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Arnold Eisensee

Funkstudio Stalinallee

(Teil 2 von 5)

Als wir in Berlin an Land gingen, war von der „Trumpf“ noch nichts zu sehen. Am nächsten Tag hörte ich zwar, daß sie erst eine Stunde nach der „Seid bereit" eingelaufen sei. Aber erst nach vier Jahrzehnten erfuhr ich beim Studium einschlägiger Vernehmungs- und Prozeßakten, daß Metzdorf die im Salon des Dampfers Anwesenden zum Streik aufgerufen und seine Rede danach am Tisch der außerhalb sitzenden Familien Joswich, Pischel, Zymak, Neumann und Schmiedecke wiederholt hatte. Bei diesen war er allerdings nicht auf Gegenliebe gestoßen. Brigadier Joswich hatte beim Verlassen des Schiffes sogar BGL-Mitglied Karl Foth, dem er offenbar vertraute, darüber informiert. Dieser war zuvor jedoch bereits von den Kollegen Suslik Zieblas, Böhm, Winter, Schacht, Dewitz aus seiner eigenen Brigade angesprochen worden und hatte Metzdorf trotzdem gewähren lassen.

Damals war ich Vorsitzender der aus zehn Familien bestehenden Hausgemeinschaft Schönlanker Straße 22. Als ich von der Dampferfahrt nach Hause kam, hatten die Genossen eine Hausversammlung einberufen. Sie wollten hören, wie ich die Situation einschätzte.

Selbst die „Prominenten" lauschten mir wie Luchse im Wald. Sie erfüllten verantwortungsvolle Aufgaben. Herbert Weidemann als Major im Stab der Grenztruppen und Klaus Zoch als Dozent der Humboldt-Universität. Ernst Seeger war politischer Mitarbeiter bei Wilhelm Pieck, Miele Peschel Hauptabteilungsleiterin im Ministerium für Handel und Versorgung, Waldemar Heuer Hauptsekretär der DDR-Zollverwaltung, Hermann Graf Oberkommissar der Kripo und Heinz Hensel Parteisekretär des Berliner Kulturbundes. Aber über die aktuelle politische Situation waren sie ebensowenig informiert wie die übrigen Mieter des Hauses - obwohl mancher von ihnen den RIAS angeknipst hatte. Denn der wußte vorläufig auch nichts Konkretes - zumindest weniger als die eben zurückkehrenden Dampferfahrer.

Erstaunt bis erschrocken hörte man deshalb meinen Bericht an, dessen Brisanz ich weder der scharfen Hauptabteilungsleiterin noch dem starrköpfigen Stabsmajor zuliebe abschwächte. Vielmehr erklärte ich auf weitere Befragungen: „Das Politbüro hat die Richtung angegeben. Die Regierung hat die Richtung angeordnet. So hat es ja auch in allen Zeitungen gestanden. Zehn Prozent Normenerhöhung, ohne gleichzeitig nein - ohne erst die technologischen Voraussetzungen zu schaffen! Das heißt für jeden Bauarbeiter 10%ige Lohnsenkung, für manche sogar zwanzig Prozent!"

„Das glaube ich einfach nicht", schimpfte Miele Peschel mit vergrämtem Gesicht. Vierzig Zigaretten und zehn Tassen starker Schwarztee täglich machten ihr Gallenbeschwerden und ließen sie nachts bis in meine Wohnung hinauf stöhnen.

„Wenn er es sagt", schnaufte der Mitarbeiter von Wilhelm Pieck, dessen Chef sich eben in Urlaub befand, „immerhin ist er an der Basis. Machen wir uns doch nichts vor: wir kriegen es doch auch nur aus dem ND und sollten froh sein, aus erster Hand informiert zu werden."

„Du willst also sagen", schlußfolgerte die Hauptabteilungsleiterin messerscharf, „daß das Politbüro unserer Partei eine falsche Empfehlung gegeben hat!"

„So seh' ich das auch", unterstützte sie der Major. „Mit solchen Anschuldigungen sollte man verdammt zurückhaltend sein."

„Macht mal halblang", erregte sich Heinz Hensel.

„Langsam, langsam", bremste auch unser Kripomann. „Ihr schiebt das Ding auf ein falsches Gleis. Es wurde nichts als das gesagt, was in den Zeitungen gestanden hat. Und wenn die Technologie nicht verändert wird, sind zehn Prozent Normenerhöhung in der Regel eben tatsachlich zehn Prozent Lohnsenkung. Das ist Fakt. So viel verstehe selbst ich von der Ökonomie."

„Fakt hin, Fakt her", nörgelte der alte Zöllner Waldemar Heuer und holte mit dem rechten Zeigefinger die Schweißperlen hinter den Brillenglasern hervor. Er war schlesischer Kommunist gewesen, danach Zuchthäusler und wahrend des „Ostfeldzuges" Angehöriger eines Minenraumkommandos im Strafbataillon 999. Seitdem ihm dabei eine Schulter zerfetzt worden war, konnte die linke Hand mal gerade noch ein Skatblatt halten. Und wir hatten schon sehr oft miteinander geskatet. Unser „Dritter" war Genosse Seeger aus der Präsidialkanzlei. Den großen Verlierer stellte meist ich. War einer der beiden anderen mal nicht abkömmlich, sprang gewöhnlich die Frau unseres Zöllners ein. Aber das besserte meine Siegeschancen auch nicht.

Also Fakt hin, Fakt her ... „Ich persönlich glaube nicht, daß es zum Streik kommt. Aber ändern können wir es sowieso nicht", brachte der Zöllner es auf den Punkt. „Dazu sind wir viel zu kleene Wurschtel. Alle, so wie wir hier sitzen. Oder?"

Ich gab ihm recht, ergänzte meinen Bericht durch einige Beispiele der auf den Baustellen blindlings „durchgezogenen" Normenerhöhungen und zog als Fazit: „Ausgeschlossen ist Streik nicht. Machen sie Streik, ist er berechtigt."

„Ich will dich mal ablösen", meldete sich der Dozent zu Wort, dessen Vater mich vor einigen Stunden zum Schnaps eingeladen hatte. Er war fast zwei Meter groß, seine Frau auch. Zwei Kinder hatten sie. Neuerdings mußte ich nachts oft an ihn denken. Denn dann saß er bis weit in den Morgen hinein an seiner rumpeligen Schreibmaschine, genau über meinem Bett, und schinderte an seiner Dissertation. Und das sollte wohl noch eine Zeitlang so weitergehen.

„Was du sagt, ist logisch. Und wenn dann noch dein Ministerium, Genossin Hauptabteilungsleiterin, ‚im Zuge der weiteren Verbesserung der Lebenslage der werktätigen Bevölkerung' die Lebensmittelpreise erhöht - Marmelade 10 Prozent teurer, welche Idiotie! - dann kann ich mir gut vorstellen, wie das hammerartig auf die Bauarbeiter schlagt."

„Mein Ministerium hat gar nichts!" fauchte die Angegriffene zurück. „Der Ministerrat! Du solltest das ND genauer lesen."

Doch der Dozent dozierte unbeirrt: „Ich glaub' schon, daß es haarig wird. Allerdings sollte nicht das in der Partei zur Debatte stehen, sondern die Schuldfrage, und aus der Schuldfrage sollten Lehren, Konsequenzen gezogen werden."

„Genau dies hat doch das Politbüro vorgestern gemacht!" empörte sich Miele Peschel.

„Na!!!" rief der Stabsmajor zustimmend.

„Einen Scheißdreck hat es", schimpfte unser Mann aus der Präsidialkanzlei.

Die „unbedeutenden" Parteimitglieder der Runde wie Gretel Heuer, Vera Zoch, Marta Seeger und meine Frau stimmten ihm zu, und auch die Mienen der parteilosen Ehepartner besagten Gleiches.

Wir diskutierten weiter. Aber nach einer Weile holten wir Männer dann doch einen Kasten Bier und Korn in den von uns auf dem Dachboden eingerichteten Gemeinschaftsraum, und die Frauen brühten Kaffee. So wurde es noch ein recht gemütlicher Wochenendabend. Allerdings kamen wir immer wieder auf die Stalinallee zu sprechen. Das Thema ließ uns einfach nicht los.

Am Montagmorgen vereinbarte ich sofort mit Paule Lehmann, nur schöne Opernmelodien, Schlager und Volksweisen auf die Baustellen zu schicken. Bevor ich dann zu Alfred Wehnert marschierte, um ihm das Sendeprogramm des Tages vorzulegen, berichtete mir Brigitte über die Sonnabendversammlung von C-Süd.

Als sie gegen halb Elf auf den Block gekommen war, hielten sich in dem noch durchgängigen Ladentrakt etwa zehn Männer auf, während weitere dreißig vor allem auf dem Dachgarten und an den Balkons arbeiteten. Nach und nach kam dieser und jener aber nach unten. Ein junger Mann, den man Horst und Schlafke nannte, hatte Bauleiter Dietrich und den Gewerkschaftsfunktionären das Heft aus der Hand zu nehmen versucht, was ihm zunächst wegen größerer Lautstärke gelang. Unterstützt von drei, vier Zimmerleuten, forderte er mehrfach einen Streik gegen die Normenerhöhungsversuche der Betriebsleitung. Allerdings wurde er immer wieder von anderen Zimmerleuten sowie Steinmetzen, Dachdeckern und Fliesenlegern gebremst. Die von Bauleiter Karl Moltmann, Bauleiter Dietrich und anderen Funktionären vorgetragenen Argumente überzeugten offenbar die Mehrheit der Anwesenden, so wütend Schlafke und seine Freunde auch dagegen kläfften. Es wurde mehrheitlich festgelegt, - so Brigitte abschließend - am Montag erneut miteinander zu sprechen.

Von diesen Vorgängen bekamen die Mieter des bereits durchgängig bewohnten Blocks C-Süd nichts mit. Schlafke und seine Kollegen betranken sich danach, wie ich später von anderen hörte, mit Bier. Eigentlich hätte man sie von der Baustelle weisen müssen.

Schlafke war seit seiner Kindheit Schüler einer nazistischen Ordensburg gewesen, aus denen fanatisch erzogene SS- und Wehrmachtsoffiziere, Bannführer der Hitlerjugend, SA-Führer und nationalsozialistische Beamte hervorgingen. Seine Laufbahn in dieser selbstverständlich „rein arischen" Anstalt wurde durch den freiwilligen Übergang zur Waffen-SS beendet. Anschließend wob er sich eine Heldensaga, wonach er hinter den sowjetischen Linien abgesprungen, in Gefangenschaft geraten und nach sechs Jahren Leidensweg durch drei Kriegsgefangenenlager nach Ostberlin entlassen worden sei. So erzählt von Dr. Rainer Hildebrandt in einem seiner „Junimärchen": „Schlafke fand eine Stelle als Bauarbeiter ..." Und als solcher gedachte der verhinderte Reichsbeamte oder Bannführer nun doch noch sein Süppchen zu kochen. Sicher auch für eine neue Heldensaga.

Allerdings waren die Bauarbeiter vom Block C-Süd trotz seiner Anstrengungen am diesem Montagmorgen vollzählig an ihren Arbeitsplätzen erschienen. Und „Hexen"-Fahrer Schlafke hatte sie mit Material zu versorgen. Von sieben bis sechzehn Uhr.

Nachdem ich Brigittes Bericht gehört hatte, radelte ich die Allee abwärts, umfuhr den bereits bewohnten Block E-Nord und bog in den Weidenweg und danach die Löwestraße ein. Hier war Baustellenbereich und ein Weiterkommen zum Block 40 nur schiebenderweise möglich. Dabei hörte ich meine Stimme aus einem Lautsprecher: „Hier meldet sich das Funkstudio des NAW! Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Heute ist Montag, der 15. Juni 1953. Sieben Uhr." Danach setzte ein Männerchor a capella ein: „Oh Täler weit, oh Höhen ..."

Die Brigaden Gruhl und Brüggemann saßen am Erdgeschoß ihrer Baustelle. Wenn mich die Erinnerung nicht trügt, war es Haus 14. Der VEB Lehrlingsbau werkelte bereits auf den Häusern 7 bis 9. Die Brigade Meißner hatte auch schon weichgemachten Mörtel in der Kute und setzte die ersten Steine des Tages. Daneben sah ich die Brigade Tiedke. Vor der Essenbaracke, den Buden der Bauleiter, den Büros und Magazinen standen zwanzig, dreißig Maurer, Zimmerer und Transporter wie abwartend herum, dieweil ihre Kollektive arbeiteten. Dazu angehalten, sich dorthin zu begeben, bewegten sie sich ohne Murren und Widerspruch in Richtung ihrer Häuser. Nur sechs oder sieben trabten noch unschlüssig kreuz und quer. Von der Truppe Hein Görlichs war unten niemand zu sehen.

