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Und dann wollte ich Freundschaft
Bis 1945 lebte ich im ehemaligen Gutshaus in Griebow/Mecklenburg (der Besitzer hatte sich ein prachtvolles Schloß im Nachbarort gebaut), das auch eine Einklassenschule beherbergte. Mein Vater unterrichtete dort. Mit Kriegsbeginn übernahm meine Mutter diese Arbeit, denn sie hatte den gleichen Beruf.
In Griebow lebten hundert Einwohner - Tagelöhner, Bauern und unsere Familie. Was habe ich aus dieser Zeit behalten?
Abends brachte mich ein größeres Mädchen nach Hause mit folgendem Kommentar an meine Eltern: „Heil Hitler, hier bringe ich Lulun (Akkusativ des abgekürzten Vornamens Luise L. R), ich muß aber gleich wieder nach Hause. Heil Hitler!“ Dieser Gruß wurde auch bei völlig privaten Angelegenheiten benutzt.
Ich selbst kam einmal, das Lied von der Loreley singend, vom Spielen, außerdem grüßte ich „Heil Moskau“, beides wurde mir strengstens verboten, mit welcher Begründung weiß ich nicht mehr. Ich war etwa sechs Jahre alt und hatte den Nachmittag mit den Kindern im Dorf verbracht.
Jedes Jahr hörten wir mindestens einmal den Lebenslauf des „Führers“, also ab Klasse 1, ich glaube, ich könnte ihn noch aufsagen. An seinem Geburtstag wurde das Hitlerbild mit Blumen geschmückt. Ich hatte mir einen Satz gemerkt: „Er trat aus dem Völkerbund aus“, nichts verstand ich von der Bedeutung, ich wurde dafür gelobt, weil es sonst niemand wußte. So fiel ich angenehm auf. Das war auch in der nächsten Schule so, also ein scheinbarer Erfolg. Wir Mädchen fanden die Uniform der HJ, die ja wohl jeder hatte, sehr schick und damit erstrebenswert. Das schwarze Halstuch mit echtem Lederknoten, die Kletterweste über der hellen Bluse waren beliebt, sehr wünschten wir uns das blaue Kleid des Reichsarbeitsdienstes mit dem roten Kopftuch, wir erfanden auch Spiele dazu. Dieses Äußere bewirkte also vieles, zumindest bei zehnjährigen Kindern.
Allerdings gab es auch Nachdenken bei mir: Die Führerin unserer HJ-Gruppe erklärte uns, daß sie uns als Vertrauensperson zur Verfügung stände, wenn wir besondere Äußerungen der Eltern oder Verwandten nicht verständen. Das kam mir eigenartig vor, ich jedenfalls erzählte nichts. Noch im Winter 1944/1945 hatte unsere HJ-Gruppe weltanschauliche Schulung, auf der uns mitgeteilt wurde, daß Deutschland den Krieg nie verlieren könne. Woher wissen sie das? überlegte ich.
Mit dem Jahr 1939 begannen Veränderungen. Im Frühjahr kam ich in die Schule. Mein Vater wurde schon im August als Soldat eingezogen, man sagte, weil er nicht Mitglied der NSDAP war, wir waren allein. Am 1. September saß ich unter unserer Linde auf der Schaukel und überlegte, was Krieg ist. Ich stellte mir Feuer in schwarzer Dunkelheit vor, rund herum an den Grenzen Deutschlands. Später folgten die schlimmen Ereignisse: Eine wesentlich ältere Freundin verlor ihren Verlobten, von einer Bekannten fielen der Ehemann und Vater, ein Sohn war in Gefangenschaft. Bei einem Besuch der Großeltern in Neubrandenburg sah ich gefangene polnische Soldaten, die auf eingezäuntem Lagergelände immerzu im Kreis marschieren mußten. Dieses Bild habe ich nie vergessen - die eingesperrten Menschen, schmutzig, eintönig, endlos.
Vor dem Bolschewismus hatte ich fürchterliche Angst, ich glaubte tatsächlich, die Russen kämen mit einem Messer im Mund, um uns auf schauderhafte Weise zu quälen und umzubringen. Ich wagte nicht, es genauer zu erfragen. So wirkten Erziehung und Propaganda. Deutlich erinnere ich rot-schwarze Plakate in den Zügen: „Sieg oder bolschewistisches Chaos“. Andererseits erfuhr ich später von meinen Eltern, daß Offiziere des Regiments meines Vaters ihren Frauen im Urlaub Pistolen daließen; sie sahen die Zerstörung und Vernichtung in der Sowjetunion und erwarteten Vergeltung.
