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Man wird nicht als Kommunist geboren

 Im Jahr 1926 hineingeboren in das warm gepolsterte kleinbürgerlich-sozialdemokratische Nest einer Beamtenfamilie des „gehobenen Dienstes“ in der Stadt Brandenburg/Havel, schien mein Lebensweg - in diesen Kreisen nannte man das Karriere - schön geradlinig vorgezeichnet. Mein Vater - im I. Weltkrieg beinamputiert - hatte eine gut honorierte Anstellung als Polizeischulrat. Betuchte Onkel, Tanten, Taufpaten - einige sogar mit Adelsprädikat - waren in Masse vorhanden. Das war für uns Kinder wichtig, weil es sich immer auf die Geschenke zu Festtagen auswirkte. Das Verfassen der stereotypen Dankschreiben war weniger angenehm, wurde aber von der Mutter kategorisch verlangt. Kurz, es dominierte der von vielen einzwängenden und muffigen Tabus beherrschte kleinbürgerliche Familienbetrieb. Beispielsweise wurde uns auch das Erlernen eines Instrumentes oktroyiert (ich Cello, mein Bruder Geige) und bei Onkel- oder Tantenbesuchen „Hausmusik“ abgezwungen, wonach sich die Verwandten mit ebenso überheblich-höflichem wie falschem Beifall für das instrumentale Gekratze bedankten. Dazu dann die genaueste Beachtung der vom Baron v. Knigge vorgeschriebenen Verhaltensweisen beim Essen und sonst in der Gesellschaft (bzw. dem, was uns die Eltern als solche vorstellten). Unsere gelegentlichen Rückfragen, warum z. B. Kartoffeln nicht mit dem Messer zerteilt werden dürfen und weshalb beim Essen beide Hände auf den Tisch gehören, wurden mit wenig einleuchtenden Ohrfeigen „erklärt“. Es ist eben so „Sitte“. Vor Besuchern mußten wir einen tiefen „Diener“ machen, jeder Dame die lässig hingehaltene Hand küssen usw. usf. Einmal wurde ich von der Mutter allerdings ernsthaft belehrt, daß man die Waschfrau nicht mit Handkuß begrüßt. Da war ich ungefähr fünf Jahre alt und verstand die Welt nicht mehr. Wir mußten uns in Matrosenanzügen bewegen, auf deren Mützen stand: „Linienschiff Schlesien“, und hinten flatterten blaue Bänder. (Was wußten wir damals schon von Max Reichpietsch und Albin Köbis ...?) Das Spiel mit Nachbarskindern war tabu, denn das seien „Straßenkinder“, erklärte die Mutter. Wir taten’s aber doch - mit dem größten Vergnügen und nahezu täglich. Besser für uns geeignete Gespielinnen sahen die Eltern in den Töchtern einer gleichgesonnenen Lehrerfamilie. Mit ihnen spielten wir dann Halma, Mensch-ärgere-dich-nicht, Schwarzer Peter, oder wir langweilten uns auf andere Art. Am schlimmsten war allerdings, daß uns die eingebildeten Mädchen wegen ihrer schulischen Leistungen bei jeder Gelegenheit als leuchtende Beispiele präsentiert wurden. Zwar verweigerte ich später als Jüngling die Teilnahme an der von mir als „affig“ empfundenen Tanzstunde, aber ansonsten waren mein Bruder und ich an diese kleinbürgerliche Lebensweise gewöhnt.

Die erste große Zäsur im Leben unserer Familie wurde von uns Kindern nicht wahrgenommen: Da mein Vater der SPD angehörte und nicht der Nazipartei beitreten wollte, verlor er im März 1933 seine Stellung als Polizeischulrat. Danach schlug er sich mit seiner vierköpfigen Familie als Versicherungsvertreter durch die zwölf Jahre des „Tausendjährigen Reiches“.