Ich ließ mich von Otto Pfeng, Erich Gutzeit und Willi Fischer informieren. Die Bauleiter Haase, Zink und Bienert sowie der Abrechnungstechniker Wilkening gesellten sich hinzu. Wahrscheinlich hofften sie auf Neuigkeiten, die zur Entschärfung der Situation auf Block 40 beitragen konnten.

Wilkening unterbrach das Gespräch und deutete die Baustraße hinunter: die Brigaden Gruhl und Brüggemann stiegen die Leiter hinauf. Damit hatten sämtliche Brigaden die Arbeit aufgenommen. Aus den RFT-Säulen überschwemmte die Baustellen „Alle Tage ist kein Sonntag, alle Tag gibt's keinen Wein. Aber du sollst alle Tage recht lieb zu mir sein ..."

„Willst du uns verarschen oder auf die Palme bringen?" fragte mich Gutzeit. „Wir wissen nicht, wo uns der Kopf steht, und du schnulzt Friede-Freude-Eierkuchen auf die Häuser."

„Altes deutsches Volkslied, Erich." Fischer stieß Gutzeit verstohlen in die Seite und blickte verwundert zu ihm auf. „Ich find's gut."

Pfeng belächelte den Parteisekretär: „Beruhigt die Seelen besser als Reden und Bier."

Gutzeit brummte noch etwas, gab sich dann aber zufrieden. Oder tat wenigstens so. Wahrscheinlich wollte er sich nicht bloßstellen. In der Landesparteischule hatte er dialektischen und historischen Materialismus gebüffelt, und auch das nationale Kulturerbe war erwähnt worden. „Alle Tage ist kein Sonntag" gehörte allerdings kaum dazu.

Die Situation auf Block 40 war an diesem Montag also - so hatte ich gesehen und gehört - fast normal. Obwohl die Luft hier und da zu knistern schien. Ich wollte Gutzeit mit zum Krankenhaus Friedrichshain hinüberlotsen. Aber er wehrte ab. Es gäbe auch hier zu tun, und er könne nicht überall zugleich sein.

Es war etwa Viertel vor acht, als ich auf der Baustelle Bettenhaus eintraf. Sämtliche Brigaden arbeiteten - allerdings erst, nachdem Bauleiter Roepke sie energisch dazu aufgefordert hatte.

Dafür ging es im BGL-Büro der Baustelle wie in einem Wespennest zu. Max Fettling und Georg Brosda schienen Mittelpunkt der ganzen Stalinallee zu sein. Oder sollten es werden. Wie Alfred Metzdorf, der neben Karl Foth, Kurt Bluhm und einigen anderen -wie bereits auf der „Trumpf und im „Rübezahl" - das Sagen hatte. Auch Otto Lembke, Chefbrigadier aller Transportbrigaden der Baustelle, drängte auf Streik, um die Rücknahme der Normenerhöhung zu erzwingen. Und alle zusammen wirkten aggressiv wie ein Wespenschwarm. Manchmal klingelte das Telefon. Die Anrufer wurden dann von Fettling, Brosda oder Hoffmann über die Situation informiert. Einen der Anrufer sprach Fettling mit „Kollegen Stanike" an. Offenbar handelte es sich um meinen Bekannten Bert Stanike von der Maurerbrigade Brüggemann, Block 40.

Nach meiner Erinnerung bemühten sich einige Unbekannte sichtbar um Fettling, Brosda und Metzdorf. Mir fielen sie besonders dadurch auf, daß sie nicht mit der selbstbewußten Sicherheit von Bauarbeitern auftraten, sondern sich recht eckig bewegten Wahrscheinlich waren es dieselben Typen, die Roepke und Sprafke bereits vor drei Tagen aufgefallen waren. Sie steckten in Maurerklamotten und blauen Kombis. Angeblich hatten sie die Kollegen der Baustelle Marchlewskistraße und von Block 40 hergeschickt. Das machte mich stutzig. Denn auf Block 40 war niemand abwesend.

Meine Frage, aus welcher Brigade des Blocks 40 sie kamen, stellte ich zwei- oder dreimal vergebens, bevor man mich überhaupt beachtete. Endlich bequemte sich ein Blondbart zu der widerwilligen Antwort: „Vom Block 40! Reicht's?" Dabei mimte er den Selbstbewußten, doch auf mich wirkte er eher verwirrt.

„Ich bin auch von Block 40", sagte ich und spürte dabei Fettlings unsicheren Blick auf mir. „Dich habe ich noch nie gesehen. Warum bist du nicht bei deinen Kollegen? Die brauchen dich doch."

„Du gehst mir auf den Keks, Mann!" maulte der blondbärtige Große mit verächtlichem Blick auf mein Parteiabzeichen und ließ mich stehen. Ich merkte, daß mich zwei andere in Maurerkluft im Auge behielten. Es war wohl ratsam, den Schwanz einzuziehen und sich zu verkrümeln.

Fettling und Brosda hatten zu dem vorangegangenen Frage- und Antwortspiel geschwiegen und schienen nun erleichtert zu sein.

Metzdorf aber giftete mich an, als ich die offenstehende Budentür passierte: „Wird auch Zeit, du!" Die übrigen Brigadiere und einige im Raum herumlungernde Bauarbeiter verhielten sich ruhig. Aber aus ihren Augen las ich, daß sie Metzdorf zustimmten.

Draußen hatte sich die Lage offenbar verändert. Die Brigaden Metzdorf, Lembke, Foth und Bluhm standen und saßen herum, mehr unschlüssig als rebellisch. Alle anderen gammelten an ihren Arbeitsplatzen, rauchten, redeten, setzten wohl auch mal einen Ziegel - aber so, als hatte man unendlich viel Zeit. Scheinbar sah aber keiner dieses Dahinwurschteln als Streik an, obwohl Bluhm und Metzdorf ihn für heute angekündigt hatten. Es war einfach ein träges Durcheinander. Arbeiten wir, arbeiten wir nicht? Streiken wir, streiken wir nicht? Spielen wir Skat? Holen wir noch einen Kasten Bier vom Kiosk? Geh'n wir nach Hause?

Ein großes „Na, was ist denn nun?!" lag über der Baustelle Bettenhaus Krankenhaus Friedrichshain. Und die anderen Baustellen lauschten zur Leninallee hinauf - ohne die Kellen auf die Mörtelkasten zu stecken, die Maschinen auszuschalten, die LKW abzustellen und „den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen". Aber kurz darauf beriefen Fettling und Brosda eine Baustellenversammlung ein. Nach meinem Erlebnis im BGL-Büro glaubte ich weitere, wahrscheinlich sogar die eigentlichen Urheber dieses Entschlusses zu kennen.

Gustav Rebetzky, Bezirksvorsitzender der IG Bau/Holz Berlin, Gerhard Bienecke, Kreisvorsitzender des FDGB und Betriebsleiter Sprafke erfuhren davon so rechtzeitig. daß sie Punkt neun eintrafen. Die Kulturbaracke war gerammelt voll, die Atmosphäre zum Zerreißen gespannt. Der Präsidiumstisch samt Rednerpult fehlte ebenso wie die gewohnten Fahnen und Transparente. Die mit weißer Farbe auf rotes Tuch gemalte Losung „Zu Ehren des 1. Mai 10 % Normerhöhung" hatten BGL-Vorsitzender und APO-Sekretär bereits vor Tagen abmontiert. Das Bild Walter Ulbrichts war verschwunden, während man das von Wilhelm Pieck nicht angerührt hatte. An der Längsfront sah ich zwei aufgebockte, mit Wachstuchdecke belegte Tische, an denen Fettling, Brosda, Rebetzky, Bienecke und Sprafke Platz nahmen.

Die Baustellenversammlung wurde von Max Fettling eröffnet. Er begrüßte Rebetzky und Bienecke mit betonter Zurückhaltung, Betriebsleiter Sprafke dagegen recht freundlich. Dann ergriff aber auch schon Bienecke, das Wort und erklärte geradeheraus, die 10%ige Normerhöhung werde abstrichlos beibehalten, am Beschluß der Regierung nicht gerüttelt.

Der Speisesaal tobte vor Entrüstung. Aber man ließ Georg Brosda zu Wort kommen, der einen Brief an die Regierung vorschlug.

Transportbrigadier Metzdorf schien nur auf dieses - wahrscheinlich zuvor verabredete - Stichwort gewartet zu haben. Denn er griff die „arbeitermäßige demokratische Idee" als erster auf und hatte auch gleich Formulierungen parat. Seine Freunde Bluhm und „Qualitats"-Foth sowie Transportbrigadier Lembke, Eisenflechter Schuster, Zimmermann Brachwitz und weitere Redner forderten die BGL - insbesondere Vorsitzenden Max Fettling - auf, einen solchen Brief zu entwerfen. Danach gingen Metzdorf und seine Truppe, flankiert von Foth, Bluhm, Lembke und Kameraden noch einen Schritt weiter und verlangten unter dem tosenden Beifall ihrer Brigaden von Rebetzky, Bienecke und Sprafke, die von der Regierung angeordnete Normenerhöhung in einer „Administrativ-Erklärung" sofort für null und nichtig zu erklären. „Andernfalls streiken wir!" schrie Metzdorf in den Saal.

Jeder der 150 bis 180 Anwesenden wußte sicher, daß der Räuberhauptmann und Rebell - wie man Metzdorf später nannte - damit eine schier unmögliche Forderung erhob. Aber es war etwas geschehen und sollte noch mehr geschehen, darauf kam es erst mal an. Die Gewerkschafts- und Parteibürokraten sollten das große Zittern bekommen.

Vergebens bemühten sich die drei Angegriffenen, der Versammlung die Sinnlosigkeit dieses ultimativen Verlangens zu erläutern. Aber jawohl, die Gewerkschaft müsse mit der Regierung sprechen, ihr das Anliegen detailliert vorlegen. Rebetzky wollte sich umgehend darum kümmern. Daran glaubte nicht mal ich, aber Max Fettling stimmte zaghaft zu.

Dagegen redete Brosda den Scharfmachern das Wort, und Metzdorf hielt den Funktionären eisern sein „Streiken!" entgegen. Immer wieder griffen seine Kumpel den Ruf auf. Die Foth-, Bluhm- und Lembkeleute fielen ein, und auch die Halbbrigaden Zechmanns und Joswichs wirkten mit.

„Streik, Leute, Streik ist die Antwort!" feuerte Metzdorf den Saal an, bis mindestens einhundert Männer rhythmisch riefen: „Streiken-streiken-streiken!" und ebenso rhythmisch die flachen Hände auf die Wachstuchdecke schlugen. Dazu stampften noch einige mit ihren Holzpantinen auf den Fußboden.

Gegen dieses Toben kamen Sprafke, Bienecke und Rebetzky nicht an. Sie wirkten völlig hilflos. Max Fettling schaute betreten. Was in dem alten Haudegen Rebetzky vor sich ging, sah man ihm an. Leichenblaß, mit versteinertem Gesicht saß er da, hatte die Greisenhände ineinandergelegt. Dies schien die schwerste Niederlage seines langen Lebens zu sein.'

Da erhob sich plötzlich Max Fettling und versuchte sich mit ausgebreiteten Armen Gehör zu verschaffen. Aber die aufgestachelten Rebellen wollten sich nicht das Heft aus der Hand nehmen lassen und forderten von ihm einen sofortigen Streikaufru,0f bevor er überhaupt den Mund aufmachen konnte. Max Fettling dachte jedoch nicht daran, und die Mehrheit der sechzehnköpfigen BGL hielt zu ihm, obwohl Georg Brosda sie in andere Richtung drängen wollte. Allmählich brachte der Saal sogar mehrheitlich die Polterköppe zur Ruhe, und Max Fettling konnte reden. Er erinnerte an die erste Forderung, den Brief an Grotewohl: „Erst mal sehen, was uns die Regierung zu sagen hat. Sie muß verhandeln. Will sie nicht, streiken wir, klarer Fall. So stelle ich mir Demokratie in Aktion vor."

Die Mehrheit der Versammelten applaudierte und stimmte diesem Vorschlag zu. Nun verließ Rebetzky demonstrativ den Saal. Sprafke verschwand fast unbemerkt. Nur Bienecke wollte nicht aufgeben.