Das Jahr 1945 kam und mit ihm im Mai die Russen. Die Menschen in Griebow hatten gehofft, daß „die Amerikaner kommen“. Böse Gerüchte (die sich später teilweise bewahrheiteten) kündigten aber von Dorf zu Dorf die Russen an. Alle - bis auf zwei ältere Männer - flohen in den Wald, ausgerüstet mit einem Schinken und einigen Broten im Waschkorb; das Problem des Trinkens, glaube ich, war nicht gelöst. Am Waldrand wurde der Feldweg zum nächsten Dorf von älteren Jungen beobachtet. Ein Panjewagen mit entsprechenden Pferden näherte sich dem Dorf - nichts passierte, er verschwand nach einiger Zeit, wir atmeten auf, vorsichtig gingen wir in den Ort zurück. Die zurückgebliebenen Männer waren erleichtert, die Soldaten hatten ihnen Zigarren geschenkt. Einzelne Russen kamen an den folgenden Tagen, um Uhren zu ergattern, wir hatten natürlich keine. Mehrere erschienen mit Maschinenpistole, um Schätze aus dem Schreibtisch meines Vaters zu erobern, meine Mutter pflegte ihn immer abzuschließen. Sie nahmen alle gehorteten Tabakwaren mit. Dies war der Anfang.
Wir mußten dann unser Haus räumen, eine Art Kommandantur zog ein und brachte Ordnung in unser Leben. Am 9. Mai 1945 wurden meine Mutter und der Nachbar (bei dem wir Unterschlupf gefunden hatten) zur Feier des Sieges eingeladen, natürlich mit Wodka. In diesen Tagen erfuhren wir auch, daß alle Offiziere und Soldaten, bis auf einige Wachhabende, in ein Nachbardorf mußten, um an einer Erschießung teilzunehmen. Die Getöteten (wieviele?) hatten geplündert und Frauen mißbraucht.
Als diese Gruppe abzog, waren wir allein ohne offiziellen sowjetischen Schutz, und danach wurde es schlimm. Hilfe erfuhren wir vom Kommandanten im Nachbarort. Ein Mann, der die polnische Sprache beherrschte, hatte bei dem Offizier um Schutz gebeten. Nun durfte er (als Deutscher!) einen Rotarmisten nach schlechten Taten festhalten. Er wurde in den Keller gelockt (da findet man oft Essen) und dann von der Kommandantur abgeholt. Was ihm passierte, weiß man nicht.
Auch an einen anderen Sowjetoffizier erinnere ich mich. Wie viele andere hatte er von 1941 - 1945 keinen Urlaub gehabt. „Du sein meine Tochter“, betonte er immer wieder mir gegenüber, er stellte sich seine eigene ebenso vor. Ich erhoffte Schutz, obwohl er mich später in seine Heimat Leningrad holen wollte.
Ein junger Soldat hatte wie alle oder viele seiner Generation in der Schule Deutsch gelernt. Er mußte unseren Garten bewachen und unterhielt sich mit meiner Mutter und mir. „Hitler kaputt“, war die Ankündigung von unserer Seite. „Nix, nix“, antwortete er, „Hitler sitzt mit Stalin im Kreml und trinkt Schnaps!“ Dies verwunderte uns sehr. Viele, viele Jahre später konnten wir ihn verstehen.
Auch das Geld spielte in diesen Anfängen (1945 - 1948) schon eine Rolle. Wir hatten fast nichts, nur geliehenes. Meine Mutter hatte alle in Haus und Hof gefundenen alliierten Geldscheine verbrannt. Eines Tages erschien ein Soldat auf unserem Hof und wollte Äpfel kaufen - wir waren schon davon beeindruckt, daß er sich nicht einfach welche nahm. Er bezahlte, aus der Hosentasche fielen einige alliierte Geldscheine. Er ging, ich nahm sie, die Steuer für meinen sehr geliebten Hund wurde davon bezahlt. Es reichte!
Eines Tages erschien ein sowjetischer Offizier auf dem Schulhof, verlangte die Lehrerin zu sprechen und besichtigte mit ihr das Klassenzimmer. Folgende Befehle wurden erlassen:
Erstens: Der Tischler des Gutes hat sofort neue Schulbänke zu bauen, dazu Tisch und Stuhl für den Lehrer.