Später erfuhr ich, daß er in Verbindung mit anderen sozialdemokratischen Genossen in dieser Zeit auch konspirative Arbeit geleistet hatte. Uns erzogen die Eltern aus nackter Überlebensangst jedoch total unpolitisch, denn wir hätten ja auf dem Spielplatz „quatschen“ können. Allerdings versuchten sie, dem Einfluß der nationalsozialistischen Jugendorganisationen unauffällig entgegenzuwirken. Im Ergebnis waren mein Bruder und ich politisch wenig interessiert, aber keineswegs Nazigegner. Ich wollte sogar Offizier werden. Eigentlich kein Wunder, denn im Geschichtsunterricht des Brandenburger Gymnasiums - der sogenannten „Saldria“ - lernten wir nicht nur die Daten der Faschistenführer, sondern auch die Ahnentafeln, Jahres- und Herrschaftsdaten fast aller deutschen Fürstenhäuser sowie der von ihnen geführten Kriege kennen. Noch heute weiß ich, daß Wilhelm II. am 27. Januar 1859 im Berliner Kronprinzenpalais geboren wurde. Wir erfuhren von der Schlacht bei Leuthen, über Hindenburg im August 1914 bei Tannenberg, die Schlacht bei Sedan am 8. September 1870. Verdun, Skagerrakschlacht. Siege, Siege, deutsche Feldherren ... Über die bösen Kommunisten „klärte“ man uns insoweit auf, daß sie blutrünstige Rabauken und unsere härtesten Gegner wären. Was sie aber wirklich wollten, sagte man uns nicht.

Allerdings reichte es bei der Wehrmacht für mich dann doch nur zum Gefreiten, bis es am 30.12.1944 in der Ardennenschlacht „hands up“ hieß. Damals war ich achtzehn und verbrachte anschließend in Frankreich vierzehn Monate hinter Stacheldraht. Der einzige erkennbare Vorteil bestand darin, daß ich während dieser Zeit meine gymnasialen Sprachkenntnisse praktizieren und vertiefen konnte. Da die Amis offenbar zu bequem zum Erlernen der Landessprache waren, mußte ich oft als Sprachmittler fungieren. Dabei kam ich in Sommauthe - einem Argonnendörfchen südlich von Sedan - erstmals mit einer kommunistischen Familie zusammen, die mich in Beantwortung meiner Fragen bereitwillig über einige Grundfragen des Kommunismus zu informieren versuchte.

Ich war neunzehn, als ich am Abend des 18. Februar 1946 nach Brandenburg an der Havel zurückkehrte. Die Stadt war im Kern total zerstört. Von den vielen typischen Havel- und Kanalbrücken hatte die SS nur eine zu sprengen vergessen. Die Lastwagenfabrik von Opel, das ARADO-Flugzeugwerk, das Walzwerk und nahezu alle anderen Betriebe lagen in Trümmern. Glücklicherweise war meine engere Heimat - der am Stadtrand gelegene Görden - bis auf ein paar zerbombte Häuser verschont geblieben.

Die Probleme der Stadt Brandenburg waren enorm und wurden durch Tausende Flüchtlinge aus den verlorenen Ostgebieten verschärft. Trotzdem waren Anfang 1946 - vor allem auf Initiative der sowjetischen Besatzungsmacht - bereits feste Verwaltungsstrukturen entstanden. SPD und KPD hatten sich wieder organisiert. Mein Vater war rehabilitiert worden, hatte seinen Dienstgrad als Polizeischulrat zurückerhalten und trotz seiner 69 Jahre mit der Ausbildung junger Volkspolizisten begonnen.

In politischer Hinsicht war ich damals beinahe so naiv wie ein neugeborenes Kind. Von den Konzentrationslagern der Nazis hatte ich in der Gefangenschaft nur dadurch erfahren, daß wir den Amis regelmäßig ihre Soldatenzeitung „The Stars and Stripes“ klauten.

Nun klärte mein Vater seinen noch verbliebenen Sohn - der andere war als Siebzehnjähriger noch im Januar 1945 von Hitler an der Ostfront verheizt worden - endlich über die politischen Zusammenhänge auf und machte ihn zu einem vertrauensvollen Genossen der Sozialdemokratischen Partei. Ich schloß mich spontan dem allgemein propagierten Ziel an, niemals wieder Krieg und Faschismus zuzulassen. Einfach, weil ich vom Krieg die Schnauze voll hatte. Dagegen hatte ich von Arbeiterklasse, Klassenkampf, Marx, Engels, Lenin, Liebknecht, Luxemburg oder Thälmann bis dahin nie gehört. Es war Ende Februar 1946, als ich im Alter von knapp 20 Jahren erstmals das Kommunistische Manifest las.

Auch von der sogenannten „großen Politik“ hatte ich damals keine Ahnung. Von der Potsdamer Konferenz wußte ich nur, daß Deutschland in Besatzungszonen eingeteilt worden war. So weit ich das einschätzen kann, entsprach das damals allerdings dem Kenntnisstand der meisten „Normalverbraucher“.

