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Verwaltungslehrling in Lindow

 Die letzten Tage des Monats April und die ersten des Mai im Jahre 1945 bleiben mir als markanter Punkt meines Lebens in Erinnerung. Ich war fünfzehn Jahre alt, und jene Ereignisse bestimmten meinen weiteren Entwicklungsweg.

Alle Menschen meiner Heimatstadt Lindow waren in banger Erwartung der heranrückenden Truppen der Roten Armee. Der Krieg mit seinem Morden und Zerstören sollte endlich vorbei sein. Die Luftschutzsirenen hatten uns schon wochenlang jede Nacht aus dem Schlaf gerissen, wenn englisch-amerikanische Bomber über uns hinwegflogen, um Tod und Verderben über die Berliner Bevölkerung zu bringen. Aber die Angst um das eigene Überleben wuchs täglich: Werden die Männer von den Russen abgeholt und erschossen, die Frauen vergewaltigt?

Das Entsetzen kam für mich in den letzten Apriltagen, als sich die Häftlinge des damaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen auf ihrem Todesmarsch durch Lindow schleppten. Noch heute steht mir vor Augen, wie sie sich zu Fuß, ausgehungert, ausgemergelt und zerlumpt, teilweise in Ketten, die Landstraße entlangquälten - strengstens von den SS-Schergen und deren Kampfhunden bewacht.

Dieser Schock war noch nicht überwunden, als die nächste Hiobsbotschaft eintraf. Ein fanatischer SS-Offizier hatte sich die Aufgabe gestellt, seine Heimatstadt Lindow (südöstlich von Neuruppin zwischen drei Seen gelegen, ca. 3.000 Einwohner, flaches Land, keine strategische Bedeutung) zu verteidigen. Mit der von ihm befohlenen Sprengung einer Straßen- und einer Eisenbahnbrücke über den Kanal zwischen zwei Seen sowie einigen Panzersperren sollte der Krieg noch gewonnen werden. Deutsche Artillerie beschoß auf ihrem Rückzug die Stadt und zerstörte bzw. beschädigte dabei mehrere Wohnhäuser.

Wir hatten am 30. April unser Grundstück verlassen und bei Bekannten außerhalb der Stadt Unterschlupf gefunden. Als wir in den Vormittagsstunden des 1. Mai zaghaft zurückkehrten, standen wir und einige andere Familien vor den Trümmern unserer Häuser. Während der Nacht hatte die Rote Armee eine Holzbrücke errichtet, aber danach war die kämpfende Truppe weitergezogen. Wie sich herausstellte, hatten sich die Nazigrößen des Ortes inzwischen nach dem Westen abgesetzt oder den Freitod gewählt.

Mit der Befreiung vom Faschismus war natürlich das gesellschaftliche Leben im Ort zum Erliegen gekommen. Neue Leute mußten her, um die dringendsten Aufgaben zu erfüllen. Der sowjetische Kommandant bestellte einige für ihre antifaschistische Haltung bekannte Bürger in die Stadtverwaltung, beauftragte sie, das Leben wieder in Gang zu bringen und ernannte einen Bürgermeister. Aus der alten Verwaltung waren nur noch der Stadtsekretär und der Kassenrendant (heute Kämmerer) zur Verfügung. Als Antifaschist bekannt, wurde mein Vater ebenfalls in die Stadtverwaltung geholt. Auch ich mußte mich für eine Tätigkeit entscheiden und begann am 15. Mai 1945 als Verwaltungslehrling - diesen Beruf gab es damals noch - zu arbeiten. Damit ging ich den ersten Schritt auf einem Entwicklungsweg, der untrennbar mit der entstehenden antifaschistisch-demokratischen Ordnung verbunden war.

Für die Lindower war das Wichtigste, daß die Besatzungsmacht keinerlei Rachegefühle hegte. Überall war große Erleichterung spürbar, hatten sich doch die faschistischen Propagandaparolen nicht bewahrheitet. Am meisten überzeugte die tägliche warme Mahlzeit aus der sowjetischen Gulaschkanone. Bald kam es auch zu persönlichen Kontakten mit Rotarmisten oder Angehörigen der 1. Polnischen Armee, die zur ;ten Welle der kämpfenden Truppe gehört hatten. So wurde unsere kriegsgeschädigte Familie von zwei polnischen Offizieren besucht, die sich nach unserem Befinden erkundigten und für neuen Wohnraum sorgten. Durch solche und ähnliche Erlebnisse wuchs auch bei anderen Lindowern die Bereitschaft, an der Gestaltung eines neuen Lebens mitzuwirken.

