx, Lenin und anderes flogen auf die Straße. Hier waren eindeutig faschistische Elemente am Werk, und spätestens hier hätte der Polizeischutz einsetzen müssen. Das geschah jedoch nicht.

Nachmittags tauchte am Haupttor eine Gruppe der „Streikleitung" auf und holte aus dem gegenüberliegenden Direktionsgebäude den Werkleiter heraus. Ich war Augenzeuge, als sie diesen für abgelöst erklärte, obwohl er energisch protestierte. Als Ersatz hatte man einen für seine konservative Haltung bekannten Angehörigen der technischen Intelligenz mitgebracht und forderte ihn auf, die Funktion des Werkleiters zu übernehmen. Der Mann lehnte jedoch entschieden ab und brachte sinngemäß zum Ausdruck: noch existiere die Regierung der DDR, und nur sie setze Werkleiter ab bzw. ein. Danach zog die „Streikleitung" schimpfend ab.

Gegen 18 Uhr erschien auf der Straße vor dem Haupttor ein Panzer der Sowjetarmee. Inzwischen meldete auch das Radio, daß die Regierung der DDR wieder Herr der Lage sei, und es gab endlich auch Befehle zur Herstellung von Ordnung und Sicherheit. Von diesem Zeitpunkt an erfolgten Zuführungen und vorläufige Festnahmen der als Rädelsführer, Streikleitung und Streikposten erkannten Leute. Am 18.6.1953 befanden sich in unserer Dienststelle ca. 50 Personen, welche befragt bzw. verhört wurden – so, wie es dem damaligen Strafgesetzbuch der DDR entsprach. Nahezu alle wurden innerhalb 24 Stunden freigelassen, denn es zeigte sich, daß die meisten Rädelsführer nach Westberlin geflohen waren.

In den Folgewochen kam es auf großen Tagungen von SED, FDGB und FDJ zu scharfen Auseinandersetzungen mit solchen Mitgliedern, die versagt bzw. mitgemacht hatten.

Aus heutiger Sicht schätze ich die Ereignisse so ein, daß die Massenbewegung des 17.6.1953 zwar spontan begonnen hatte, die Eskalation und Zielrichtung solcher Aktionen jedoch seit längerem geplant waren. Alle DDR-feindlichen Zentralen - ich nenne nur die Ostbüros der CDU und SPD - hatten den Tag X vorbereitet. Die Führungen von SED, FDGB und FDJ wurden von den Ereignissen überrascht und versagten beschämend. Sämtliche bewaffneten Organe, speziell die Volkspolizei, waren ebenfalls nicht auf derartige Situationen eingestellt. Die Kommandeure handelten teilweise nicht selbständig bzw. wichen vor Provokateuren zurück. Mit der Bezeichnung „faschistischer Putsch" machte man sich die Sache allerdings später zu einfach. Die große Masse der Teilnehmer kann man nicht als Faschisten einstufen. Allerdings brauchte man sich in den Tagen nach dem 17.6.1953 nur die Reden von Willi Brandt und anderen anhören, um die eigentlichen Drahtzieher zu erkennen. Nur so ist auch deren Beschluß zu verstehen, den 17. Juni alljährlich als Feiertag zu begehen und sogar Straßen danach zu benennen.

Die von der SED aus der Ereignissen gezogenen Lehren waren halbherzig, gingen nicht auf die eigentlichen Ursachen ein und verzichteten auf echte Schlußfolgerungen wie Beseitigung jeder Form des Stalinismus, Gewährleistung von Basisdemokratie und Meinungsvielfalt, wahrhaft sozialistische - d. h. ehrliche - Wahlen auf allen Ebenen, Verzicht auf eine Massenpartei und damit Reinhaltung der SED von Karrieristen sowie Trennung von „unfehlbaren" Funktionären. Wo diese Halbherzigkeit hinführte, erlebten wir im Jahr 1989, als das Volk die SED davonjagte.

Günther Lidke


1 VPKA - Volkspolizeikreisamt

2 UHA - Untersuchungshaftanstalt


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