Da ich später Maschinenbau studieren wollte, begann ich danach in der noch intakten Binnenwerft der Gebrüder Wiemann (später Volkswerft „Ernst Thälmann“) zu lernen, wie die Maschinen von Dampfschiffen funktionieren. Die Arbeit war interessant, aber fehlende Zulieferungen zwangen uns zu vielen unfreiwilligen Pausen. Diese hatten allerdings auch ihr Gutes, denn man kam sich näher und diskutierte ohne Hemmungen miteinander - sogar dort, wo jeder ab und zu mal „hinmusste“. An Stoff zur Unterhaltung bestand kein Mangel. Es gab allerhand Kritiken - vor allem an Maßnahmen der sowjetischen Besatzungsmacht. In der Regel wurden sie von Arbeitern geäußert, die bürgerlicher Herkunft oder religiös gebunden waren. Allerdings empfanden auch die fortschrittlich auftretenden Kollegen das Verhalten der Besatzungsmacht als widersprüchlich. Einerseits erwiesen sich die „Russen“ - beispielsweise in ihrem Bemühen um die Verbesserung der Versorgung - als wirkliche Freunde. Andererseits wurden von ihnen in der Garnisonsstadt Brandenburg schlimme und schlimmste Übergriffe verübt. Da half es herzlich wenig, über die primären Verbrechen von SS und Wehrmacht in der Sowjetunion und anderen Ländern zu sprechen.1 Die Diskussion war um so heftiger, als die Zeitungen zu den Vorfällen nichts veröffentlichten.

Aber in der Hauptsache ging es trotzdem darum, wie jeder sich die „Sache“ vorstellte - nämlich die Zukunft! Bald schälten sich drei Denkkategorien heraus. Da waren ältere Kollegen, die schon vor 1933 entweder der SPD oder der KPD angehört bzw. mit einer der beiden Parteien sympathisiert hatten und nun teilweise unterschiedliche Auffassungen vertraten. Die besten Argumente hatten dabei - so möchte ich das heute einschätzen - die Kommunisten, obwohl sie eine Minderheit darstellten. Die dritte und zahlenmäßig stärkste Gruppe bestand überwiegend aus Jüngeren, die nichts als den Faschismus erlebt hatten und angesichts der scheinbar aussichtslosen Situation resignierten. Sie wollten nur essen, arbeiten und Geld verdienen. Alles andere war ihnen egal. Altersmäßig gehörte ich zu dieser Gruppe, identifizierte mich aber nicht mit ihr. Denn die politische Aufklärungsarbeit meines Vaters war inzwischen nicht ohne Wirkung geblieben.

Anfang März 1946 gründete sich auch in der Stadt Brandenburg die Freie Deutsche Jugend (FDJ), und ich wurde zum Vorsitzenden der Ortsgruppe Görden gewählt. Auch hier gab es viele Diskussionen zu Vergangenheit und Zukunft.

Allgemein erwartet, begrüßt und sogar gefordert wurde die Bodenreform. Auch nach Meinung der Arbeiter unseres Betriebes ging es einfach nicht an, daß die parasitäre Kaste der Großgrundbesitzer weiterhin herrschaftlich bestimmen sollte.

Darüber hinaus waren sich alle fortschrittlichen Kollegen einig, daß Hitlers Machtübernahme durch die Einheit der Arbeiterklasse hätte verhindert werden können. Doch nun gab es schon wieder zwei konkurrierende Arbeiterparteien! Zudem drang gerüchteweise aus den Westzonen herüber, daß es dort mit der Bodenreform nicht voranging und jene Kreise erneut Oberwasser gewannen, die Deutschland erst vor kurzem in die Katastrophe geführt hatten. Derartige Erkenntnisse gaben schließlich den Ausschlag dafür, daß auch in unserem Betrieb die Mehrheit der Genossinnen und Genossen von SPD und KPD die Vereinigung beider Parteien forderte. In diesem Sinne erfolgte sie aus unserer Sicht tatsächlich „zwangsweise“, d. h. auf Druck der Basis. Ob nun alle Mitglieder gleichermaßen von diesem Wunsch beseelt wurden, sei dahingestellt. Fakt ist aber, daß sich in den zuvor durchgeführten geheimen Abstimmungen in beiden Parteien Mehrheiten für die Vereinigung fanden.2 Soweit die Sowjetunion beim Zusammenschluß eine Rolle spielte, wurde diese von uns als positiv eingeschätzt.3 Dagegen unterstützten die westlichen Besatzungsmächte Dr. Kurt Schumacher und seinesgleichen dabei, das Vermächtnis der durch die Nazis ermordeten Genossen von SPD und KPD zu mißachten und die an der westdeutschen Basis ebenfalls vorhandenen Bestrebungen zur Herstellung der Arbeitereinheit durch grobschlächtigen Antikommunismus abzuwürgen.