Ungeklärt blieb, wie man sich bis zur Meinungsäußerung der Regierung verhalten sollte. Erst mal weiterarbeiten oder ab sofort keine Hand mehr rühren? Die Mehrheit, an ihrer Spitze die rebellierenden Brigaden, neigte zu letzterem. Aber da keiner der Versammelten das „kleine Einmaleins" des Arbeitskampfes beherrschte - bisher hatte man es ja auch nie gebraucht -, kamen niemandem die zur Streiklegitimation notwendigen Maßnahmen in den Sinn, beispielsweise die Wahl einer Streikleitung. Das bedeutete Illegitimität alles Nachfolgenden. Hier hätten die Westberliner Erfahrungen Georg Brosdas nützlich sein können. Aber seine Mitbringsel beschränkten sich auf Zeitungen, Zigaretten und Kaffee.

Zur Abfassung des Briefes an Ministerpräsident Grotewohl versammelte Max Fettling die Bauleiter, Brigadiere sowie den FDGB-Kreisvorsitzenden Bienecke im BGL-Zimmer. Darüber hinaus war der Block 40 durch Richard Gruhl und Berthold Stanike vertreten. Auch die Baustellen Schule Rüdersdorfer Straße, VP-Inspektion Marchlewskistraße und Staatsoper hatten Informatoren geschickt. Offenbar galt die Baustelle Bettenhaus Krankenhaus Friedrichshain seit der Dampferfahrt als Leitzentrale der Empörung.

Zunächst traten sehr unterschiedliche Gedanken über den Inhalt der Petition zutage. Aber Brosda, Foth, Lembke und Metzdorf lehnten alles ab, was ihren eigenen Vorstellungen an Unduldsamkeit nachstand. Bitten und Betteln komme nicht in Frage, es müsse knallhart gefordert, Grotewohl scharf angegangen werden. Denn er und seine Puppen hätten die ganze Scheiße des beschissenen Lebens eingerührt. Und so weiter. Dieser aggressive Ton gefiel weder Fettling noch den gesetzteren Brigadieren und Bauleitern. Schließlich sollte Fetlling den Brief diktieren. Die übrigen zogen sich zurück und vertrieben sich die Zeit mit Zigaretten, Tee, Muckefuck oder einen Biß in die Frühstücksstullen.

Während Fettling den Entwurf ausarbeitete, betraten zwei Beauftragte der SED-Kreisleitung Friedrichshain die BGL-Bude. Es waren wohl Martin Uhlig, Abteilungsleiter Wirtschaft, sowie der dortige Parteisekretär Willy Achsel. Niemand wußte, wer sie informiert hatte, und es interessierte auch keinen. Max Fettling bat die beiden, den Brief fertigzustellen zu helfen sowie ihn auf eventuell notwendige Korrekturen durchzusehen - aber nur sachlich und sprachlich, nicht politisch.

Den beiden Ankömmlingen verschlug es zunächst den Atem. Doch dann ging Uhlig auf den Vorschlag ein. Offenbar versuchte er, einige Formulierungen abzuschwächen. Bienecke und er flüsterten sich etwas zu und gaben den Entwurf an Fettling zurück. Kurz danach verlas dieser im überfüllten Saal der Kulturbaracke folgenden Brief:

„VEB Industriebau

Baustelle Bettenhaus Friedrichshain

Berlin NO 18

den 15.6.1953

Tel. 53 02 61, Apparat 446

 

Wir Kollegen der Großbaustelle Krankenhaus Friedrichshain vom VEB Industriebau wenden uns an Sie, Herr Ministerpräsident, mit der Bitte, von unseren Sorgen Kenntnis zu nehmen.

Unsere Belegschaft ist der Meinung, daß die 10%ige Normenerhöhung für uns eine große Härte ist. Wi rfordern, daß von dieser Normenerhöhung auf unserer Baustelle Abstand genommen wird.

Wir haben aus dem Ministerratsbeschluß zur Kenntnis genommen, daß alle republikflüchtigen Großbauern und Gewerbetreibenden ihr Eigentum zurückerhalten werden, so daß wir Werktätigen demzufolge unsere Normen, wie sie vorher bestanden, beibehalten wollen.

In Anbetracht der sehr negativen Stimmung der gesamten Belegschaft fordern wir, zu diesen schwerwiegenden Punkten unverzüglich befriedigend Stellung zu nehmen und erwarten Ihre Stellungnahme bis spätestens morgen Mittag.

 

Für die Belegschaft der Baustelle 

BGL Fettling.

 

An den   

Herrn Ministerpräsidenten

Otto Grotewohl

Berlin W

Leipziger Straße."

Sekundenlanges Schweigen, dann rundum allgemeine Zustimmung und Beifall -wie nach dem ersten Vorhang eines befriedigenden Schauspiels.

Bis auf Metzdorf. Er wollte als letzten Satz geschrieben haben: „Andernfalls wird gestreikt. Mit Ausrufezeichen." Doch damit kam er nicht durch, selbst nicht bei den mit ihm verbündeten Brigadieren. Denn es wurde ja ohnehin kaum noch gearbeitet, sondern herumgesessen in der blanken Sonne, ausgedehnt gefrühstückt, gemauschelt, Bier eingefahren und die Beine langgemacht. Manche räumten die Baustraße auf. Andere reinigten ihre Buden. Einer stielte seinen Weichmacher. Jemand nagelte ein Stück Fahrradmantel über seine Pantinen. Doch hier und da setzte auch jemand - verstohlen um sich blickend - einen Stein nach dem anderen, als käme er absolut nicht ohne Arbeit aus.

Die Mitglieder der SED, zweiunddreißig sollen es gewesen sein, verhielten sich ruhig. Viel hatten sie den aufbegehrenden Kollegen ohnedies nicht entgegenzusetzen. Auch sie waren vom Ministerratsbeschluß getroffen worden und wollten - im Namen und Interesse ihrer Familien - die falsch angepackte Normenerhöhung gekippt haben. Nicht mit Streik. Womit aber sonst, das wußten sie auch nicht.

Ihr Parteisekretär hatte es ihnen nicht gesagt, weil er ebenfalls ratlos war. Und nun ließ sich Erich Gutzeit nicht mehr sehen. Er kam selbst dann nicht, als er von dem Grotewohl-Brief und der verschleierten Arbeitsruhe erfuhr. Parteisekretär Rosteck und BGL-Vorsitzender Kuhntopp von der Zentrale des VEB Industriebau blieben auch lieber in sicherer Entfernung.

Die 25jährige Schreibkraft Hildegard Nikodemski tippte und vervielfältigte den Brief. Alle Brigadiere, Bauleiter und Informatoren der zum VEB Industriebau gehörenden Baustellen erhielten ein Exemplar. Georg Brosda gab auch mir eine Durchschrift mit der Aufforderung, den Inhalt während der Mittagspause zu senden.

Mein Rückweg zum Studio führte über Block 40. Auf halber Strecke holte mich Maurer Bert Stanike ein, der von Brigadier Brüggemann als Informator für den Block 40 zum Krankenhaus Friedrichshain geschickt worden war.

Wahrend wir unsere Fahrräder nebeneinander herschoben, berichtete er mir im Plauderton von seinem und Richard Gruhls Auftrag. Für den Fall, daß die Baustelle Bettenhaus den Streik beschloß, sollten sie Fettling und Brosda den unverzüglichen Anschluß des gesamten Block 40 mitteilen - obwohl ein Großteil der dort Beschäftigten und auch die 14 BGL-Mitglieder samt ihrem Vorsitzenden Fischer davon bisher nichts wußten.

Stanike und ich kannten uns seit etwa einem Jahr. Es war eine Alltagsbekanntschaft:, fast wie man Hinz und Kunz kennt. Er wohnte ganz in meiner Nähe. Und da sie sich mit ihrem alten Bäcker verkracht hatten, holten die Stanikes ihre Schrippen bei Willi Kurtzer. In dessen Laden hatte ich den jungen, drahtigen Mann auch kennengelernt. Er besaß Temperament und maß sein Redetalent gern im ulkigen Wettstreit mit dem Bäckermeister.

In den ersten Februartagen 1953 hatte ich erfahren, daß er zu den Fleißigsten gehörte, die nach dem Richtfest auf Block E-Nord seit Januar nebenan weitermachten - auf dem Block 40. Inzwischen war er als Bestarbeiter ausgezeichnet worden und arbeitete immer noch makellos.

Nun redete er pausenlos auf mich ein, als müsse er mich von der Notwendigkeit überzeugen, daß man Arbeitsproduktivität und Normen nur im Zusammenhang mit der Technisierung erhöhen könne. Allerdings hatte ich beinahe den Eindruck, daß er diese Rede im Geiste eigentlich vor einem anderen Auditorium hielt. Und richtig: so etwas gehe nicht mit Zwangsmaßnahmen. Das müsse man den Herrschaften da oben klarmachen, angefangen bei Sprafke und Rebetzky und aufgehört bei Ulbricht und Grotewohl: „Wenn nicht anders, dann eben mit Streik. Wie das funktioniert, werden die schon sehen. Gut, daß wir das Streikrecht haben."

Als ich mich verabschiedete, informierte er mich noch darüber, daß Oberbauleiter Pfeng für nachher eine Zusammenkunft auf Block 40 arrangiert habe, um mit den Putzern über die Normerhöhung zu reden. „Aber die Brigadiere Pfeiffer und Schönböck machen nicht mit."

Wie ich später erfuhr, war währenddessen von den in der Kulturbaracke der Baustelle Krankenhaus Friedrichshain Versammelten auf Zuruf eine Delegation bestimmt worden, die den brisanten Brief zum Haus der Ministerien bringen sollte.

„Kollege Fettling!" „Kollege Bluhm!" „Kollege Rathey aus der Zimmererbrigade Zechmann!" „Kollege Nolte"-, das war Brosda gewesen, der Name kam nicht ganz deutlich heraus. Wahrscheinlich kannte niemand diesen Nolte — aber er war in Maurerkleidung und deshalb okay.

Sofort danach ging Max Fettling zu Werke. Bei Max Rotzner, dem Einsatzleiter für Fahrzeuge, bestellte er ein Auto und erhielt einen kleinen Lieferwagen. Es war trotzdem bereits 13.15 Uhr, als sich Fettling neben den Fahrer setzte und die drei anderen Delegationer auf der Blechpritsche Platz nahmen. Wie durch ein Ehrenspalier fuhren sie zum Tor hinaus und durch frühsommerliches Grün zur Leninallee. Mancher Kollege glaubte, sie nie wiederzusehen. Und den Delegationer Nolte sah man denn auch tatsachlich nicht wieder.

Im Studio empfing mich Paule. Bevor ich heißhungrig meine Stullen hinunterschlingen konnte, informierte er mich über eine gewichtige Beschwerde: „Sei froh, daß du erst jetzt kommst. So 'ne kleine Giftnatter war hier, halb so groß wie dein Schreibtisch Du sollst zu ihr kommen, sonst geht sie zur VP. Wohnt am Strausberger Platz. Brigitte, du weißt, wie sie heißt."

Mir blieb noch eine Stunde bis zur Versammlung auf Block 40. Also steckte ich meine Stullen erst mal in die Jackentasche. Den Grotewohl-Brief legte ich in meinen Schreibtisch. Vorläufig wurde ich ihn nicht senden. Bei allem Verständnis für die Probleme der Bauarbeiter erregten Leute wie Metzdorf, Brosda, Foth und Bluhm, vor allem jedoch der Blondbärtige und seine Truppe in mir allerhand Zweifel.

Nebenan im Technikraum fielen ununterbrochen die Klappen. Meistens wollten die Anrufer Querverbindungen zum Krankenhaus und zu Block 40, aber auch von dort zu den Baustellen Heizkraftwerk Küstriner Platz, Schule Rüdersdorfer Straße und zur VP-Inspektion Marchlewskistraße. Über die beiden Amtsanschlüsse hatten Helga und Paule ungewöhnlich viele Verbindungen zur Baustelle Krankenhaus Friedrichshain und zum Block 40 herzustellen.

„Kotzt mich allmählich an!" schimpfte Burghard. „Sind doch kein Telegrafenamt."

Unsere Studiotelefonzentrale sollte anfangs nur ein sechswöchiges Provisorium sein. Inzwischen war knapp ein Jahr vergangen.

