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(Staaken)
Für uns Angehörige des Grenzkommandos Staaken III begann der Tag wie jeder andere. Ein Blick auf den Dienstplan verriet, man schrieb den 17. Juni 1953. Von 65 Mann befanden sich zwei in Urlaub. Wie üblich, hatten gegen sechs Uhr morgens die Posten die Ablösung vollzogen und erfüllten bei schönem sommerlichen Wetter die Aufgabe, die Grenze zwischen der DDR und Westberlin an unserem nicht eben unkomplizierten Abschnitt zu überwachen. Er war reichlich zwei Kilometer lang und wurde durch zwei S-Bahnlinien unterbrochen. Es gab ein Stück offenes Wiesengelände, aber oft reichte die Bebauung mit Lauben und Siedlungshäusern bis zur vorderen Grenzlinie, bot ausgezeichnete Verstecke und begünstigte eine unbemerkte Annäherung. Die spärlichen Gartenzäune zur Grenze hin waren lediglich durch Stacheldraht verstärkt worden. Graben und Schlagbäume sollten vor Grenzverletzungen durch Kraftfahrzeuge schützen.
Unser Kommandoleiter war ein junger Unterleutnant, den man erst vor kurzem von der Kasernierten Volkspolizei zuversetzt hatte. Ich war ein ebenso junger Leutnant, seit 1.1.1953 Polit-Kultur-Leiter, kurz PK genannt, und führte an diesem Morgen mit einem Drittel der Mannschaft die Politschulung durch. Sie wurde nach einiger Zeit durch die Meldung eines Grenzpostens unterbrochen, daß die S-Bahn nicht mehr fahre und eine große Menschenmenge von Westberlin aus den Grenzzaun niederreißen und auf unser Gebiet vordringen wolle. Nach Auslösung des Grenzalarms bezogen wir unsere Postenbereiche. Wir hatten in beiden Richtungen keine Grenzübertritte zuzulassen und zu verhindern, daß der Grenzzaun niedergerissen wurde. Außerdem sollten wir die Demonstranten dazu bewegen, den Bahnhof Staaken als Grenzübergang zu benutzen, damit ihre Kontrolle gewährleistet werden konnte. Es waren vor allem Hennigsdorfer, die am frühen Morgen des 17 Juni 1953 ihren Arbeitsplatz zeitweilig verlassen und im Nachbarabschnitt die Grenze nach Westberlin überschritten hatten. Nun wollten sie auf kürzestem Weg nach Hause, doch es fuhr keine S-Bahn. Gegen Mittag befanden sich auf dem Volleyballplatz des Kommandos rund 100 vorläufig Festgenommene, die wenig später nach kurzer Überprüfung ihrer Identität freigelassen wurden.
Die Lage spitzte sich jedoch weiter zu. Immerhin verzichtete eine größere Gruppe randalierender Westberliner Jugendlicher nach dem Anblick einer Schützenkette mit aufgepflanzten Bajonetten auf ihren Versuch, in das Gebiet der DDR einzudringen. Aus den weitgeöffneten Fenstern Westberliner Wohnungen schallte laute Tanzmusik herüber, die laufend durch „Sondermeldungen" und verschlüsselte Texte unterbrochen wurde. Auf diese Weise erfuhren wir auch von „Aufständen in Mitteldeutschland". Die Stummpolizisten wurden offensichtlich von den im Radio verbreiteten „Siegesmeldungen" angesteckt. Noch am Vortag stets zu einer Plauderei bereit, deuteten nun einige mit bekanntem Fingerzeig um den Hals an, was sie uns zudachten.
Gegen 14 Uhr erzitterte unsere Kommandobaracke vom Gedröhn einer schweren sowjetischen Selbstfahrlafette. Die Geschützbedienung wurde durch einen Hauptmann der Sowjetarmee befehligt. In Abstimmung mit unserem Kommandoleiter brachte er das Geschütz so in Stellung, daß es von Westberliner Seite nicht zu übersehen war. Danach hob sich das Geschützrohr immer dann, wenn sich drüben besonders viele Menschen ansammelten.