Mit großer Euphorie erlebten wir am 22. April 1946 die Vereinigung beider Parteien. In Brandenburg/Havel begegneten sich dazu feierlich die Vorsitzenden beider Ortsverbände, Genosse Willy Weichenhein (SPD) und Genosse Ernst Altenkirch (KPD), im „Schweizergarten“ an der Grabenstraße. Von diesem Tag an war ich Genosse der neuen Sozialistischen Einheitspartei (SED) und blickte - wie jeder im weiten Kreis meiner Bekannten, Kollegen und Genossen - vertrauensvoll in eine friedliche Zukunft mit sozialer Gerechtigkeit.

Bald danach änderte sich meine berufliche Perspektive. Zwischen den Alliierten war vereinbart worden, daß jede Besatzungsmacht ihren Bedarf an Reparationen aus der jeweiligen Besatzungszone decken sollte. Da die faschistischen Okkupanten in weiten Gebieten der Sowjetunion nur „verbrannte Erde“ hinterlassen hatten, konnten diese unvorstellbaren Schäden selbst durch hohe Reparationsleistungen allenfalls gemildert werden. Trotzdem bedeuteten diese für die Wirtschaft der sowjetischen Besatzungszone natürlich oft schmerzhafte Eingriffe. Mit anderen Worten: Wir lebten noch in der Zeit allgemeiner Demontagen, und an ein Studium des Maschinenbaus schien vorläufig nicht zu denken. Deshalb nahm ich ohne Zögern das Angebot an, ab 1. Juni 1946 als Kriminalassistent bei der Kripo der Stadt Brandenburg zu arbeiten.

Etwa zeitgleich fand in unserer Stadt das I. Parlament der Freien Deutschen Jugend statt, von dem die „Grundrechte der Jungen Generation“ verkündet wurden. Noch heute bin ich stolz darauf, an der kriminalpolizeilichen Sicherung dieser Veranstaltung mitgewirkt zu haben.

In meiner neuen Tätigkeit fand ich mich schnell zurecht. Nach Rückkehr von einem halbjährigen Lehrgang der Polizeischule gelang mir sogar - allerdings mehr zufällig - die Aufklärung eines Mordes. Danach wurde ich systematisch auf die Bearbeitung von Tötungsdelikten spezialisiert. Da ich mich dadurch intellektuell voll gefordert fühlte, erkor ich die Verbrechensbekämpfung und -aufklärung zu meiner Lebensaufgabe. Sehr viel verdanke ich einem damals in unserer Kriminaldienststelle arbeitenden älteren Kollegen und Genossen: dem Kommunisten, Interbrigadisten, Widerstandskämpfer und Opfer des Faschismus (OdF) Paul Neubauer. Er legte in vielen vertrauten Gesprächen mit mir den ersten Keim für meine spätere kommunistische Grundüberzeugung.

Allerdings trat im dritten Jahr meiner Tätigkeit als Kriminalist unvermutet eine Katastrophe ein, die jede bisherige Zukunftsplanung vernichtete und mich zu völliger Umorientierung zwang.