„Die quatschen alle nur von Streik", murrte Paule. „Hier." Er entfaltete einen Zettel „Oberpolier Bredicke, Baustelle Fernheizwerk, fragt Oberpolier Callies, Krankenhaus, wie es mit Streik aussieht. Callies: 'Wir sind mitten in der Vorbereitung.' Baustelle Oettelsbacher Weg fragt dasselbe. Fettling sagt ihm: „Ist noch nichts entschieden.' Brosda erzählt irgend so einem Heini von der Staatsoper: 'Wir streiken, kannst dich drauf verlassen, Willi.' Ein Dr. Hildebrandt wollte wissen, wann gestreikt wird; als ich ihm sagte, wir sind keine Baustelle, wurde der Arsch pampig: 'Ihr müßt doch wissen, was los ist! Natürlich wird gestreikt!' Schlafke, ich glaube C-Süd, fragte Brosda, wann's endlich losgeht, und Brosda antwortete: 'Wenn's geknallt hat.' Irgendein Wörlitz aus den Metall- und Halbzeugwerken kriegt von Brosda fast dieselbe Antwort. BGL-Mitglied Böckert von der Baustelle Halbzeugwerke Schnellerstraße telefonierte mit Brosda; weiß nicht was. Bauleiter Zink, Block 40, sprach mit Roepke, Krankenhaus. Abrechnungstechniker Köhler rief E-Süd, C-Süd, VP-Inspektion und Schule Rüdersdorfer Straße an und sagte Bescheid: 'Wahrscheinlich morgen Streik.' Bauleiter Kersten vom Autohof Weißensee wollte von Roepke was über den Streik wissen."

„Hör' uff, unterbrach Burghard, „und laß das. Wenn sie dich am Arsch kriegen, bist du geliefert."

„Einfach die Stöpsel ziehen", meinte Brigitte.

„Und Schäfer stöpselt wieder rein und scheißt dich an." Burghard schüttelte den Kopf. „Ohne mich."

„Wir brauchen ja nur das Hauptkabel ziehen." Die hellblonde Helga sah mich an. „Ist eben rausgerutscht."

„Und was sagst du der 'Firma', wenn sie telefonieren will und kann nicht?" fragte ich Helga. „Aber ich hab' hier nichts zu sagen; ihr seid die Postler, und der Klappenschrank gehört euch. Übrigens auch, wenn ich nicht hier bin."

Fünf Minuten später saß ich bei der kaum einen Meter sechzig großen Margarete Eibin im Wohnzimmer. Mit Blick auf den Strausberger Platz und in die Allee hinein auf die Blöcke A- und B-Süd, die wie die A- und B-Nord von den Architektenkollektiven Henselmann und Hartmann projektiert worden waren.

Diese Wohnung war Margarete und ihrem Mann Erwin, der als Glaser bei der Firma Wächter im Wedding arbeitete, in Anerkennung ihrer 1.800 Aufbaustunden bei der Enttrümmerung zugewiesen worden. Der Trümmerhaufen, aus dem sie in harter Knochenarbeit bereits viele tausend Ziegel geklaubt, geputzt und gestapelt hatten, lag gleich um die Ecke; ich glaube, das war früher mal die Markuskirche gewesen. Britische Langstreckenbomber hatten sie am 24. November 1944 gegen 23.20 Uhr zu dem gemacht, was die Elbins wegräumten. Mit viel Wut im Bauche, denn sie waren von ebensolchen Bombern dreimal wohnungslos und bettelarm gemacht worden.

„So sauer haben wir uns diese herrliche Wohnung verdient; Erwin und ich." Die Achtunddreißigjährige fuhr sich mit beiden Händen in den dunkelblonden Bubikopf» und die braunen Augen blitzten zornig. „Und dann kommen Sie mit Ihren Erfurter Biestern und machen die Wohnung verrückt. Ruhe wollen wir haben, verstehen Sie? Ich werd' schon im Glühlampenwerk genug verrückt gemacht mit diesem dämlichen Regierungsbeschluß, dem Normenkram und dem idiotischen Gerede von der Notwendigkeit. Mehr will ich dazu nicht sagen. Aus Ihren Tonsäulen ist ja auch noch nichts dagegen rausgekommen. Schön stillhalten, wa?"

Wie sich herausstellte, arbeitete Margarete Eibin in der Normenabteilung des Berliner Glühlampenwerkes und war für die Abteilung Sonderlampe zuständig. Gehorsam hatte sie den verpflichtenden Hinweis des Ministerrates zur Normenerhöhung hingenommen, ohne sich dabei wohlzufühlen. Natürlich wußte sie, daß die Arbeitsproduktivität in der Sonderlampe erhöht werden mußte und auch konnte. Aber nicht administrativ und schon gar nicht von ganz oben herab.

Die Frauen und Männer ihrer Abteilung murrten laut, murrten leiser und leiser und schließlich gar nicht mehr. Nicht, weil sie eingesehen hätten, daß jeder Privatbetrieb mit solch miserabler Arbeitsproduktivät längst, längst pleite gegangen wäre. Nein: sie hatten alle genug „Schweinebraten" im Tischkasten - Reservezeiten. Ein paar Handgriffe weniger und alles etwas schneller als bei der Zeitaufnahme mit der Eibin, eine Pause „zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse" weniger und die anderen etwas kürzer - und schon war der alte Verdienst von 500 bis 600 Mark wieder gesichert.

Dies wußte auch die Eibin, aber sie rührte nicht dran. Den Befehl der Regierung tolerierte sie trotzdem nicht. Ließ sie mal ein Wort dagegen fallen, sahen die meisten Funktionäre sie schief an oder nahmen sie sich in unendlichen „Unterholzdiskussionen" vor. Der alte Betriebsparteisekretär allerdings nicht - soweit ich mich erinnere, hieß er Heinz Päch. Die Kollegen der Sonderlampe fanden ihn angenehm, kollegial, insgesamt ganz ordentlich. Weniger angenehm bis unausstehlich erschien ihnen nun sein Nachfolger Eliaschewitz. Die Eibin beschrieb ihn als aalglatten Streber vom Scheitel bis zur Sohle, der offenbar den Marxismus-Leninismus - so wie er in der DDR zurechtgezimmert worden war - mit Löffeln gefressen zu haben glaubte.

Es brauchte nicht viel, daß die lütte Eibin und ich „abgebrochener Riese" uns über die notwendige Ruhe für ihre Wohnung verständigten. Auch in der Frage Normenerhöhung fanden wir bald die gleiche Antenne. Nachdem ich mich von der kleinen Rundlichen verabschiedet hatte, waren sie und ich beruhigt. Sie würde sich jedenfalls nicht bei Oberkommissar Krüger beschweren.

Als ich hinaustrat, lag die pralle Mittagssonne auf dem unerquicklichen staubigwirren Durcheinander des Strausberger Platzes.

Kurze Zeit vor - oder nachher war auch der schmuddeliggraue Lieferwagen am Haupteingang des Hauses der Ministerien vorgefahren. Max Fettling stieg aus, zupfte den eigens für diesen Auftritt angelegten blauen Schlips und den braunen Sakko zurecht und begab sich zur Anmeldung. Seine Begleiter sprangen vom Plattenwagen und warteten erst einmal ab. Sie hatten sich nicht wie Maxe in Schale geworfen, sondern die Arbeitsklamotten mit der Wegkleidung getauscht. Ganz normal wollten sie aussehen und auftreten.

Die Polizeipförtner schickten den Trupp zum Eingang um die Ecke. Da saßen ebenfalls Volkspolizisten. Die hörten sich das seltsame Anliegen Fettlings an und telefonierten hinter zugeschobenen Fenstern. Danach erschien ein staatlicher Herr und übernahm die Delegation. Er führte sie über einen langen Hof, zwei Treppen hinauf und in die Besucherkanzlei des Ministerpräsidenten, wo ein solide gekleidetes und geschminktes Fräulein - sie war etwa Mitte Zwanzig - und ein zwar schwarzgekleideter aber sportlich und etwas jünger wirkender Mann bereits auf sie warteten. Das Fräulein stellte sich mit „Plaschke" und ihr Kollege sich als „Ambree" vor - Mitarbeiter in der Kanzlei des Genossen Ministerpräsidenten.

Spätestens jetzt wäre Rathey am liebsten umgekehrt, so voll hatte er die Hose. Auch Fetting und Nolte kamen offenkundig ins Schwitzen. Weniger Kurt Bluhm, allerdings auch er mit reichlich Spannung in der Brust und wie die anderen nicht fähig, das Umfeld bewußt in Augenschein zu nehmen. Pieck hing da und Marx, Engels auch meinten sie sich hinterher zu erinnern. Daß es ein Stalinbild war, nahmen sie danach an, da sie sich schwach an einen Trauerflor erinnerten. Aber Lenin hatten sie nicht gesehen, darauf hatten alle schworen können.

Ehe der offizielle Teil begann, servierte eine „Empfangsgenossin oder so was ähnliches" eisgekühlte Selters. Die Baumänner hatten auch Bohnenkaffee oder Eistee haben können. Aber aufkommende Hitzegefühle und gewohnte Bescheidenheit ließen sie um Selters bitten, die auch allen guttat.

Nachdem die Bevollmächtigten des Ministerpräsidenten das Schreiben stirnrunzelnd gelesen hatten, redete zunächst die Plaschke, protokollierte sozusagen: die Bauarbeiter hatten begriffen, daß die Erarbeitung technisch begründeter Arbeitsnormen die Voraussetzung für eine Steigerung der Arbeitsproduktivität ist und die Erhöhung der Arbeitsproduktivität wiederum Grundbedingung jedes besseren und zu verbessernden Lebens

Max Fettling hielt freundlich dagegen, das alles setze aber bessere Arbeitsorganisation und verbesserte Technik voraus, die jetzige Normenerhöhung sei eine unverantwortliche physische, psychische und materielle Belastung der Bauarbeiter.

Danach äußerte Ambree, es sei nicht richtig gewesen, die vom Ministerrat geforderte Normenerhöhung administrativ durchsetzen zu wollen; die Fachministerien hatten das sofort zu stoppen.

„Das muß bis morgen dreizehn Uhr erledigt sein", redete Nolte los, „sonst streiken wir."

Wahrend sich Plaschke und Ambree erschrocken ansahen, bremste Fettling den Kollegen. „Na, na, na, na. Davon ist keine Rede. Weder BGL noch die Vollversammlung heute vormittag hat das beschlossen." Und - zu den Bevollmächtigten gewandt: „Nein, nein, so ist es nicht. Stimmt’s?"

Rathey und Bluhm nickten. Aber der BGL-Vorsitzende mußte noch sein Herz ausschütten „Das Aufbauministenum macht ja doch nicht, was es jetzt machen mußte Staatssekretär Hafrang redet und redet. Bruno Baum vom Landesvorstand der SED genauso. Er fordert von uns Kubikmeter-Kubikmeter-Kubikmeter. Statt 4.700 Steine in der Schicht 4.800, 4 900. Das schafft keine Sau, auch nicht nach sowjetischen Methoden; Dreiersystem, Vierersystem, mein Gott...! Oft in beleidigendem Ton wie ein preußischer Feldwebel "

„TAN-Bearbeiter und Lohnbüro ziehen einfach 10 Prozent ab, das ist die Normerhöhung des Ministerrates." Bluhm war gestikulierend aufgestanden, mehr unsicher als erregt.

„Das ist Diktatur", entschied Nolte „Wißt ihr, was das heißt, vierzig, fünfzig Mark weniger im Portemonnaie? Ach, kommt doch." Er wandte sich ab.

So ungefähr verlief das Gespräch, erfuhr ich von Fettling und später aus dem Protokoll Plaschke/Ambree.

Als sich Max Fettling verabschiedete, gestand er den Regierungsangestellten: „Wenn man mit den Bauarbeitern offen und ehrlich über Notwendigkeit und die Art und Weise der neuen, technisch begründeten Arbeitsnormen gesprochen und die Baustellentechnik ergänzt und modernisiert hatte, also neue Normen zu erreichen, wäre es auf unseren Baustellen nie zu den Unruhen gekommen, wie wir sie jetzt haben. Die Regierung hätte die Normenerhöhung nicht so drastisch gefordert ... na ja, es war ja die Partei, nicht?"

