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Politische Nachtwache mit Brecht1
(Berlin)
... nun zu einem ernsten Thema: der 17. Juni 1953. Über diesen Tag sagte Brecht, das Volk habe der Partei eine Ohrfeige gegeben. Aber immerhin, eine Ohrfeige sei wenigstens eine Berührung. Ich stelle mir vor, er, der berühmte deutsche Dichter, wurde das heute noch einmal sagen.
Als die Lebensmittelkarten für die Kleinhändler und die Arbeiterrückfahrkarten gestrichen wurden, kurz vor dem 17. Juni 1953, herrschte große Betroffenheit am Theater. ... Verharmlost wurde Politik am Berliner Ensemble nie, es wurde freilich mit ihr anders umgegangen als draußen. Das war das Entscheidende.
Käthe Rülicke-Weiler erzahlte, am Abend des 16. Juni hatte sich Brecht mit dem Gedanken getragen, in die Partei einzutreten.
Aber nicht etwa, weil er deren Politik guthieß, sondern weil er es als dringend nötig erachtete, die Partei zur großen Volksaussprache zu zwingen. Ihn machte dann sehr zornig, daß aus diesem Tag der Tag X gemacht und damit das Ereignis gänzlich zu einer westlichen, also fremdbestimmten Aktion gemacht wurde. Daß später Leute verurteilt wurden, die beim 17. Juni auf die Straße gegangen waren, machte ihn im doppelten Sinne traurig - einmal wegen des faschistischen, gewalttätigen Potentials, das noch immer in der Masse vorhanden war, denn man brannte Menschen an und warf sie aus den Fenstern. Zum anderen machte ihn traurig, daß die Arbeiterklasse ihresgleichen in die Gefängnisse warf, ohne auch nur einmal über die Ursachen nachzudenken und die wirklich richtigen Lehren zu ziehen.
Wie erlebten Sie die Vorgänge damals unmittelbar?
Am 16. Juni abends rief
Brecht einige von uns Jungen nach Weißensee in seine Wohnung, Käthe Rülicke-Weiler,
Peter Palitzsch und andere. ... Er wollte an diesem Abend so eine Art politische
Nachtwache halten, sagte er jedenfalls, aber der wahre Grund war, wie immer, daß
er jemanden zum Reden brauchte. Elisabeth Hauptmann und ich waren gerade auf
einer Demonstration der Partei gewesen, auf einer Veranstaltung des Berliner
Parteiaktivs im Friedrichstadtpalast, auf der Ulbricht und Grotewohl gesprochen
hatten. Es wurde auf dieser Großkundgebung Selbstkritik geübt, der „Neue
Kurs" wurde sehr allgemein erläutert, danach sang man fröhlich die
„Internationale", die Veranstaltung machte den Eindruck, als sei damit
die Sache erledigt. Die gesamte Problematik im Schnelldurchlauf. Es war deutlich
geworden: Die Parteiführung überschaute nicht den wahren, den gefährlichen
Charakter der Lage. Dabei hatten wir erwartet, daß Änderungen im
Volkswirtschaftsplan und dementsprechend konkrete Maßnahmen für die absehbaren
Demonstrationen des kommenden Tages festgelegt würden. Nichts da - wahrend
dann, als wir bei Brecht waren, der RIAS stündlich Sondermeldungen brachte, wie
und wann man sich am kommenden Morgen zu versammeln hätte. Wir blieben die
ganze Nacht bei Brecht, diskutierten, hörten Radio und kriegten schnell mit, daß
der RIAS ein perfekt funktionierendes Organisationszentrum war, man konnte am
anderen Morgen rasch erfahren, welche Straßen frei und welche gesperrt worden
waren.