Unsere Überwachung durch den damals unter Berijas4 Kommando stehenden sowjetischen Geheimdienst NKWD war - zumindest in der Stadt Brandenburg - allumfassend und seine Aktivitäten zu Recht von einer Aura undefinierbarer Furcht umgeben. Denn jeder von uns mußte damit rechnen, plötzlich „abgeholt“ zu werden und bis auf Weiteres oder sogar auf Nimmerwiedersehen spurlos zu verschwinden. Dies widerfuhr auch einigen Genossen meiner Dienststelle. Am Freitag, dem 3. September 1948, traf es mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel schließlich selbst. Gegen Mittag wurde ich in die Politische Abteilung unserer Dienststelle gerufen. Dort erwartete mich ein uns allen gut bekannter NKWD-Oberleutnant. Nach seinem Diktat mußte ich handschriftlich eine mehrseitige „Verpflichtung“ abfassen. Danach hatte ich für die sowjetische Militärpolizei zu arbeiten und ihr alle „Faschisten“ zu melden. Eigentlich war mir diese Prozedur nicht neu, und auch andere Mitarbeiter mußten sie etwa halbjährlich wiederholen. Aber dieses Mal erhielt ich einen eigenen Decknamen - „Paul-Peter“ -und einen konkreten, termingebundenen Auftrag. Ich hatte meinen Genossen Kriminal-Oberassistent Hans Gehrke von K 7 (Kommissariat Fahndung und Erkennungsdienst) konspirativ auszukundschaften und dem NKWD nachzuweisen, daß er „Faschist“ sei. Meinen schriftlichen Bericht sollte ich in der Nacht vom 6. zum 7. September zu einer bestimmten Uhrzeit an einem genau bezeichneten Familiengrab auf dem Friedhof nahe der Stadtkommandantur übergeben. In mir stieg die böse Ahnung auf, daß man mich selbst „verschwinden“ lassen wollte. Nicht unterschreiben, ablehnen und raus - das ging nicht. Also unterschrieb ich und faßte gleichzeitig den Entschluß zur Flucht. Vorher warnte ich noch Hans Gehrke - er war keineswegs ein „Faschist“, sondern ein harmloser, gutwilliger Kollege - und überschritt am Sonnabend, den 4. September 1948, 15.55 Uhr in der Nähe von Helmstedt die „grüne“ Grenze zur britischen Besatzungszone.

Da stand ich also nach Durchwaten des Grenzbächleins Aue mit nassen Beinen nebst meinem Koffer voller Wäsche auf einem Feld zwischen Hötensleben/Ost und Schöningen/West. Mir war furchtbar zumute, und ich hatte eine Stinkwut auf alle Sowjetorgane - insbesondere natürlich den NKWD. Eine meiner ersten Handlungen war, per Einschreiben und mit ausführlicher Begründung aus der SED auszutreten. Anschließend durchlief ich einen mehrwöchigen Aufenthalt im Barackenlager Uelzen, bei dem seitens des britischen Secret Service eine intensive Durchleuchtung meiner Person erfolgte. Nachdem das Interesse an mir erloschen war, kam ich nach Quakenbrück im Emsland. Arbeit? Keine. Sammelunterkunft in einem Tanzsaal, ein bißchen Sozialhilfegeld ...

Schließlich meldete ich mich zum Steinkohlenbergbau im Ruhrgebiet. Damals suchten die Leute. Auf der Zeche „Emscher“ der Hoesch AG in Altenessen wurde ich als Schlepper „angelegt“. So war ich also im „Pütt“, wie der Kumpel seinen Arbeitsplatz nennt. Das hieß: eintausend Meter unter Tage, extrem schwere Arbeit bei 40 Grad Celsius und mehr; abwechselnd immer Preßlufthammer und Schippe; die Atemluft stickig und fast „zum Schneiden“; Dunkelheit, von Grubenlampen hier und da aufgehellt. Lohn: 9,23 DM pro Schicht. Unterkunft: wieder Barackenlager. Aus dem Politunterricht bei der Polizei wußte ich es rein theoretisch. Aber nun erfuhr ich erstmals am eigenen Leibe, was Ausbeutung ist.

Ende 1949 erlitt ich einen Bandscheibenschaden, der mich bergbauuntauglich machte. Danach war ich arbeitslos und bezog - auch erstmals im Leben - 9 Monate Arbeitslosengeld: 18,40 DM pro Woche. Damit kam trotz des damals niedrigeren Preisniveaus wohl kaum jemand zurecht. Inzwischen war ich auch verheiratet. Anfangs hatte meine Frau noch Arbeit, verlor sie aber, als Nachwuchs unterwegs war, und erhielt noch weniger Arbeitslosengeld als ich. Für unsere hart erkämpfte „Wohnung“ (12 m2 Dachschräge) bezahlten wir allein schon 32 DM Miete.

Danach folgten ab Sommer 1950: Hilfsarbeiter im Abbruch; Hucker auf dem Bau; Maurer (selbsternannt). Das Ganze immer wieder unterbrochen durch Phasen der Arbeitslosigkeit und Firmenpleiten. Da ich weder über Geld noch Protektion verfügte, hatte ich keinerlei Perspektive.