Fraulein Plaschke und Herr Ambree antworteten darauf nicht. Sie drückten den Männern freundlich die Hand und versicherten, „den Brief dem Genossen Ministerpräsidenten frühestmöglich zu" Kenntnis zu geben "

Fettling, Bluhm, Rathey und Nolte hatten sicher noch nicht den langen Hofgang hinter sich gebracht, da schlugen Plaschke und Ambree dem persönlichen Mitarbeiter des Ministerpräsidenten, Tzschorn, vor, Otto Grotewohl den Brief sofort vorzulegen, ebenso abschriftlich Staatssekretär Josef Hafrang mit Dringlichkeitshinweis um Stellungnahme und dem Zusatz, eindringlich mit Bruno Baum über dessen Auftreten zu sprechen. Es scheine sich etwas zusammenzubrauen, was der Klassenfeind ausnutzen konnte.

Danach hoppelte der Kleinlieferwagen mit den Delegierten zum Krankenhaus Friednchshain zurück. Werner oder Bruno Nolte oder wie er hieß, hatte sich schon am Alex absetzen lassen. Nie mehr wurde er gesehen.

Inzwischen war ich pünktlich auf Block 40 eingetroffen, um an der von Oberbauleiter Pfeng anberaumten Besprechung mit einigen Putzerbrigaden teilzunehmen. Er wollte mit ihnen beraten, wie es mit der Normenerhöhung weitergehen sollte. Eigentlich war von allen Brigaden der Baustelle Block 40 die 10%ige Normenerhöhung bereits zu Ehren des 1. Mai 1953 beschlossen worden. Und genau dies hatten sie auch am 23. April 1953 in der FDGB-Zeitung „Tribüne" bekanntgegeben. Allerdings unter der Voraussetzung, daß technisch begründete Arbeitsnormen erarbeitet wurden. Das nachfolgende Chaos war erst durch den dummen Regierungsbeschluß und den Versuch seiner administrativen Durchsetzung hervorgerufen worden.

In der Essenbaracke warteten nicht nur die Putzer, sondern rund 200 erregte Bauarbeiter, während etwa doppelt so viele weiterarbeiteten. Bereits vor Ankunft des Oberbauleiters schwangen sich die Brigadiere Pfeiffer und Schönböck zu Versammlungsleitern auf. Als Otto Pfeng die Baracke betrat, hieß es dann einfach: „Otto, komm her. Setz dich da vorne hin. Laß' Niko kommen mit ihrer Schreibmaschine. Wir schreiben jetzt einen Brief an Otto Grotewohl". (Hildegard Nikodemski galt als Sekretärin Pfengs, half aber auch auf der Baustelle Krankenhaus aus.) Für diesen Überraschungscoup ernteten die beiden Szenenapplaus wie nach einem gelungen Gag im Metropoltheater. Oberbauleiter Pfeng nahm pikiert zwischen Schönböck und Pfeiffer Platz. Am gleichen Tisch saßen bereits Parteisekretär Gutzeit, BGL-Vorsitzender Fischer und Betriebsleiter Sprafke.

Ein Putzer lief los, die Sekretärin zu holen, schleppte auch ihre uralte, schwere Schreibmaschine herbei und stuckte sie zu Nikos Entsetzen hart auf den Tisch.

Danach überreichte Bert Stanike dem BGL-Vorsitzenden das Schreiben der Baustelle Krankenhaus Friedrichshain an Otto Grotewohl. Fischer las und wollte es zerreißen. Werner Gutzeit nahm ihm das Papier jedoch aus der Hand: dieses Machwerk müsse bekanntgemacht werden. Aber während Hucker Kurt Schultz den Brief in seinem Auftrag vorlas, herrschte Mäuschenstille in der Essenbaracke, und am Schluß klatschten nahezu alle 200 Bauarbeiter.

Man sah Werner Gutzeit die Enttäuschung an. Er schien immer kleiner zu werden.

Die bekannten Brigaden waren nicht anwesend. Auch Brüggemann und Gruhl ließen sich nicht sehen. Nach Hein Görlich brauchte ich gar nicht Ausschau zu halten; er mied allen „Scheißrummel".

Aus der beabsichtigten Diskussion über die Erhöhung der Normen wurde nichts. Zaghaft und spärlich klang allenfalls an, daß man sie eigentlich zum 1. Mai habe erhöhen wollen. Nach der Regierungsanweisung sähe nun alles anders aus - diese Stimmung dominierte. Und Oberhand gewann schließlich die Meinung, jede weitere Diskussion erübrige sich. Jetzt müsse nach dem Beispiel der Baustelle Krankenhaus gehandelt werden.

Die Weigerung der anwesenden Betriebsfunktionäre, ein gleichartiges Schreiben an den Ministerpräsidenten zu verfassen, wurde von Gruppen mit Murren quittiert. Danach machten sich Pfeiffer, Schönböck und zwei oder drei Putzer daran, den Brief der Baustelle Krankenhaus in einen von Block 40 umzuformulieren. Dieses Produkt schrieb Hilde Nikodemski ab, und zwar gleich mit mehreren Durchschlägen für die Baustellen Heizkraftwerk, VP-Inspektion Marchlewskistraße und Staatsoper. Schönböck las nochmals vor, alle Bauarbeiter stimmten durch Erheben der Hand zu und gingen anschließend wieder nach draußen in ihre Buden und an die Arbeit. Allerdings nicht so, als stünden sie im Leistungslohn, sondern nachdenklich, unlustig und irritiert.

Die Aufgabe, den Brief anderntags zum Ministerrat zu bringen, übernahm Alfred Berlin, Betonbauerbrigadier von der Baustelle Heizkraftwerk Küstriner Platz. Man vertraute ihm. Er galt als außerordentlich aktiver Brigadier, den man überall dorthin delegierte, wo Präsidien und Ehrentribünen mit Persönlichkeiten der Arbeiterklasse zu besetzen waren. So einer konnte nun auch mal eine Lippe riskieren. Er war gekommen, hatte in der Versammlung allerdings kaum etwas gesagt und wollte schnell zum Küstriner Platz zurück.

Noch am gleichen Nachmittag brach auf der Baustelle Krankenhaus ein Krawall aus. Metzdorf mit seinen Brigademitgliedern sowie der Blondbärtige und dessen Truppe versuchten die arbeitende Mehrheit von den Gerüsten und Decken herunterzuholen und so den Streik auszulösen. Unten lungerten bereits die Kollegen der Brigaden Foth, Lembke, Rust und Bluhm herum. Aber auch dieser und jener aus anderen Brigaden stieg die Leiter hinunter und gesellte sich unschlüssig zu den Rufenden oder verschwand in seiner Baubude, als das Häuflein nur langsam zunahm.

Fettling, Brosda, Foth, Lembke und andere BGL-Mitglieder hielten sich im Gewerkschaftsbüro auf und traten nicht in Erscheinung. Auf Nachfrage erfuhren die draußen Wartenden, daß die Mehrheit der BGL einen Streik zum gegenwärtigen Zeitpunkt für falsch halte. Erst solle Grotewohl den Brief lesen und eine Entscheidung treffen. Außerdem sei zuvor eine Streikurabstimmung durchzuführen, wie man von den dutzendfach durchgeführten Arbeitskämpfen der westdeutschen Klassenbrüder lernen könne. Die BGL dürfe keinesfalls einfach zum Streik aufrufen. Und schon gar nicht, verkündete Max Fettling, der BGL-Vorsitzende alleine. Ihm fehlte in diesen kritischen Augenblicken sein alter, erfahrener Freund Otto Pfeng sehr. Denn Foth, Lembke und Brosda wollten den Streikbeschluß der BGL unbedingt herbeiführen.

Während dieses Murrens und Wortgemenges drinnen und draußen traf der Leiter der Abteilung Arbeit im VEB Industriebau, Meissner, ein. Er sollte die Betriebsleitung repräsentieren, da Sprafke auf Block 40 festsaß, der Technische Leiter Gerhard Busse auf der Baustelle Rüdersdorfer Straße eingesetzt war und sich Kollege Kühntopp, der BGL-Vorsitzende des Betriebes auf der Baustelle VP-Inspektion befand.

Meissner war als standhafter Verfechter von Recht und Gesetz bekannt. Zuweilen fuhr er aus der Haut, wenn man Gesetze beschädigte und vorgab, sie einzuhalten. Allerdings auch, wenn der Maurer Ruck und der Zimmerer Zuck jeden Tag zum Frühstück eine Flasche Bier auspackten und Kollege Ruckzuck sie deshalb anscheißen wollte.

Die BGL ging nach draußen.

„Wir werden streiken, verlaß dich drauf, versuchte Max Fettling den Brigadier Metzdorf zu beruhigen, „und das bringen wir ganz sauber über die Bühne. Aber nicht, bevor Grotewohl unseren Brief hat."

„Da kannst du bis Ultimo warten. Ultimo Juni, Ultimo Juli, Ultimo 1953."

„Bis du alt und grau geworden bist", unterstützte Foth.

„Für die bist du der letzte Dreck!" schnaufte der Blondbärtige.

„Und wer bist du?" fragte ihn Meissner. „Wieso stehst du hier rum, während deine Kumpel arbeiten?" Er sah Fettling und Brosda an, denn von Sprafke wußte er, daß sich Fremde auf dem Bau herumgetrieben hatten. Auch auf Block E-Süd - und danach hatten Steinmetz Sandow und Zimmerer Homuth „die große Gusche" gehabt.

Fettling hob die Schultern und verzog das Gesicht. Da schien Metzdorf Schlimmes zu ahnen. Um es abzuwenden oder wenigstens zu verzögern, fuhr er Meissner an: „Und wieso stehst du hier und mischst dich in unsere Sache? Was hier passiert...!"

„Was hier passiert!" schrie Meissner zurück. „Was passiert denn hier?! Du wiegelst auf! Du willst die BGL aufhetzen, Streik auszurufen! Gegen die Regierung!"

„Ja!" brüllte Metzdorf. „Ja, Mensch! Was weg muß, muß weg! Aber das kapierst du ja nicht! Weil du auch so einer bist! Weißt du was? Du kannst mich mal am Arsch lecken. Kreuzweise!"

Meissner bebte vor Zorn, aber Fettling hielt ihn zurück. Im Faustkampf mußte der bereits etwas ältere Meissner unterliegen.

„Na, komm!" Metzdorfs gehässiges Grinsen ließ an seiner zunehmenden Aggressivität keinen Zweifel. „Im Speisesaal schmeckt's besonders gut. Mein Arsch ist Klasse Komm, komm, komm." Doch dann stutzte er einen Moment. Das Feld hatte sich sichtbar geleert. Vom Blondbärtigen und seiner Truppe keine Spur mehr. Auch Metzdorfs eigene Kollegen verzogen sich unauffällig, schrittweise. Er hatte sich einige erst vor ein paar Wochen von anderen Baustellen geholt, und sie hatten sich seitdem besonders durch ihr rauhes Auftreten hervorgetan. Aber nun schienen sie vorauszusehen, daß nicht Metzdorf der Sieger dieses Scharmützels sein werde.

„Komm schon, komm schon", provozierte Metzdorf weiter. Doch seine Stimme wirkte weniger sicher, und er trat auch den Rückzug in die weiter hinten liegende Brigadebude an.

Nach dieser Szene wurde Alfred Metzdorf nie mehr auf der Baustelle gesehen. Angeblich soll er auf dem Heimweg erfahren haben, daß zwei Zivilisten zu Hause bereits den ganzen Tag auf ihn warteten. Er tauchte spurlos in Westberlin unter. Drei andere aus seiner Brigade erschienen danach auch nicht wieder zur Arbeit, während die enttäuschten Resttransporter den Kraftfahrer Mosler als neuen Brigadier einsetzten.

Kurz vor 20 Uhr klingelten meine Mitmieter, der Major des Grenztruppenstabes und der Mann aus der Präsidialkanzlei, an meiner Wohnungstür. Vorher hatten aus dem gleichen Grund schon der Doktorand über mir und der Kriminalkommissar angerufen.

„Warum sagst du uns nicht, daß in der Stalinallee Proteststreiks waren?", hielten die beiden mir vor. „Im Krankenhaus auch, und in der Marchlewskistraße."

„Unsere haben nichts gebracht." Ich meinte unsere Radiosender.

Man winkte ab. „Na ja, unsere ...".

Die Fragen überraschten mich nicht. Wahrscheinlich hatte der RIAS die Streikmeldung in seinen Abendnachrichten 19.30 Uhr gebracht. Ich hörte sie sonst auch. Zumeist wurden sie von Knut Kucharski gesprochen.

