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Bertolt Brecht vor Gewerkschaftlern des BE am 24. Juni 1953:

(zitiert aus H.-D. Schütt: Manfred Wekwerth. Frankfurter Oder Editionen, 1995)

 

Die Erbitterung hat ihre Gründe. Zu gleicher Zeit ist das nicht so einfach, daß diese Provokateure die erbitterte Bevölkerung dazu bringen konnten, in dieser Art aufzutreten. Das ist schon sehr bedenklich. Ich will sagen: Wenn ich das ansehe, was zu sehen war, so hatte ich den Eindruck in der Frühe, daß es eine ernste und entsetzliche Angelegenheit war, daß gerade Arbeiter hier demonstrierten. Ich spreche ihnen auch hundertprozentig jede Berechtigung zu. Ich wußte, daß sie abgehalten worden waren, ihrer Verbitterung Luft zu verschaffen, nun aber verschafften sie sich Luft. Was gegen 11,12,13 Uhr geschah, zeigt das jedenfalls - ich spreche von dem, was ich gesehen habe. Dieses Berlin ist in einem geistigen Zustande, in dem es anscheinend in der Nazizeit war. Da sind noch ungeheure Rückstände geblieben ... Es ist einer der Hauptfehler der SED, nach meiner Meinung, und der Regierung, daß sie diese Nazielemente in den Menschen und in den Gehirnen nicht wirklich beseitigt hat. Es ist ein Fehler, wir wissen das von unserem Kunstgebiet, daß es ein Tabu war, ein Verbot, von der Nazizeit zu sprechen. Es wurden Bücher am Herauskommen gehindert, wenn darin davon gesprochen wurde. Man hat von der herrlichen Kultur des deutschen Volkes gesprochen, von dem Positiven, immer nur von dem Positiven. ... Die ganze Nazibande ist immer noch da, sie hat nicht mehr geherrscht, das nicht, aber geistig war sie noch immer stark lebendig. Das sollte offiziell immer vertuscht werden, dem hat sich niemand gestellt, das sollte verdrängt werden, darüber sollte nicht geredet werden. Das ist eine entscheidende Sache für die Zukunft, die man aufgraben sollte. Man sollte erklären, was Sozialismus ist, das hat man überhaupt nicht getan. Man hat sozialistische Einrichtungen geschaffen, bereits ungeheure Leistungen vollbracht, die ganz wenigen Menschen bewußt sind. Das ist ein großes Versagen, man hat die großen Verdienste zwar ständig in der Art von Lobhudeleien und Phrasen zur Sprache gebracht, aber nicht wirklich bekannt gemacht. Da kann die Kunst sehr viel helfen. Sie muß offen versuchen, die Wurzel des Nazismus und Kapitalismus, die in einer spezifisch deutschen Weise da sind, in einer unglücklichen und schmutzigen Geschichte weit zurückgehend aufdecken, behandeln, klären und zur gleichen Zeit wirklich erklären, was neu gemacht wurde. Diese großen Umwälzungen auf dem Lande, Vertreibung der Junker, Vernichtung des Monopols für Bildung für eine kleine, herrschende Klasse, Übernahme der Betriebe, Lenkung und Planung, Schulung großen Stils. Das sind alles große Sachen, sie sind aber nicht im Bewußtsein der Menschen. Forderungen nach freier Wahl, jetzt, nach diesen bitteren Ereignissen, ich halte diese sofortige Forderung nicht für sinnvoll. Nein, es ist nicht sinnvoll, diese Forderung in der DDR nur jetzt wegen dieser Dinge mit den Aufständen wahrzumachen. Ich glaube nicht, daß die Bevölkerung weit genug wäre, nämlich menschlich weit weg vom Nazismus zu sein, um heute eine andere fortschrittliche Regierung zu bekommen. Die Regierung, die wir jetzt haben, steht in Kampfstellung gegen die den Frieden der ganzen Welt bedrohenden Elemente.


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