Ich organisierte mich wieder politisch und trat zunächst in die SPD ein. Aber sie war inzwischen von solchen Leuten wie Dr. Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer auf einen Kurs bürgerlicher Anpassung gebracht worden, der sie zielsicher in die Arme des kapitalistischen Gegners geführt hatte.

Sehr nachdenklich stimmte mich die Ermordung des Jugendlichen Philipp Müller am 11. Mai 1952 durch einen aufgehetzten Angehörigen der staatlichen Knüppelgarde. Ich erlebte dies anläßlich einer Demonstration vor dem Essener GRUGA-Park aus der Hintergrundmenge mit.

Zwischenmenschliche Beziehungen bauten sich immer mehr ab. Jeder versuchte zu raffen, was sich raffen ließ. Das alles Beherrschende war das Geld. Wer es besaß, hatte die Macht. Mit anderen Worten: Ich erlebte damals das, was uns Ostdeutschen heute „geboten“ wird - nur eben etwa 40 Jahre früher.

Das Verbot der KPD im Jahre 1956 nahm ich zur Kenntnis. Es berührte mich allerdings zunächst nicht sonderlich. Denn noch war ich ja innerlich Sozialdemokrat, wenn auch bereits recht kritisch. Mein endgültiger Bruch mit der SPD erfolgte nach dem Godesberger Parteitag Ende 1959, auf dem die Partei sich von den letzten Resten marxistischer Prinzipien befreite. Dies veranlaßte mich zur Abgabe des Mitgliedsbuches.

1960 wurde meine Ehe geschieden. Meine bis dahin noch in Brandenburg wohnende Mutter verstarb ein Jahr später. Kurz danach entschloß ich mich zur Übersiedlung in die DDR.

Ich kam in einen Staat, den ich noch nicht kannte. Aber Stalin war tot, Berija unschädlich gemacht, und der NKWD hatte sich in sein Heimatland zurückgezogen.

Wieder mußte ich mich einem Aufnahmeritual unterziehen - diesmal war es ein Lager in Barby/Elbe. Das für mich neue „politische Röntgenorgan“ hieß MfS - Ministerium für Staatssicherheit. Aber die fragten kaum, sondern forderten mich freundlich zum Aufschreiben meiner Erlebnisse auf - einschließlich der Umstände meiner vormaligen Flucht aus der sowjetischen Besatzungszone. Das tat ich: unbeschönigt, seitenlang ... Und all das wurde ohne ein Wort der Kritik oder des Vorwurfs akzeptiert! Allerdings dauerte die Überprüfung etwa vier Wochen und lief vermutlich auch über Kanäle im Westen. Aber dann war ich frei und durfte Ende Juli 1961 in die DDR einreisen! Natürlich ging ich in meine Heimatstadt Brandenburg/Havel.

Arbeit erhielt ich sofort; wenn auch nicht als Universitätsprofessor, so doch zunächst als Straßenbahnschaffner und nach entsprechender Qualifizierung als Triebwagenführer. Und - im Unterschied zu den bis heute in der BRD herrschenden Verhältnissen - es war eine feste, verläßliche Arbeitsstelle! Aber am meisten beeindruckte mich, wie ich von den Mitgliedern „meiner“ Brigade sofort akzeptiert, freundschaftlich „vereinnahmt“ und menschlich betreut wurde.

Irgendwann fiel dann wohl jemandem auf, daß die Tätigkeit als Straßenbahnfahrer meine Fähigkeiten nicht ganz auslastete. Kurzum, man bot mir an, mich zum Lehrer zu qualifizieren: in der BRD damals wie heute ein Ding der Unmöglichkeit!