Bertolt Brecht (I., im
Gespräch mit einem Teilnehmer der Stanislawski-Konferenz) im April 1953
Er kam allerdings nie mehr auf diesen Satz zurück. Am 17. Juni morgens begleitete ich ihn zur Straße Unter den Linden, er ging dann ins Theater, achtete streng darauf, daß weiter geprobt wurde. Mittags freilich unterbrach er die Theaterarbeit und rief Kuba, den Sekretär des Schriftstellerverbandes an. Der meinte, er könne auf keinen Fall kommen, im Hause seien bereits die Sekretärinnen mit Stuhlbeinen bewaffnet. Das bewog dann Brecht zu seiner inzwischen legendär gewordenen anektodischen Äußerung: „Ein deutscher Schriftsteller in Erwartung seiner Leser". Es gab weitere komische Momente. Auf dem Marx-Engels-Platz herrschte eine angeheizte Stimmung, es kochte und brodelte unter den Massen. Plötzlich schwang sich in voller Montur ein Volkspolizist auf ein Podest, alles verstummte ringsum, da hob der Polizist einen Schuh in die Höhe und rief in reinstem Sächsisch, es sei ein einzelner Schuh gefunden worden, der Besitzer möge sich bitte melden. Für Sekunden trat Entspannung ein, die Massen jaulten, es blitzte etwas auf von einem politischen Jahrmarkt, ja von Jahrmarktstheater - aber die Realität schluckte diese Szene sehr schnell; und ich weiß noch, Brecht beunruhigte und erschütterte in diesen Stunden besonders, daß sich in den fordernden Gesängen der Arbeiter die „Internationale" mehr und mehr mit der ersten Strophe des „Deutschlandliedes" mischte.
Brecht hätte am 17. Juni „Hurra! "gerufen beim Eintreffen der sowjetischen Panzer im Zentrum Berlins - so beschrieb es später Erwin Strittmatter.
Nein, der Realist Strittmatter hätte doch wissen müssen, daß so ein Wort wie „Hurra" gar nicht in Brechts Wortschatz vorhanden war. Er begrüßte nicht die Panzer, er diskutierte Unter den Linden mit den Leuten und begrüßte, daß die Panzer mit offenen Luken herankamen, oben also Leute herausschauten. Das ist ein Unterschied. Was Brecht begrüßte, war Besonnenheit, war der Umstand, daß ein Weltkrieg, der unmittelbar drohte, verhindert wurde, denn an der Grenze standen auch US-amerikanische Panzer.
Was taten Sie am 17. Juni?
Ich bekam den Auftrag, Briefe Brechts auszutragen, bekam dazu sein Auto mit Fahrer, einen offenen Zweisitzer, einen Sportwagen, Marke Steyr. Als wir losfuhren, begannen gerade die Turbulenzen, und wir fuhren zuerst zur sowjetischen Botschaft. Alles ging gut. Dann ging es zum ZK der SED, dort standen Bauarbeiter mit roten Fahnen. Aha, dachte ich, auch hier ist alles o.k. Aber die Männer fingen an, mit vereinten Kräften am Auto herumzurütteln, es hätte wahrlich nicht viel gefehlt, und der Wagen wäre umgekippt worden. Da kam mir die rettende Idee, ich rief, man solle mich weiterfahren lassen, ich sei schließlich ein Einzelhändler aus Weißensee, was man ja wohl an meinem Wagen erkennen könne. Eine Gasse tat sich auf, ich passierte ungehindert die aufgebrachte Menge, die tatsächlich die „Internationale" sang; der deutsche Arbeiter ließ den Einzelhändler, ohne mit der Wimper zu zucken, hindurch.
Was waren das für Briefe?
Brecht erklärte sich in ihnen mit der Regierung solidarisch. Das ist etwas anderes als Unterwerfung. Brecht kritisierte unmißverständlich die Fehler, auch wenn er einräumte, daß sie aus revolutionärer Ungeduld entstanden seien; dennoch blieben es Fehler. Außerdem forderte er, sofort eine öffentliche, ehrliche Aussprache mit den Arbeitern, mit der Bevölkerung zu beginnen. Aber dieser letzte Satz wurde für die Veröffentlichung gekappt, die Aussprache fand planmäßig - nicht statt. Und das führte zur Verfälschung von Brechts Anliegen. Insgesamt aber glaube ich, daß mit dem 17. Juni in Brecht etwas von dem zerbrochen ist, was ich heute als eine Form fast religiöser Anbetung der Arbeiterklasse bezeichnen würde.
Prof.
Manfred Wekwerth
Fragen: Hans-Dieter Schütt
1 Mit freundlicher Genehmigung der Interviewpartner und des Verlages zitiert aus H -D Schütt: Manfred Wekwerth Frankfurter Oder Editionen, 1995
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