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Differenzierte Sicht

(Magdeburg)

 

Damals war ich Dreher im Betrieb 13 des Schwermaschinenbau „Ernst Thälmann" Magdeburg, 23 Jahre alt und parteilos. Wir alle wollten einfach besser leben. Und die Mehrheit war sich darüber einig, daß man dafür mit alten Vorstellungen brechen, die Sache selbst in die Hand nehmen mußte. Wer besser leben wollte, mußte mithelfen die Arbeitsorganisation zu verbessern, die Kostenrechnung auszubauen und das Sparsamkeitsprinzip durchzusetzen. Dazu gehörte auch, gerechtere Arbeitsnormen einzuführen. Durch freiwillige Normerhöhungen stieg die Produktion und mit ihr unser Lohn. Diese Bewegung setzte sich zunehmend durch.

Wie viele andere hatte auch ich meine Norm im Mai 1953 freiwillig um 12 % erhöht. Die absehbare Entwicklung stimmte uns zufriedener und weckte Zuversicht. Allerdings war spürbar, daß diese Richtung den Gegnern der DDR im Werk, besonders aber im Westen, nicht paßte. Sie versuchten, die nach administrativen Beschlüssen von Politbüro, Ministerrat und Betriebsleitung entstandene Unruhe auszunutzen und eine Zuspitzung der Lage zu erreichen. Mit jedem Tag verstärkten die westlichen Sender ihre Hetze, und auch im Betrieb wurden Halbwahrheiten, Gerüchte und faustdicke Lügen verbreitet. So strahlte ein Westsender wenige Tage vor dem 17. Juni einen angeblichen Augenzeugenbericht aus, wonach in unserem Werksessen Ratten verarbeitet würden.

Leider wurde die angespannte Situation auch durch die plötzliche „Sprachlosigkeit" einiger Funktionäre negativ beeinflußt. Denn bei uns kam kaum etwas davon an, daß die meisten der ärgerlichen Beschlüsse zurückgenommen und Kurskorrekturen zur Verbesserung der Lebenslage eingeleitet worden waren. Damit gewann der Gegner immer mehr die Oberhand, und bald war die Situation explosiv.

Am Morgen des 17. Juni kehrten die Schmelzer der Stahlgießerei nach der Frühstückspause nicht an ihre Plätze zurück. Bei uns dagegen lief alles normal, bis die mit Knüppeln bewaffneten Gießereiarbeiter den Betrieb stürmten. Sie forderten uns auf, die Maschinen abzustellen und mitzukommen - anderenfalls gebe es Dresche. Anschließend zogen wir durch das Betriebsgelände zum Dimitroffwerk - wo die Arbeiter mit den gleichen Methoden zum Mitmachen veranlaßt wurden - und danach in Richtung Stadtzentrum. Anfangs verlief die Demonstration friedlich, teilweise sogar fröhlich. Kein Polizist und kein Rotarmist waren zu sehen. Als wir uns der Innenstadt näherten, beobachtete ich eine kleine Gegendemonstration, welche durch die Massen vereinnahmt bzw. nach ersten Handgreiflichkeiten aufgerieben wurde. Und die Gewalt nahm zu, je näher wir dem Zentrum kamen. Büros wurden gestürmt, Schreibmaschinen und Akten flogen auf die Straße. Wer sich in den Weg stellte, wurde verprügelt. Die aggressivsten Kräfte hatten die Initiative an sich gerissen, heizten die Stimmung weiter an und forderten zur Erstürmung der Gebäude von Partei und Massenorganisationen sowie des Staatsapparates auf. Ziel der nachfolgenden Übergriffe waren auch die Redaktion der „Volksstimme" sowie der Rundfunksender. Danach strömte man zum Polizeipräsidium und zur Haftanstalt, um die Freilassung aller Gefangenen zu fordern. Als dies von der Polizeidirektion abgelehnt wurde, erstürmten Randalierer beide Einrichtungen gewaltsam und erbeuteten die ersten Waffen. Da sagte ein älterer, parteiloser Kollege zu mir: „Sowas macht ein ordentlicher Arbeiter nicht", und wir gingen zurück in den Betrieb. Die meisten von uns verhielten sich ebenso und arbeiteten ab 14 Uhr wieder.

Die ersten LKW und Panzer der Sowjetarmee trafen meines Wissens erst nach den gewalttätigen Übergriffen ein und haben niemanden „niedergewalzt" oder vorsätzlich getötet. Dagegen wurde mindestens ein Polizist der Wachmannschaft des Gefängnisses von den Randalierern mit einer der erbeuteten Dienstwaffen regelrecht hingerichtet. Wenn mich die Erinnerung nicht trügt, hieß es später, daß der Hauptschuldige durch die Sowjetarmee standrechtlich erschossen worden sei.

Nach einigen Tagen hatte sich das Leben in Magdeburg wieder normalisiert. Einige brüsteten sich noch mit angeblichen „Heldentaten", aber viele schämten sich ihres Auftretens.

Nach meiner Auffassung muß der 17. Juni 1953 sehr differenziert betrachtet wer den - egal, wie man ihn bezeichnet.

Sepp Landa  


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