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Reparationen und Rhetorik

(Weimar)

 

Im Sommer 1953 war ich mit drei weiteren Studenten der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Marx-Universität Leipzig zum Betriebspraktikum im VEB Mähdrescherwerk Weimar eingesetzt. Es handelte sich um einen Betrieb mit 3000-4000 Beschäftigen, der bis Kriegsende für die faschistische Rüstung gearbeitet hatte und nach der Umstellung auf Friedensproduktion vornehmlich Reparationsgüter wie Eisenbahnradsätze, Schiffspoller usw. herstellte. Außerdem war gerade mit dem Nachbau des sowjetischen Mähdreschers Stalinez-4 für die DDR-Landwirtschaft begonnen worden.

Das vor allem wegen seiner Vielseitigkeit technologisch schwer beherrschbare Produktionsprogramm bot immer wieder Ansatzpunkte für ungute Diskussionen im Betrieb. Für besondere Verärgerung sorgten aber die Forderungen der sowjetischen Gütekontrolleure. Sie wollten nicht nur die Naben der Radsätze mikroskopisch einwandfrei geläppt haben, sondern bestanden auf der gleichen Bearbeitungsqualität bei den Radachsen - was nun gewiß gänzlich unnötig war. Ähnlich negativ wirkte das Verbot jeder konstruktiven Nachbesserung am Stalinez-4, obwohl dessen Entwicklung bereits Jahre zurücklag. So wurde der durch die bekannten zentralen Beschlüsse angesammelte Zündstoff noch um das hautnahe Erlebnis der Reparationsbelastungen und einer problembehafteten wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion vermehrt.

Da die Anfang Juni 1953 vom Politbüro vorgenommene Kurskorrektur im Betrieb wenig publik gemacht wurde, gab es ziemlich böse Diskussionen und Unzufriedenheit. Der Betriebsfunk sendete am 17. Juni gegen 9 Uhr die Aufforderung, daß sich alle Beschäftigten um 11 Uhr zu einer wichtigen Zusammenkunft im Speisesaal einfinden sollten. Als wir dort ankamen, war der Raum bereits überfüllt. Wir fanden nur noch seitliche Stehplätze neben einem alten Genossen und ehemaligen KZ-Häftling, den man uns bei anderer Gelegenheit vorgestellt hatte. Die Männer im Präsidium waren uns unbekannt, aber nach Auskunft des Genossen befanden sich darunter Mitglieder der Werkleitung. Jemand eröffnete die Zusammenkunft mit der Erklärung, daß es unter den Kollegen eine Reihe von Fragen gebe, über die man sprechen müsse. Sehr weit gedieh die Geschichte aber nicht, denn plötzlich stieg ein dicker, glatzköpfiger Mann inmitten der Versammelten auf einen Stuhl und begann mit bemerkenswerter Rhetorik auf die Ausbeutung der Arbeiter durch das SED-Regime sowie die mit den Regierungsmaßnahmen verbundene Verschlechterung des Lebensstandards zu schimpfen. Dann ging er noch einen Schritt weiter und rief die Arbeiter dazu auf, massiven Widerstand zu leisten und sich von diesem Regime zu befreien. Während der Dicke mit enormem Pathos auf die Anwesenden einredete und sich dabei immer wieder mit dem Taschentuch den Schweiß von seinem feisten Nacken und der Glatze wischte, hielt ihm ein junger, schwarzhaariger Mann Stuhl und Rücken frei. Wir waren davon ziemlich irritiert. Unser Nebenmann jedoch fand das kaum der Rede wert, da es nicht organisiert sei und deshalb keine Aussicht auf Erfolg habe. Wie wir wüßten, könne nur eine organisierte Bewegung im politischen Kampf erfolgreich sein. Als wir allerdings in den Abendnachrichten hörten, daß die Arbeiter in anderen Städten und nahezu allen Großbetrieben ebenfalls zu Protestversammlungen aufgerufen worden waren, kamen uns doch erhebliche Zweifel an dieser Einschätzung. Denn wie konnten nahezu auf den Glockenschlag genau in allen Teilen der DDR solche Veranstaltungen zustande kommen?