Zweitens: Nach Fertigstellung beginnt der regelmäßige Unterricht.
Drittens: Mit einer Hospitation im August 1945 wird alles kontrolliert.
Es geschah wie vorgesehen - ohne Komplikationen. Im August brachte der Offizier eine Dolmetscherin mit und besuchte den Unterricht. Beim Abschied versprach er, daß Lehrer gut betreut würden und malte einen wunderbaren jährlichen Urlaub an der See aus. (Das wurde für die Lehrerin und ihren Ehemann drei Jahre später im Lehrererholungsheim Lubmin Wirklichkeit.)
Nach meines Vaters Rückkehr wurden meine Eltern an eine größere Schule im Nachbardorf Marnitz versetzt, die auch ich bis zur achten Klasse besuchte. Seit 1947 hatten wir Russisch-Unterricht. Wenn ich das Können hätte, würde ich unserem Lehrer, Herrn Wilhelm Surkau, aus Riga stammend, ein Denkmal setzen. Dort war er Buchhalter gewesen und in Marnitz Pferdeknecht. Nur mit dem Lehrbuch („Steinitz“) vermittelte er uns so die russische Sprache, daß ich bis zum Staatsexamen nichts zu lernen brauchte und später Schülern helfen konnte. Er sang mit uns, wir lernten - mit Freude - lange Gedichte auswendig und verfolgten sehr aufmerksam seine Beschreibung russischer Sitten beim Feiern großer Feste (z. B. Ostern).
So erwuchsen aus Angst und schlechten ersten Erfahrungen Interesse und Verständnis für die ehemaligen Feinde, Liebe zu ihrer Sprache. Damals überlegte ich: „Es ist genug!“ Ich wollte Freundschaft. Da es nur über eine offizielle Organisation möglich war, füllte ich einen Antrag für die „Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion“ aus, der mir von meinem Banknachbarn zerrissen auf den Platz gelegt wurde. Ich besorgte mir einen neuen und wurde Mitglied. Dabei fällt mir ein: Wer hat uns eigentlich abgeschafft?1
Nach Abschluß der achten Klasse 1948 sollte ich das Abitur in der Kreisstadt machen. Die Schienen der Eisenbahnstrecke nach Parchim waren wegen der Reparationen abgebaut, die wenigen Busse übervoll. Ich mußte also irgendwie in Pension, aber meine Eltern besaßen die Lebensmittel nicht, die die Vermieter forderten. So kam ich in ein staatliches Internat in Bad Doberan, das in einer großen, wunderbaren Villa untergebracht war. Etwa hundert Schüler lebten seit einem Jahr darin. Neben der Schule hatten wir auch in Haus und Garten und auf dem Feld zu arbeiten, um unsere Versorgung zu sichern.
Von der FDJ hörte ich zunächst nichts, eines Abends trat ein Funktionär auf, um zu werben, ich erinnere mich, daß er Erfolg - auch bei mir - hatte. Aber die Verantwortlichen einzelner Arbeitsgebiete, zum Beispiel der Wandzeitung, verspürten plötzlich keine Lust mehr, sie wollten sich nichts vorschreiben lassen, meinten sie. Der Internatsleiter hatte einige Mühe, die Selbstverwaltung des Internats durch Schüler wieder aufzubauen. Er führte auch sogenannte Kadergespräche mit uns, es ergab sich aber nichts Besonderes daraus. Trotzdem: Wir arbeiteten gemeinsam, hatten auch Hunger, feierten fröhliche Feste. Wir konnten sogar warm duschen. Außerdem hatten wir einen Chor, dessen Wirken und Auftritte für uns unvergeßlich sind: Deutschlandtreffen, Weltfestspiele, das waren Erlebnisse!
Luise Pansegrau
1
Das Handeln im Sinne dieser Organisation (Deutsch-Sowjetische
Freundschaft) dauert bis zum heutigen Tage. Viele Menschen unseres Ortes
beteiligen sich mit Sachen, Lebensmitteln und Geld an Hilfssendungen. Einige
muß man ansprechen, einige sind beleidigt, wenn man sie vergißt, einige
bringen alles ins Haus. Ein großer Teil der Spender sind diejenigen, die
die ganze Entwicklung seit 1945 miterlebt haben.
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