Morgens 8 Uhr hatte sich die arbeitsfähige Bevölkerung vor der Kommandantur einzufinden, und dann erfolgte die Einteilung der Arbeit. So ging es Schritt für Schritt voran. Allerdings blieb die Not der Menschen trotz aller Hilfsmaßnahmen der Besatzungsmacht auch in den Folgemonaten groß und wurde durch den ständigen Zustrom von Flüchtlingen verschärft. Alle wollten Essen, Unterkunft und Arbeit.

Die Stadtverwaltung hatte damals außer mir noch einen weiteren Verwaltungslehrling. Unser Ausbilder war der noch im Amt tätige Stadtsekretär, ein ausgezeichneter Verwaltungsfachmann. Allmählich bildeten sich die neuen Strukturen der Stadtverwaltung mit Bereichen wie Arbeitsamt, Handel und Versorgung, Landwirtschaft, Standesamt usw. heraus. Wir durchliefen in unserer Lehrlingszeit aber nicht nur die sprechenden Abteilungen, sondern wurden auch zu anderen Aufgaben herangezogen und zu sehr selbständiger Arbeit befähigt.

Die morgendlichen Appelle vor der Kommandantur fielen alsbald weg. Danach verteilte das Arbeitsamt die Arbeitsaufgaben für den folgenden Tag per Kartenmitteilung. Auch für nachts gab es Aufträge.

In der allgemeinen Not waren die heranwachsenden Feldfrüchte begehrte Objekte, den Hunger zu stillen. Also wurde die Feldwacht eingeführt. Im mehrstündigen Schichteinsatz bewachten immer zwei mit Taschenlampen „bewaffnete“ Personen die Kartoffel- und Rübenfelder. Auch ich gehörte dazu.

Die Flüchtlinge aus dem Osten brauchten Wohnraum. Deshalb wurden sie mit Zuweisung der Stadtverwaltung in größeren Wohnungen einquartiert, obwohl das bei manchem alteingesessenen Lindower nicht auf Gegenliebe stieß.

Auch das kulturelle Leben entwickelte sich. Tanz am Wochenende mit der Kapelle Rabe wurde zur Normalität. Und das auch bei Stromsperren und Kerzenschein, denn man spielte noch „Musik pur“ mit Klavier, Geige, Saxophon und Baß. Eine Gruppe talentierter Bürger brachte Theaterstücke auf die Bühne und sogar eine Operette.

Der Befehl der Sowjetischen Besatzungsmacht zur Bildung politischer Parteien bedeutete auch für mich den Schritt zur aktiven politischen Arbeit. Wie mein Vater wurde ich - sechzehnjährig - Mitglied der SPD. Als dann der Zusammenschluß von KPD und SPD auf der Tagesordnung stand, gab es dazu keine großen Vorbehalte. Die lagen wohl eher in der höheren Ebene. Wir empfanden es als richtig, daß sich die Arbeiterklasse einig war und geschlossen einen demokratischen Staat aufbaute. Vorbehalte bestanden lediglich gegenüber einzelnen örtlichen KPD-Funktionären, deren Verhalten nicht immer die Zustimmung der Bevölkerung gefunden hatte. Aber nach allem, was geschehen war, gab es zur politischen Notwendigkeit der Vereinigung keine gegenteiligen Meinungen.

In der Verwaltung wie im allgemeinen Leben ging in dieser Zeit allerdings vieles noch ,„drunter und drüber“. Davon blieb auch unsere Stadtverwaltung nicht verschont. Trotzdem widerstanden wir beiden Lehrlinge eines Tages nicht der Versuchung zu einem Schabernack. Unser damaliger Leiter des Arbeitsamtes war gleichzeitig Standesbeamter und unterschrieb jede Urkunde ungelesen. Nun stellten wir seine Sterbeurkunde aus, er unterzeichnete das Dokument ohne es zu lesen, und wir schickten es seiner Frau. Das brachte uns natürlich großen Ärger ein - mir darüber hinaus aber auch eine Lehre: Danach unterschrieb ich nie etwas, ohne es vorher genau durchzulesen.