Über die Baustelle VP-Inspektion wußte ich nicht Bescheid, dafür aber um so mehr von den Baustellen Block 40 und Bettenhaus Friedrichshain. „Glatte Lüge des RIAS“, konnte ich daher antworten. Dessen Chefredakteur war damals Egon Bahr, und der Programmdirektor hieß Eberhard Schütz. Es war bei weitem nicht die erste „Ente“ einer freien Stimme der freien Welt. Aber ich nahm mir vor, diese am Dienstag auf den Baustellen besonders gründlich zu rupfen.

Allerdings begann der Tag dann anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Mitten im Zurechtzimmern meiner Sendung drehte Paule den RIAS lauter. Dran war wieder mal die altbekannte Reihe „Werktag in der Zone". Neu war, daß man den „Zonisten" einen Artikel im heutigen „Neuen Deutschland" als Lektüre empfahl. Titel „Es wird Zeit, den Holzhammer zur Seite zu legen". Autoren: Käthe Stern und Siegfried Grün. Aber alle Kritik an Holzhammermethoden, Administrieren und Dirigieren - mit Namen und Adressen! - ließ der amerikanische Sender weg. Dafür stellte er etwas anderes in den Mittelpunkt, klopfte mit einem Hinweis an die Köpfe der Ostberliner und sonstigen Einwohner der „Soffjetzone": daß nämlich der Ministerratsbeschluß zur 10%igen Normerhohung noch immer gelte.

Wenig später tauchte Gustav Rebetzky bei uns auf, legte mir die „Tribüne" auf den Tisch und klopfte mit dem Zeigefinger auf den Leitartikel. „Das solltest du lesen."

Die Überschrift lautete „Zu einigen schädlichen Erscheinungen bei der Erhöhung der Arbeitsnormen".

„Wann sendest du?" wollte der Grauhaarige wissen, bevor er ging.

„Muß ich erst mal lesen".

Es war ein langer Beitrag, und er bestand aus arg verschachtelten Sätzen. Nachdem ich mir die wichtigsten Passagen mehrfach zu Gemüte geführt hatte, schien klar zu sein: der Ministerrat hatte genau das angeregt und vorgeschlagen, was für die Steigerung der Arbeitsproduktivität notwendig war. Verbesserte Arbeitsorganisation, neue Arbeitsmethoden, Technisierung und Qualifizierung. Mit dem gleichen Arbeitsaufwand mehr, besser und billiger produzieren. Anders funktionierte es in keiner modernen Wirtschaft. Auch nicht in der kapitalistischen.

Trotzdem hatte ich keine Traute, Otto Lehmanns Artikel auf die Baustellen zu schicken, nicht mal als Kommentar. Denn da gab es durchaus auch Sätze, die „nach hinten losgehen" konnten. Am meisten erschreckten mich solche Formulierungen wie: „Jawohl, die Beschlüsse über die Erhöhung der Normen sind in vollem Umfang richtig". Und: „... gilt es, den Beschluß des Ministerrates über die Erhöhung der Arbeitsnormen um durchschnittlich 10 Prozent bis zum 30. Juni 1953 mit aller Kraft durchzuführen." Daraus konnte abgeleitet werden - und dies war ja auch schon in vollem Gange - daß die bereits erfolgten Normenerhöhungen samt der daraus resultierenden Lohnsenkungen auch ohne verbesserte technologische Voraussetzungen regierungsamtlich festgeschrieben bzw. unbedingt durchzusetzen waren.

Bevor mich der eine oder andere meiner direkten und indirekten Vorgesetzten nochmals zur Sendung des Artikels anhalten konnte, machte ich mich aus dem Staube. Die „Tribüne" steckte in meiner Brusttasche.

Nach Überquerung der Koppenstraße stand ich vor dem Block C-Süd. Hier kannte man mich kaum. Da der Block bereits seit Januar bewohnt war, beschallten wir ihn nicht mehr. Zum einen hätten wir die mit Dach-, Laden-, Fliesen- und Balkonarbeiten Beschäftigten kaum erreicht, und zum anderen wollten wir die Mieter nicht belästigen.

Ich versuchte mich zu Horst Schlafke durchzufragen. Die meisten kannten ihn nicht einmal vom Ansehen. Erst wenn ich sagte: „Der am Sonnabend den Streik haben wollte ...", ahnte oder wußte man, wen ich meinte. Mancher reagierte dann zuruckhaltend: „Ach, der ..." Möglicherweise hielt man mich für einen „Geheimen", vielleicht auch für Schlafkes Verbündeten. Der eine oder andere wollte mir suchen helfen Hin und wieder hob man abweisend die Schultern und ließ mich wortlos stehen. Andere antworteten barsch : „Kenn' ich nicht!"

Auf diese Weise klapperte ich so ziemlich den ganzen Bau ab und verlor schließlich mit jedem Schritt mehr die Lust auf das beabsichtigte Kennenlernen.

„Der läuft bestimmt schon wieder rum und macht Stimmung", erfuhr ich von Bauleiter Karl Dietrich. Zunächst hielt ich ihn für den Bauleiter Fritz Ritter, der jedoch hatte längst einen anderen Bau übernommen, weil C-Süd auslief. „Wenn Schlafke so weitermacht, fliegt er", grummelte Dietrich und schien plötzlich mißtrauisch zu werden: „Wer bist denn du?"

Da ich ihn nicht noch mehr verärgern wollte, bot ich ihm eine Zigarette an und stellte mich vor.

„Ach so", reagierte er, kaum freundlicher als bisher. „Willst du etwa deine Dudelkisten wieder aufstellen? War ja manchmal nicht schlecht, nee, nee, kann man nicht sagen. Aber deine ewige politische Berieselung ging mir auf den Sack." Plötzlich, als hätte er Augen in seiner Manchesterhose, machte er kehrt und schnarrte einen gerade aufgetauchten Bauarbeiter an: „Wo treibst du dich dauernd rum?! Auf dem Dachgarten haben sie kein Material! Jetzt aber hopp-hopp, Freundchen!"

Der aber hielt ihm eine Zeitung hin: „Hier, Alter, die 'Tribüne'. Kiek rin, da schnallste ab. Die auf Block 40 streiken schon."

„Scheiß was auf deine 'Tribüne'. Hau endlich ran, Kollege Schlafke, eh' ich aus der Haut fahr'!"

Dietrich ließ uns stehen und verschwand in einem der ausbaufähigen Läden, wo später die „Karl-Marx-Buchhandlung" eingerichtet wurde. Also im Westflügel, den das Baukollektiv „Friedrich Ebert" errichtet hatte, in dem sich besonders die Maurerbrigade Conradt und die Putzerbrigade Heflik hervorgetan hatten. Aber sie waren schon über alle Berge. Auch die im Oktober '52 schwer verunglückte Maschinistin Emma Salomo. Ich glaube, sie bediente inzwischen einen Aufzug auf Block G-Nord.

„Arschloch!" knirschte Schlafke dem Bauleiter nach. Sein kantiges, sonst wahrscheinlich blasses Gesicht war nun rot vor Ärger bis hinauf in die fliehende Stirn mit den auffälligen Geheimratsecken im blonden, nackenlangen Haar. Die schmalen Lippen preßte er aufeinander, als müsse er sich ein weiteres „Arschloch" verkneifen. „Hau ab, du Knilch! Oder willst du was?" Er ging zur nächsten „Hexe", belud sie mit Dachmaterial und schickte sie hoch.

Währenddessen schoß mir allerhand durch den Kopf; vieles davon reif und hart genug, es ihm nachzurufen. Aber auch manche traurige Überlegung dabei.

Wie der drei Jahre jüngere Schlafke war ich durch die Hitlerjugend gegangen und begeistert in den Krieg gezogen. Es konnte nicht sein, daß ihm nur meine schwere Verwundung fehlte, um in Schmerz und Todesangst nach den Ursachen des Krieges zu suchen. Sowie nach Möglichkeiten und Garantien, ihn künftig zu vermeiden. Meine Erkenntnisse ließen mich nach der Heimkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft folgerichtig jenen Pfad einschlagen, der mich am 16. Juni 1953, sieben Uhr dreißig, zu Schlafke geführt hatte. Horst Schlafke war wie ich im Feindesland gefangen gewesen. Aber er hatte danach offenbar keinen besseren Weg gesucht, sondern war ein Nazijunge geblieben.

Ich lief über den Damm zurück, holte Paules Rad aus der Kulturbaracke und beeilte mich, auf Block 40 zu kommen. Was ich dort vorfand, war weder Friedhofsruhe, noch Schlafkes „Die auf Block 40 streiken schon". Es roch nicht nach Kundgebungsatmosphäre und sah auch nicht nach „Sturm im Wasserglas" aus.

Die Morgensonne beleuchtete eine geschäftige Bewegung auf allen Häusern, freilich in verschiedenen Qualitäten und Tempi. Denn wenn man eine der Leitern hinaufstieg, machte man überall Arbeite-langsam-Brigaden oder kleine Gesprächsgruppen aus.

Parteisekretär Gutzeit, BGL-Vorsitzender Fischer, Oberbauleiter Pfeng sowie der Bezirksvorsitzende der Industriegewerkschaft, Rebetzky mit seinen Instrukteuren Hans Pospich und Willi Recker trampelten herum wie mißtrauische Hähne in einem vom Fuchs bedrohten Hühnerhof.

„Bin froh, daß dein Radio heute Sendepause hat", empfing mich Pfeng, „und nichts Politisches bringt."

Gegen acht Uhr traf ein sehr kleiner, dicklicher Mann ein, vielleicht dreißig Jahre alt und höchstens einen Meter fünfundfünfzig groß. Seines Namens bin ich mir nicht mehr sicher. Vielleicht hieß er Peter Nies. Vielleicht. Jedenfalls kam er vom ZK und sollte als Verbindungsmann zur Stalinallee wirken. Deshalb telefonierte er wohl auch ständig. Inzwischen waren weitere zwei Instrukteure des Bezirksvorstandes der IG Bau-Holz angekommen, an deren Namen ich mich überhaupt nicht erinnere. Gemeinsam vertrödelten wir unsere Zeit in Unruhe und Besorgnis.

Es muß gegen 9 Uhr gewesen sein, als mehr und mehr Bauarbeiter von den Häusern herunterkamen und sich in unserer Nähe versammelten. Danach begannen sie interessierte, gereizte bis provokative aber scheinbar immer noch um Klärung bemühte Unterhaltungen. Ich bemerkte, daß auch der siebenundzwanzigjährige Brigadier Alfred Berlin vom Küstriner Platz wieder dabei war.

In einer etwa zwanzig Mann starken Gruppe um Otto Brüggemann und Richard Gruhl wurde es plötzlich recht laut. Die beiden vorbildlichen Brigadiere genossen allgemeines Ansehen, denn „ihre" Häuser 13 und 14 waren den anderen stets um ein halbes Stockwerk voraus. Aber nun hatte ihnen irgend jemand die „Tribüne" zugesteckt, in der auf Seite eins rechts sowie umseitig bestimmte Zeilen rot angestrichen waren. Die sie denn offenbar auch ausschließlich lasen. Selbstverständlich waren es gerade jene Absätze, die einfach Verwirrung und Zorn auslösen mußten - vor allem, wenn man sie aus dem Zusammenhang riß.

„Hört mal zu!" rief Otto Brüggemann. „Ruhe!"

Überall ringsum wiederholte man seine Aufforderung, und die vielen kleinen Gruppen vereinigten sich zu einer etwa hundertköpfigen Versammlung.

„Hier steht", verkündete der Fünfundvierzigjährige aus Falkensee, „So wurde zum Beispiel zum Schaden des erfolgreichen Kampfes um die Steigerung der Arbeitsproduktivität durch die Erhöhung der Arbeitsnormen eine gefährliche und reaktionäre 'Theorie' und Praxis entwickelt, die darauf hinausläuft, daß die Normenerhöhung eine Lohnsenkung zur Folge haben muß."

Ein allgemeiner Aufschrei, höhnisches Lachen. Der achtundzwanzigjährige Richard Gruhl aus Saarmund rief in aufbrausendem Zorn: „Wir sind also die Reaktionäre! Weil wir sagen, was wir haben, nämlich jede Menge Lohnkürzung durch die Anordnung der Regierung! Oder nicht?"

„Unsere Zeitung schreibt das?!" rief Stanike und sah zu mir herüber. Ich nickte ohne es eigentlich zu wollen.

„Die Zeitung der SED!" rief Brüggemann. „Das ist nicht unsere Zeitung, Kollegen. Die Zeitung der SED!"