Gegen 24 Uhr stand auch ein Urlauber wieder für den Grenzdienst zur Verfügung, der eigentlich für Disziplinarverstöße bekannt war. Doch nun hatte er sich unter schwierigen Bedingungen, aus Richtung Königs Wusterhausen kommend, regelrecht zur Einheit durchgeschlagen, um diese rechtzeitig zu erreichen. Unterwegs war er vielfach beschimpft und sogar tätlich angegriffen worden Die Mütze fehlte, und das Gesicht war lädiert. Aber er tat so, als sei seine Rückkehr das Normalste der Welt. Der zweite Urlauber mußte entlassen werden, weil er sich weigerte, noch länger eine Waffe zu tragen Er hatte zuvor nicht zu den Undisziplinierten gehört.
In den Tagen danach standen wir nunmehr vierundsechzig Angehörigen des Grenzkommandos Staaken III weiterhin im Zwölfstundendienst. Die Lage an der Staatsgrenze hatte sich noch nicht wieder beruhigt. Während die Uniformierten auf Westberliner Seite nun wieder mehr Zurückhaltung übten, bestimmten drüben zunehmend Personengruppen die Szenerie, die aus ihrer DDR-feindlichen Haltung keinen Hehl machten. Meldungen von Grenzposten darüber, daß sie beschimpft, mit Steinen beworfen oder aus Luftdruckwaffen beschossen wurden, gehörten zum Tagesgeschehen. Des öfteren verkehrten Touristenbusse entlang der Staatsgrenze und Schaulustige winkten, fotografierten und äfften, als befanden sie sich im Zoologischen Garten. Westberliner Polizisten und Zöllner suchten Kontakte zu unseren Grenzposten. Dabei bezeichneten sie den 17. Juni als Aufstand der Ostzonenbevölkerung gegen die Regierung und Prophezeiten seine baldige Wiederholung.
Unser Hauptaufmerksamkeit richtete sich allerdings inzwischen mehr auf das eigene Hinterland In den Nachbarabschnitten waren, wie es hieß, einige flüchtige Organisatoren konterrevolutionärer Geschehnisse im Leipziger, Hallenser und Magdeburger Raum festgenommen worden. Wer eine saubere Weste hatte und nach Westberlin wollte, konnte den bequemeren Weg mit der S-Bahn wählen, die ihren regelmäßigen Verkehr nur für kurze Zeit unterbrochen hatte. Trotz verstärkter Kontrollen auf den Bahnhöfen Falkensee, Albrechtshof und Staaken entsprach der Grenzverkehr über die Schiene schon ab 18. Juni wieder seinen alten Dimensionen.
Die Angehörigen unseres Grenzkommandos empfanden Genugtuung darüber, daß während der Juniereignisse kein einziger Schuß gefallen war. Danach hatten wir noch größeres Augenmerk auf die Verbesserung der Zusammenarbeit mit der Grenzbevölkerung zu legen, die zum überwiegenden Teil an Ruhe und Ordnung interessiert war und uns deshalb auf vielfältige Weise unterstützte. Auch die ständigen Grenzgänger verhielten sich meist loyal. Sie wollten ihre Westberliner Arbeitsstelle nicht verlieren und weiterhin von dem künstlich hochgehaltenen Wechselkurs profitieren.
In unseren Gesprächen trafen wir allerdings auch manchmal auf offene Ablehnung und sogar Feindschaft. Das war vor allem dem Wirken der zahlreichen und vom Senat geförderten Westberliner Organisationen zuzuschreiben, die sich die Unterwanderung und Beseitigung der DDR zum Ziel gesetzt hatten. Dies bewiesen nicht zuletzt die zahlreichen Ballons mit Flugblättern. Meistens war es die „Tarantel" aus dem Ostbüro der SPD, die von uns eingesammelt oder von DDR-Bürgern an der Wache abgegeben wurde. Der kalte Krieg dominierte auch nach dem 17. Juni die Geschehnisse auf beiden Seiten der Schlagbäume.
Kurt
Frotscher
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