Vieles klappte nicht, weil die Erfahrung fehlte. Manches wurde falsch oder subjektiv entschieden. Oft fanden Bürger, die sich anbiederten, mehr Gehör als solche, die bescheiden und ehrlich arbeiteten. Die alteingesessenen Einwohner kannte man. Aber die Zugezogenen waren auch nicht immer ehrliche Menschen. So hatten wir eine Zeitlang einen Arbeitsgebietssekretär der SED, dessen Vergangenheit sich als kriminell herausstellte. Mancher „Antifaschist“ war in seinem früheren Wohnort ein aktiver Nazi, z. B. Ortsbauernführer, gewesen. Nach und nach wurden eine Reihe derartiger Fälle durch Hinweise aus anderen Orten bekannt. Die Betreffenden zogen es dann vor, sich eiligst in Richtung Westen abzusetzen.

Aber auch der Schwarzhandel blühte. Warenhortungen mehrten sich. Schiebereien nahmen ständig krassere Formen an. Unser Gebiet mit seiner ländlichen Struktur wurde immer mehr zum Anziehungspunkt Berliner Bürger, die sich mit den nötigsten Lebensmitteln versorgen wollten. Zu Tausenden zogen sie an den Wochenenden mit den Dampfzügen, per Fahrrad oder zu Fuß in die Dörfer, um zu Eßbarem zu gelangen und hingen wie Trauben an den wenigen, völlig überfüllten Zügen.

Und es gab sie ja - Menschen, von denen die große Not anderer ausgenutzt wurde. Umsonst bekam von denen keiner etwas. So opferten die Berliner Teppiche, Bettwäsche, Schmuck oder andere Wertsachen, um dafür Kartoffeln, Rüben oder andere Nahrungsmittel einzutauschen. Einige Bauern schröpften die sogenannten „Hamsterer“ nach allen Regeln der Kunst. So kannte ich welche, die in ihren Kuhställen Teppiche liegen hatten, weil anderswo kein Platz mehr war. Die neuen Verwaltungsorgane standen dieser Situation nahezu machtlos gegenüber, obwohl die ersten Hilfspolizisten - nur mit einer roten Armbinde ausgerüstet - auf den Bahnhöfen einigermaßen für Ordnung zu sorgen versuchten. Gemeinsam mit anderen zuverlässigen Bürgern mühte auch ich mich erfolglos ab. Eigentlich konnte man nur mithelfen, daß bei der Heimfahrt niemand auf dem Lindower Bahnhof stehenbleiben mußte.

Den Bauern war wegen dieser „Tauschgeschäfte“ zunächst wenig anzuhaben. Die staatlichen Organe konnten erst eingreifen, wenn sie die Aufgaben zur Pflichtablieferung landwirtschaftlicher Erzeugnisse nicht erfüllten.

Der Schwarzmarkt breitete sich auch in Lindow aus, und ich wurde Vorsitzender des Volkskontrollausschusses. Wir gingen den Hinweisen der Bevölkerung auf vermutliche Warenhortungen oder Schiebereien nach und waren mit erheblichen Rechten ausgestattet. Die entsprechenden Waren wurden beschlagnahmt, listenmäßig erfaßt und an Bedürftige verteilt. Logischerweise waren die Mitglieder der Volkskontrollausschüsse bei einem bestimmten Personenkreis sehr unbeliebt. Zu Übergriffen kam es in unserer Stadt jedoch nicht.

Die Verwaltungsstruktur entwickelte sich u. a. durch Bildung der Bezirksbürgermeistereien weiter. So wurden die Gemeinden im Umkreis von ca. 15 km zusammengefaßt und dem Lindower Bürgermeister organisatorisch unterstellt. Für die tägliche Kurierverbindung standen oft nur alte Fahrräder zur Verfügung.

Bekanntlich gab es für die Bevölkerung zu dieser Zeit Lebensmittelkarten. Die Geschäftsleute - Bäcker, Fleischer, Lebensmittelhändler usw. - mußten die Einzelabschnitte (Marken) auf Papier aufkleben und mit der „Markenrücklaufstelle“ der Stadtverwaltung abrechnen. Als ich eine Zeitlang dort arbeitete, hatte ich die Aufrechnung der geklebten Abschnitte zu prüfen. Danach wurden beispielsweise die Mehlzuweisung für den Bäcker und die abgelieferten „Brotmarken“ einander gegenübergestellt. Bei erheblichen Differenzen - und die kamen vor - gab es weitere Untersuchungen und in Einzelfällen auch Strafmaßnahmen.