„Dem Schreiberling sollte man das Maul zumauern!" „Klamotten hinschmeißen ist die beste Antwort!" „Weiterlesen!" „Auslesen lassen!" „Wozu denn? Streiken!"

„Nicht so voreilig," rief der BGL-Vorsitzende Fischer. „Das will überlegt sein. Man muß versuchen, mit den Brüdern zu reden." Lautes, spöttisches Gelächter. Doch Fischer fuhr fort: „Ja, reden. Auch hier gilt: solange man redet, wird nicht geschossen. Wir werden ja sehen. Wenn sie nicht mit uns reden wollen, zwingen wir sie dazu."

„Red' mal mit der Kuh französisch, wenn sie nicht englisch kann!" rief einer unter dem Beifall der anderen.

Gruhl nahm Brüggemann die „Tribüne" aus der Hand, suchte kurz und las dann laut: „Hier, noch was! Hört zu! 'Jawohl, die Beschlüsse über die Erhöhung der Normen sind in vollem Umfang richtig!' - Und da willst du reden?"

Ein zorniger Aufschrei stieg in den blauen Himmel. „Nein, niemals! Verrat an der Arbeiterklasse! Zum Teufel jagen!"

 Brüggemann las inzwischen weiter, aber in dem Trubel hörte kaum einer zu. Erst der Schluß erreichte wieder alle: „... 'gilt es', hört gut zu, Kollegen: 'gilt es, den Beschluß des Ministerrates über die Erhöhung der Arbeitsnormen um durchschnittlich 10 Prozent bis zum 30. Juni 1953 mit aller Kraft durchzusetzen.'"

Pfuirufe. „Schweine!" „Bonzenregierung!" „Streiken! Streiken! Streiken!"

Gutzeit, Fischer, der Kleine vom ZK, Pfeng, Rebetzky und die beiden vom Bezirksvorstand hatten Otto Lehmanns Artikel ebenfalls gelesen - und zwar in voller Länge. Das versuchten sie nun für eine Aussprache mit den erregten Arbeitern zu nutzen. Auch sie zitierten die „Tribüne" - allerdings vor allem jene Stellen, aus denen hervorging, daß neue Normen nur in Gemeinsamkeit zwischen Normierer und Brigaden sowie im Zusammenhang mit technischen Verbesserungen erarbeitet werden durften. Niemals administrativ.

Genaugenommen lenkten sie ein, verunsicherten damit die Empörten. Die meisten schienen sich tatsächlich zu beruhigen. Eine Ausnahme bildeten jene, die offenbar nichts verstehen wollten. Sehr viele hörten aufmerksam zu. Manche wiesen allerdings auch darauf hin, daß der Beschluß der Regierung bereits administrativ umgesetzt worden sei: man habe ja bereits zehn Prozent weniger Lohn bekommen.

„Tut bloß nicht so!" schrie Brüggemann den Funktionären ins Gesicht.

„Ist das so, ist Sense!" unterstützte ihn Stanike.

„Wollt uns einlullen, wa?" rief einer von ganz hinten.

Beschwörend versprachen Sprafke, Pfeng und Fischer, sich „... noch heute um die Normengeschichte zu kümmern. Und wo nachweislich zu wenig Lohn gezahlt worden ist, wird das bereinigt. Rückwirkend, ja. Wir betrachten das als innerbetriebliche Angelegenheit." Der Dickliche vom ZK, Parteisekretär Gutzeit, Gustav Rebetzky und einige andere in Zivil machten dazu saure Gesichter.

Allmählich kam die inzwischen auf mehr als zweihundert Mann angewachsene Versammlung zur Ruhe. Einige wanderten zu ihren Häusern ab. Andere trauten dem Frieden nicht recht. Und manche hatten noch miteinander über den „Regierungsklumpatsch" zu reden, darunter die Maurerbrigaden Gruhl und Brüggemann sowie die Zimmererbrigade Kunze. Ziemlich laut wurden Bert Stanike und sechs, sieben andere, die Streik nach wie vor für das beste Mittel hielten. Die Brigade Hein Görlich sowie die auf den Häusern 7, 8 und 9 beschäftigten neunzig Lehrlinge waren dieser Versammlung ferngeblieben.

Sichtlich erleichtert telefonierte der kleine, dickliche Mann zum ZK hinüber. Eventuell mit dem für Bauwirtschaft zuständigen Politbüromitglied Ziller, vielleicht auch mit dem für Sicherheit zuständigen Abteilungsleiter Weis oder anderen Funktionären.

Während Rebetzky nebst seinen beiden Instrukteuren die Baustelle bereits verlassen hatte, registrierten auch Parteisekretär Gutzeit, BGL-Vorsitzender Fischer und Oberbauleiter Pfeng heilfroh die zunehmenden Auflösungserscheinungen der Versammlung. Denn selbst die Brigaden Brüggemann und Gruhl rückten, sozusagen zentimeterweise, allmählich die Löwestraße hinab zu ihren Häusern. Nur Bert Stanike und einige andere blieben unschlüssig - vielleicht sogar enttäuscht - stehen. Wir atmeten auf, als nacheinander wieder die Aufzüge zu scheppern begannen, Lasten anrollten, Betonmischer röhrten und die Hucker ihre Tragen vollpackten.

Auf den Baustellen Rüdersdorfer Straße, Küstriner Platz sowie den Blöcken A, B und D war der Morgen des 16. Juni ähnlich verlaufen. Dagegen hatte auf den G-Blöcken, E-Süd und C-Süd überhaupt nichts Derartiges stattgefunden.

Die auf Block 40 versammelten Funktionäre atmeten gerade tief durch und wollten sich eine kleine Pause gönnen, als urplötzlich eine gänzlich unvermutete und auch für mich unfaßbare Situation entstand. Denn da radelten, von der Auerstraße kommend, zwei Bauarbeiter die Löwestraße herauf. Der eine steckte in Maurerkleidung, der andere - ein bulliger Zweimetermann - trug blaue Monteurklamotten.

„Kollegen!" rief der Maurer. „Helft uns!" der Monteur. „Die Vopo hat das Krankenhaus umzingelt und uns eingeschlossen!" „Die Tore dichtgemacht!" „Wir sind umstellt!"

Sechzig, siebzig, hundert Maurer, Betonierer, Elektriker, Rüster und Transporter kehrten um, rannten herbei: „Hauen wir sie raus!" „Nieder mit der Vopo!" „Weg mit den Normen!" „Auf zum Krankenhaus!"

Die Empörung schwappte über. Man rief zum Sammeln. Vergebens bemühten sich die Funktionäre, gestikulierten die Bauleiter, mahnten besonnene Brigadiere und Kollegen. Tatenlos sahen die Zweifelnden und Unentschlossenen zu - und das waren immerhin Dreiviertel der Beschäftigten. Der Kleine vom ZK zog sich hastig in das Parteibüro zurück und telefonierte erneut.

Der Maurer und sein bulliger Monteurskollege hatten inzwischen ein blaues Transparent von den Lehrlingshäusern geholt, auf dem in blendendem Weiß geschrieben stand: „Wir lernen, arbeiten, und" ... Der Rest fehlte. Unter Mitwirkung anderer schmierten beide die Schrift mit Mörtel und Dreck zu. Auf die Rückseite pinselte dann Paul Schild von der Maurerbrigade Meißner unter dem Jubel der Umstehenden: „Wir fordern 40 % Normsenkung". Ohne Ausrufezeichen. Die Inschrift erregte Kopfschütteln und Unmut.

„Runtergehen können wir immer noch", meinte Schild.

„Laßt das doch als Jux", rief der erst vor wenigen Monaten als Bestarbeiter auf E-Nord ausgezeichnete Stanike.

„Von welcher Brigade sind die?" fragte Gutzeit den Oberbauleiter und deutete dabei auf die Transparentdiebe. Pfeng hob die Schultern und gab Gutzeits Frage an die Bauleiter Haase und Bienert weiter. Die schüttelten den Kopf.

„Von mir auch nicht", erklärte Bauleiter Zink stirnrunzelnd.

Danach wollten sich Gutzeit, Pfeng und Fischer die beiden vornehmen. Aber die Bauleiter hielten sie zurück. „Wer weiß, was das für Typen sind."

Der unbekannte „Maurer" und der ebenso unbekannte „Monteur" nagelten inzwischen das neubeschriebene Transparent an zwei Latten, unterstützt von lautstark skandierenden Rufern: „Auf zum Krankenhaus! Hauen wir die Kumpel raus! Hauen wir die Kumpel raus! Vopo pfui! Nieder mit den Normen!"

Die um sie einen weitläufigen Kreis Bildenden, betont Abseitsstehenden oder vom Bau Herabblickenden schienen gespannt, wie es weitergehen würde. Die meisten lehnten das Theater ab. Rauchten, frühstückten, diskutierten. Manche stimmten denen da unten zu, ohne jedoch den Mumm zum Mittun aufzubringen. Andere stritten miteinander, einige schimpften laut.

„Vorwärts, Kollegen!" rief nun der bullige „Monteur", hob mit seinem in Maurertracht steckenden Kampfgenossen das Transparent auf und setzte sich in Trab, gefolgt von den Brigaden Gruhl, Brüggemann, Kunze und anderen Bauarbeitern. Dazu stieß noch der hastig herbeigeeilte Alfred Berlin mit etwa zwanzig von insgesamt einhundertzwölf Männern der Baustelle Heizkraftwerk. Mehr hatten sich für die Aktion nicht begeistern können. Manche eilten dann doch noch hinterher. Aber es kamen auch welche zurück.

Bert Stanike wirkte erst unschlüssig, denn neben ihm stand die Lohnbearbeiterin Lissi Bergmann - eine hübsche junge Frau, die er mochte. Sein Drang, gegen den Staat zu demonstrieren, schien jedoch stark. Und da Lissi Bergmann seiner nervösen Forderung zum Mitkommen nicht Folge leistete, lief er der Kolonne allein nach und reihte sich in die am Schluß trabende Brigade Brüggemann ein..

Wie gelähmt schauten die Betriebsfunktionäre der Kolonne hinterher. Ebenso hilflos wirkten die Brigadiere Borgemann, Stier, Stasies, Heise, Krüger, Puhl, Ogrowski, Meißner, Dühring, Ernst, Scheffler, Tiedke, Ortelbach, Müller, Dahlke, Niemyk und Rapsch. Die restlichen Brigadiere waren erst gar nicht von den Häusern heruntergekommen. Pfeiffer und Schönböck allerdings marschierten den Losungsträgern noch rasch nach.

„Wir haben verloren", sagte Brigadier Borgemann vor sich hin.

„Und wenn wir nicht aufpassen", murmelte Brigadier Krüger, „verlieren wir noch mehr".

Hein Görlich stand plötzlich neben mir und feixte mich in seiner sympathischen Art an. „Du willst doch nichts von mir hören, oder?" Ich wollte nicht.

Plötzlich donnerten die vier um den Dreiecksbau aufgestellten RFT-Säulen los. Ein fröhlicher Marsch. Das tat Ohr und Herz weh. Ich rannte in die Parteibude, knallte die Tür hinter mir zu, hob den Hörer vom Kommandoapparat.

„Was machst du für Scheiße?!" schrie ich Paule an.

„Wehnert hat das angeordnet." Paule schien zu grinsen. „Hermann Axen, oder wie der heißt, war hier und hat Musik verlangt. Wer is'n det überhaupt? Wir soll'n Optimismus verbreiten."

„Dreh sofort ab!" Kaum war ich wieder ins Freie getreten, herrschte Totenstille.

„Wurde verdammt Zeit!" rief einer vom zweiten Stock herab, und Ecke Löwe-/ Auerstraße hörten andere auf, die RFT-Säule mit Dreckbatzen zu bewerfen.

Zu gleicher Zeit zuckelte ein kleiner PKW heran und kam an den Leitungsbuden zum Stehen. Ihm entstieg ein noch kleinerer Mann als der, welcher sich dort schon rumtrieb. Sein kräftiger Fahrer quälte sich nach ihm heraus.

Ehe der Besuch grüßen konnte, fragte Otto Pfeng: „Wer sind Sie, und was wollen Sie?"

„Axen, Mitglied des Politbüros der SED." Er gab Pfeng und den Umstehenden die Hand. „Was ist hier los, Genossen?"

„Da sind die Genossen." Pfeng wies auf Gutzeit und einige Brigadiere. „Wie Sie sehen, wird gearbeitet."

„Aber in der Funkbaracke sind Anrufe eingegangen, daß der Block 40 voll bestreikt wird, das Krankenhaus ebenso. Hier ist doch Block 40."