So begann ich - zunächst noch ohne Ausbildung - Anfang Februar 1964 meinen Dienst in einer sogenannten „Station Junger Techniker und Naturforscher“ in Brandenburg/Havel. Es wurde ein wahrhaft brisanter Start. Sonnabends hatte ich zum letzten Mal den Fahrschalter einer Straßenbahn bedient und nahm am Montagmorgen an der ersten Dienstbesprechung in meiner neuen Arbeitsstelle teil. Da betrat die Direktorin der Gördenschule den Raum und bat „händeringend“ um einen Kollegen, der in Vertretung eines zum Reservistendienst einberufenen Lehrers für sechs Wochen den Mathematikunterricht der 7. Klasse übernehmen könne. Da sich von den anderen dazu niemand in der Lage fühlte, blieb die Sache an mir hängen. Ich wurde „überzeugt“ und packte danach den Stier - die Stoffeinheit Proportion - bei den Hörnern. Selbstverständlich bekam ich allerhand pädagogische Probleme mit den pubertierenden Schülern beiderlei Geschlechts. Aber ich erhielt Hilfe durch Hospitationen, und man bestätigte mir sogar, daß ich „weit über dem Stoff“ stünde.

Noch im gleichen Jahr begann mein Fernstudium: 10 Semester, und zwar völlig kostenlos, mit laufendem Gehalt bei Freistellung zu den Semesterlehrgängen. Danach war ich voll ausgebildeter Lehrer und im Besitz der Lehrbefähigung bis zur 10. Klasse. Insgesamt war ich zweiundzwanzig Jahre als Pädagoge tätig, bevor ich im Jahr 1986 wegen eines chronischen Lungenleidens vorzeitig ins Rentnerdasein entlassen wurde.

Und wie sah es mit meiner politischen Einstellung zur DDR aus? Zunächst einmal ganz einfach: 1948 aus der SED raus (siehe oben). - Wieder rein ging natürlich nicht. Wollte ich auch gar nicht, denn ich dachte mir, politisch glaubwürdiger wirken zu können, ohne daß man mir gleich den „Genossen“ ansah. Ich machte eine Entwicklung durch, die man vielleicht als die eines parteilosen Kommunisten bezeichnen kann. Ziemlich vorsichtig versuchte ich immer wieder, mein „Privileg“ auszuspielen: nämlich die Tatsache, daß ich das, was die Propagandaorgane der DDR über die Vorgänge und allgemeinen Verhältnisse im Westen vermittelten, nach dreizehnjähriger eigener Erfahrung als durchaus der Wahrheit entsprechend bestätigen konnte. Dies wollte ich meinen Schülern, Kollegen und anderen Mitbürgern vermitteln. Leider mußte ich feststellen, daß viele von ihnen der durch die BRD-Medien oder irgendeine geBilLDete Tante Emma vorgespiegelten westlichen Scheinwelt anhingen und dadurch zu einer gegnerischen Waffe des Kalten Krieges wurden.

Seit 1989 haben wir sie nun um und über uns - die ganze Bande raffgieriger Halsabschneider mit und ohne „Buschzulage“. „Privatisierung“ ist Trumpf - das passende lateinische Verb heißt „privare“ und bedeutet „berauben, wegnehmen“. Karl Marx fand das Synonym: „ausbeuten“. Wer jetzt noch nicht begriffen hat, warum ich mich zum Kommunismus bekenne, ist selber schuld! Mit einem Zitat von Ulrike Meinhof möchte ich schließen:

Wir können sie nicht zwingen, die Wahrheit zu sagen;
wir können sie nur zwingen, immer unverschämter zu lügen.

                   Klaus Möhle


1 Ich kann diese Übergriffe auch aus heutiger Sicht nicht verharmlosen. Allerdings begriff ich während meiner späteren Tätigkeit bei der Kriminalpolizei, daß es sich nicht um Übergriffe der „Besatzungsmacht“ schlechthin, sondern um illegale Taten einzelner bzw. als Banden organisierter Rotarmisten oder noch nicht repatriierter ehemaliger „Fremdarbeiter“ handelte. Durch die sowjetischen Militärgerichte wurden diese Verbrechen - so man sie denn aufklären konnte - geradezu drakonisch bestraft.

2 Von der Gesamtmitgliedschaft beider Parteien entfielen damals 2/3 auf die SPD und nur 1/3 auf die KPD. Also wäre die SPD-Mehrheit spielend in der Lage gewesen, sich jedem Vereinigungs-„Zwang“ zu widersetzen. Unstrittig gab es eine Minderheit, welche die Vereinigung ablehnte. Diese paßte sich danach entweder an oder entschwand bald gen Westen. Denn die Grenzen waren ja offen.

3 Über die furchtbare Rolle Stalins in der UdSSR waren wir damals nicht informiert.

4 L. P. Berija (1899 - 1953). Nach Stalins Tod angeklagt, verurteilt und im Dezember 1953 erschossen.


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