Am nächsten Tag wurden im Betrieb Flugblätter verteilt, die uns der Antwort näherbrachten. Den Personalunterlagen zufolge handelte es sich nämlich bei dem glatzköpfigen Hauptredner um einen ehemaligen hauptamtlichen Propagandisten der Untergauleitung der NSDAP und bei dem schneidigen Schwarzhaarigen um einen früheren Offizier der Waffen-SS. Danach vermuteten wir - und ich bin nach wie vor davon überzeugt -, daß von den Drahtziehern des 17. Juni die noch verfügbaren alten NS-Seilschaften mobilisiert worden waren. In dieser Meinung wurden wir nach unserer Rückkehr an die Universität bestätigt. Der Mann unserer Kommilitonin Erika - ein bärenstarker KVP- Offizier - war bei dem Einsatz vor dem Gefängnis in Halle so brutal zusammengeschlagen worden, daß er mit Schulter- und Armfrakturen ins Krankenhaus gebracht werden mußte. Die Täter agierten aus einer Menschenmasse heraus, welche das Gefängnis stürmte und neben anderen Verbrechern auch Erna Dorn1 befreite. Ich halte es für absurd davon auszugehen, daß einfache, werktätige DDR-Bürger 8 Jahre nach Kriegsende das Bedürfnis gehabt haben sollen, eine Frau, die sich selbst als ehemalige Angehörige des KZ-Personals bzw. der Gestapo bezeichnete, aus dem Gefängnis zu holen, sie wie eine Heldin zu feiern und ihre Reminiszenz an den „geliebten Führer" mit frenetischem Beifall zu beantworten.

Nach dem Aufruf des NS-Untergauleitungsmitarbeiters war in der Versammlung vom 17.6.1953 eine neue „Betriebsleitung" des VEB Weimarwerk gewählt worden. Ein geschlossener Marsch vom Werk in die Stadt kam jedoch nicht zustande. Dies lag nach meiner Auffassung nicht in erster Linie daran, daß eine kleine Gruppe Volkspolizisten zur Verhinderung eventueller Ausschreitungen ins Werk abkommandiert wurde. Vielmehr reichten Anzahl und Einfluß der alten NS-Kämpfer wohl doch nicht aus, und die meisten Arbeiter hatten keine Lust, solchen Leuten zu folgen. Da diese damit - im Unterschied zu anderen Schauplätzen - auch keine Chance erhielten, sich auf öffentlichen Straßen und Plätzen weiteren Zulauf für ihre rabiaten Forderungen zu organisieren, blieb es nach meiner Kenntnis bei Einzelaktionen. Die nach der Sperrstunde in Zweiergruppen patrouillierenden Sowjetsoldaten ließen sich gelegentlich sogar in einen kleinen Plausch verwickeln - vorausgesetzt, man hatte im Russischunterricht mehr als „dobrje djen" und „dobra notsch" mitbekommen.

An einem der Folgetage trafen sich die Beschäftigten des Weimarwerkes abermals im großen Speisesaal. Diesmal sprach der Kandidat des Politbüros der SED, Erich Mückenberger. Er erläuterte die Beschlüsse der Parteiführung vom 9. Juni, durch welche vorangegangene Fehler beseitigt und mit dem „Neuen Kurs" wirksame Maßnahmen zur Verbesserung des Lebensniveaus der Bevölkerung eingeleitet worden waren. Da dies zum Abbau der politisch verwertbaren Unzufriedenheit führen mußte, hatten die Gegner der DDR sich zum Losschlagen entschlossen, das erhoffte Ergebnis aber nicht erreicht. Nach meinem Eindruck verstand das die Mehrheit der Anwesenden.

Reiner Hofmann


1 Lt. einer Veröffentlichung des Dietz-Verlages („Die Kommandeuse", Berlin 1993) ist die wahre Identität der Erna Dorn bisher ungeklärt. Fest steht, daß sie am 22.6.1953 vom 1. Strafsenat des Bezirksgerichtes Halle/Saale in einem Verfahren, in dessen Durchführung nach heutiger Erkenntnis Fehler auftraten, zum Tode verurteilt und am 1.10.1953 in Dresden hingerichtet wurde. Sofern sie in den
vorliegenden Zeitzeugenberichten erwähnt wird, geschieht das im Sinne damaliger subjektiver Erlebnisse und Informationen


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