Während Axen die Baustelle zu überblicken versuchte, sahen sich Pfeng und die anderen vergebens nach dem Abrechnungstechniker Wilkening um. Entweder saß er im Büro, oder er lief in der Kolonne mit. Pfeng wußte, daß Wilkening seit Freitag nicht nur bereitwillig Auskunft über die Situation auf Block 40 gab, sondern auch von sich aus hier oder dort anrief und berichtete. Wie Bauschreiber Max Hoffmann von der Baustelle Krankenhaus.

„Am besten, Sie steigen hoch, Genosse Axen", ermunterte Gutzeit den Mann vom Politbüro, „und sehen selbst nach. Nein, es arbeiten natürlich nicht alle, vielleicht die Hälfte. Aber gestreikt wird nicht.

„Dreiviertelhundert doch", korrigierte Pfeng.

Der vierundvierzigjährige Parteisekretär sah den Oberbauleiter mißbilligend an und schüttelte den Kopf. „Fünfundsiebzig von sechshundert." Als müsse er sich bei Axeri wegen der fünfundsiebzig Abmarschierten entschuldigen.

„Kann man diese sprechen?" erkundigte sich Axen.

„Die sind gerade unterwegs gegen die Normenerhöhung. Da entlang." Pfeng wies die Löwestraße hinauf.

„Ich muß weitermachen." Erich Gutzeit nickte Axen zu und entfernte sich. Otto Pfeng gab Axen die Hand, während die Umstehenden ebenfalls nur nickten oder einfach so fortgingen. Sichtlich gedemütigt winkte Axen seinen Beschützer zum Auto Die schwarze Kleinlimousine schuckelte von der Baustelle, und niemand sah ihr nach. Der andere Kleine vom ZK hatte sich aus dem Staub gemacht, als die Dreiviertelhundert-Truppe losgezogen war.

Inzwischen fuhr ich bereits den Demonstranten in raschem Tempo hinterher. Ganz offensichtlich wußten weder „Maurer" noch „Monteur", wie sie die Kolonne zum Bettenhaus Krankenhaus Friedrichstraße führen sollten. Denn an der Einmündung Leninallee zögerten sie. Links oder rechts entlang? Und dies, obwohl sie zuvor behauptet hatten, von der Baustelle Krankenhaus gekommen zu sein: „Die Vopo hat das Krankenhaus umzingelt und die Tore dichtgemacht! Helft uns!"

Stanike übernahm die Führung, nicht ohne den beiden Meldern zu sagen: „Von wo kommt ihr eigentlich?!"

Beide Flügel des schmiedeeisernen Tores und auch der Besuchereingang standen ebenso sperrangelweit offen wie alle Tage zuvor.

Verblüfft musterten die Pförtner den entschlossen heranrückenden Haufen, erteilten danach jedoch bereitwillig Auskunft. Tatsächlich waren die Tore etwa um acht Uhr auf Weisung des Ärztlichen Direktors, Prof. Dr. Heinrich Klose, als Vorsichtsmaßnahme gegen Strolche und Rowdys geschlossen - allerdings nicht verriegelt - worden. Eine Stunde später hatten sie Bauleiter Roepke und Bauleiter Kunz in Erwartung anrollender Materialtransporte jedoch wieder geöffnet.

„Wieviel Vopos haben die Baustelle umstellt?" fragte Brüggemann.

„Ha?" Die Pförtner guckten nur verdutzt.

„Ach, leckt mich am Arsch!" Der Brigadier trabte mit den Transparentträgern weiter, und alle folgten. Kaum hundert Meter weiter lag die ausgedehnte Baustelle. Sie zu umzingeln, hätten tausend Polizisten nicht ausgereicht.

Soweit es das Gelände zuließ, radelte ich hastig zu Fettlings Bude voraus. Unterwegs sah ich zweihundert, dreihundert Bauarbeiter herumstehen, auf dem Bau sitzen, Spazierengehen oder sich sonnen. Angespannt die einen, gelangweilt die anderen: als fehlten ihnen Alfred Metzdorf, der Blondbärtige und ein entschlossen handelnder Fettling.

In Kenntnis des Vorangegangenen fiel es mir nicht schwer, aus dessen kurzen Bemerkungen schlau zu werden. Bluhm, Foth und Lembke redeten zwar inzwischen einem Demonstrationsmarsch zum Ministerratsgebäude das Wort, um der Regierung die Forderung nach Normensenkung und besseren Lebensverhältnissen zu überbringen. Aber ihre Ausstrahlung reichte noch nicht aus. Dagegen machte Brosda aus Berlin-Tempelhof Stimmung für einen unbefristeten Streik:

„Auf den Arsch setzen und bis Weihnachten sitzen bleiben! Sollst mal sehen, wie sie da die Normen abbauen!"

Vorläufig wirkte Fettlings Bremse - Grotewohl antworte vielleicht doch noch - stärker. Weil es ein sachliches Argument war - und eben von Fettling kam. Allerdings schlugen sich die Brigaden Foth, Lembke und Bluhm offenbar zunehmend auf Brosdas Seite und hatten Fettling sogar schon einen Angsthasen genannt.

Inzwischen war draußen unter beträchtlichem Beifallsgetöse der Dreiviertelhundertmann-Demonstrationszug von Block 40 eingetroffen. Da ich mir das Nachfolgende vorstellen konnte, machte ich mich auf den Rückweg in mein Studio. Und nahm Fettlings Worte mit auf den Weg: „Nicht ein Volkspolizist war hier. Wer hat euch solchen Quatsch erzählt?"

Etwa fünfundvierzig Minuten später zogen die Männer von Block 40 und von der Baustelle Krankenhaus bei uns am Stalindenkmal vorüber. Sie waren auf schätzungsweise zweihundert angewachsen. Gruhl, Brüggemann und Stanike hatten sich inzwischen die Forderungen von Brosda, Lembke, Bluhm und Foth zu eigen gemacht und beschlossen, sie der Regierung zu überbringen.

Offenbar war Max Fettling in die Enge getrieben worden. Von den Bauleitern Roepke und Kunze hörte ich später, daß er nachgegeben habe. Er hatte seinen Willen bekräftigt, die Normensenkung notfalls mittels Streik durchzusetzen - und danach zur Demonstration zum Haus des Ministerrates aufgerufen.

Voran marschierten Brosda, Foth, Bluhm, Berlin, Gruhl, Brüggemann, Rust, Lembke und Stanike. Hinter ihnen die beiden Transparentträger und der stolze Paul Schild. Irgendwo zwischen den Reihen glaubte ich einen Blondbart kurz auftauchen zu sehen Fettling aber war nicht mitgegangen.

Zuvor war die Kolonne vom Krankenhaus in die Stalinallee marschiert und dann nach links abgeschwenkt. Hatte die Blöcke G, F und E beidseits der Allee zum Mitmarschieren aufgefordert, allerdings weniger Verständnis als erwartet gefunden und bei den dreihundert Mann des Blocks G-Süd überhaupt keines.

Dazu wurden von den rebellischen Brigaden Losungen gerufen wie: „Runter mit den Normen!" „Die HO macht uns k.o.!" „Mehr Lohn statt Hohn!" Ausgedacht und vorgegeben wurden sie aber - wie Stanike und andere später erzählten - von dem Duo „Maurer-Monteur", das währenddessen unentwegt sein Transparent schleppte und nicht aus den Händen ließ.

Am Block C-Süd empfing Horst Schlafke die Kolonne. Theatralisch breitete er die Arme aus, rief: „Vorwärts, Kumpel und Kameraden!" stürmte zur Spitze der Marschierenden und forderte alles, was da ging und stand, zum Mitkommen auf. Viele ignorierten das. Aber von den B- und A-Blöcken schlössen sich danach doch welche an. Der ehemalige SS-Mann Schlafke schien in einem Element zu sein, haute diesem und jenem sieglachend auf die Schulter und verteilte Zigaretten.

Die Leute auf den Bürgersteigen und an den Fenstern schauten überrascht drein.

Sie staunten, wunderten sich, klatschten oder zeigten keine Reaktion. Manche gingen spontan mit, obwohl sie das Ziel nicht kannten, andere scherten bald wieder aus.

Und das erstaunlichste war: niemand störte die Demonstranten, keiner versuchte sie aufzuhalten - als ignorierte die Macht sie, wüßte nichts von ihnen, nähme sie nicht ernst. An der Kreuzung Andreasstraße/Stalinallee war der Verkehr sogar durch Polizisten geregelt worden - wie es bei Demonstrationen stets geschah.

Bald danach kam dem Zug ein junger „Stalin" namens Peter Strache entgegen. Irgendwer hatte ihm den Spitznamen verpaßt, da er wie sein großes Vorbild ein Bärtchen trug und ein tüchtiger FDJler war - völlig überzeugt vom anstehenden Sozialismus. Er gehörte zum 15köpfigen Lehrlingsaktiv des siebzehnjährigen Klaus Dippelt, für das der Lehrausbilder Fritz Lehmann verantwortlich war. An diesem Tag war erst nachmittags Schichtbeginn, und Peter Strache hatte den arbeitsfreien Morgen für einen Kinobesuch mit seinem Mädchen genutzt. Nun staunte er nicht schlecht, als er auf dem Nachhauseweg die teilweise nur pantinenbeschuhten Gesellen und Altgesellen, Hucker und Zimmerer, Gerüstbauer und Schlosser, Betonierer und Fliesenleger, Elektriker und Transporter durch die Allee traben sah - noch dazu mit einem blauen Transparent an der Spitze, das ihm - trotz der zuvor nie gesehenen Forderung zur Normensenkung - bekannt vorkam. Tatsächlich konnte er dann auf der Rückseite noch entziffern: „Wir lernen, arbeiten, und" ... Der Rest war weg, nämlich „... kämpfen für den Frieden". Es stammte von Haus 9, das die Lehrlingsaktive Dippelt und Fischer, welche gleichzeitig eine Berufsschulklasse bildeten, hochgezogen hatten.

Als Peter Strache und die übrigen Dippelts später das Lernaktiv der Frühschicht ablösten, erfuhren auch sie von den Vorgängen auf Block 40. Selbstverständlich hatten sie in den Tagen zuvor in den Brigaden Stimmungen wahrgenommen, die sich gegen die angeordneten Normenerhöhungen richteten. Daß Gesellen und Altgesellen aber deswegen durch die Allee gingen und dies und das riefen, wollte den Jungen nicht so recht in den Kopf.

Die Lehrlinge wurden gut ausgebildet, fand Peter Strache, bekamen nicht wenig Geld, Gott sei Dank gab es sogar ein Jugendschutzgesetz - und so war der Sozialismus durchaus glaubwürdig. Peter wohnte gegenüber dem VP-Präsidium, bei seiner Mutter. Er brachte als Lehrling 130 Mark nach Hause, sein Bruder aus der Yachtwerft Köpenick 450 Mark und die Mutter aus dem Volksbau Lichtenberg 500 Mark. Keiner hungerte und fror. Das Geld reichte, um das Leben in geordneten Bahnen zu halten. Wogegen hätte man sich da auflehnen sollen?

Lehrausbilder Fritz Lehmann schien allerdings anderer Meinung. Er tauchte in der gemauerten Lehrlingsbaubude auf und erklärte, die Gesellen und Altgesellen von Block 40 seien demonstrieren gegangen. Das war nicht einmal die halbe Wahrheit. Aber Fritz Lehmann ging sogar noch weiter: „Wir fallen denen nicht in den Rücken, arbeiten also auch nicht, aus Solidarität. Wir machen Schulung, Zeichnunglesen, Ecklehrenlernen und so was. Demonstrieren gegen Normerhöhung ist nicht unsere Sache."

Da der Lehrausbilder erstklassiger Fachmann und außerdem ein prima Kumpel war, schauten nicht wenige Jungen zu ihm auf. Außerdem waren die Lehrlinge natürlich ganz froh, mal einen Tag nicht arbeiten zu müssen.

Die übrigen drei Aktive der Nachmittagsschicht wurden auf ähnliche Weise vom normalen Arbeitsablauf abgehalten. Nicht alle Jugendlichen waren damit einverstanden, aber das Sagen hatten eben die Lehrausbilder. Und Lehmann schickte das Dippelt-Aktiv mit der Weisung nach Hause: „Morgen seid ihr alle schon um sieben hier, da ist was los, Jugendfreunde. Die Nachmittagsschicht fällt aus."

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