Eine historische Entscheidung war damals die Durchführung der demokratischen Bodenreform und ich erinnere mich, daß sie auch in unserem Gebiet die begeisterte Zustimmung nahezu aller Menschen fand. Mit Tränen in den Augen nahmen die Antragsteller ihre Besitzurkunde über eigenen Acker, Wiese oder Wald entgegen. Die Enteignung der Junker und Großgrundbesitzer wurde als äußerst gerecht empfunden. Sie gehörten zu den Stützen des faschistischen Staates, der so viel Elend über das eigene Volk und die Völker anderer Staaten gebracht hatte. Sie waren mitschuldig daran, daß viele Menschen Haus und Hof verlassen mußten und ihre Liebsten verloren hatten. Auch in Lindow wurde die Enteignung und Aufsiedlung der Ländereien des Nazi-Ministers Dr. Halmar Schacht in Gühlen und des Gutes Birkenfelde als völlig gerecht empfunden.

Heute macht sich kaum jemand Gedanken darüber, wie diese Herrschaften überhaupt zu ihrem Reichtum gekommen sind. Knechte und Mägde, die oft schlechter als das Vieh behandelt wurden, unter menschenunwürdigen Verhältnissen dahinvegetieren mußten und ständig gedemütigt wurden, sind als Zeitzeugen kaum noch am Leben. Aber ihr Schicksal muß eine Mahnung für das Heute und Morgen sein. Das sollten wir vor allem jenen ins Stammbuch schreiben, die nun auf den Plan treten und diese Verhältnisse wieder herstellen wollen.

Die Bodenreform fand aber auch deshalb große Zustimmung, weil viele Familien einen neuen Anfang sahen und eine materielle Grundlage für ihr weiteres Leben erhielten. Manche hatten Haus und Hof verloren und konnten nun ein neues Leben beginnen. Gestern noch ausgebeutete Untertanen - heute Herr auf eigenem Grund und Boden. Und gemeinsam packten sie es erfolgreich an. Durch die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) wurde untereinander Hilfe organisiert. Maschinenausleihstationen (MAS) - Vorläufer der späteren Maschinen-Traktoren-Stationen und der Kreisbetriebe für Landtechnik - stellten Technik bereit. Und so wurden mit der weiteren Entwicklung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung schrittweise menschenwürdige Verhältnisse auf dem Lande geschaffen.

Nach zweieinhalb Jahren legte ich im Jahre 1948 erfolgreich meine Prüfung als Verwaltungsangestellter ab. In dieser Zeit hatte ich mich voll in das gesellschaftliche Leben integriert, war Tag und Nacht einsatzbereit. Selbstverständlich arbeitete ich auch in der antifaschistischen demokratischen Jugendorganisation, der Freien Deutschen Jugend, mit und war in den Jahren 1948/1949 Vorsitzender der FDJ-Ortsgruppe Lindow. Unsere Haupttätigkeit bestand in der Organisierung eines sogenannten „frohen Jugendlebens“, hauptsächlich durch Singeabende, Wassersport (Paddeln), Tanzvergnügen, Lagerfeuer und andere Veranstaltungen. Nach Beendigung der Lehrzeit nutzte ich die Gelegenheit zum Besuch eines Vierteljahreslehrgangs der Verwaltungsschule in Beelitz. Ausgerüstet mit neuen Erkenntnissen, wollte ich den begonnenen Entwicklungsweg danach unbedingt fortsetzen. Denn jetzt war nicht mehr der Geldbeutel der Eltern entscheidend, sondern der eigene Fleiß. Bei entsprechender Zielstrebigkeit standen auch mir - trotz nur achtklassiger Volksschulausbildung - alle Wege offen. So folgte ich meinem Ehrgeiz und übernahm 1949 eine Tätigkeit in der Landesregierung Brandenburg.

Für mich war es selbstverständlich, dort weiterhin als Funktionär in der FDJ-Grundeinheit mitzuarbeiten. Auf einem LKW mit Plane fuhren wir im Oktober 1949 in höchster Anspannung nach Berlin, um unter Tausenden FDJlern unseren neuen Staat mit einem großen Fackelzug zu begrüßen. Später war ich FDJ-Sekretär der Grundeinheit des Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit. Nach dem zentralen Beschluß zum Aufbau des Pionierpark „Ernst Thälmann“ in der Berliner Wuhlheide organisierten wir dafür eine große Spendenaktion der unserem Ministerium unterstellten Betriebe, durch die mehrere Hunderttausend Mark zusammenkamen. Der FDJ blieb ich übrigens auch später treu und war zeitlebens bei allen Berliner Jugendtreffen im Blauhemd dabei.

Im Jahre 1952 begann mein Studium an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft in Potsdam-Babelsberg, das ich 1955 als Diplomjurist abschloß. 

Horst Kugel 


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