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Opa Heinrich und die Seinen
„Aufhalt“, so nannten einige Hundert Menschen ihr verträumtes Dorf an der mittleren Oder, in dem mich meine Mutter das Licht dieser Welt erblicken ließ. Und viele Dorfbewohner hätten ganz gern bis an ihr Lebensende dort wohnen wollen, denn Ruhe und gesunde Luft boten dafür gute Voraussetzungen. Auf den Wiesen und Feldern zwischen den alten Eichen-Auwäldern am Strom und dem höher gelegenen Mischwald mit meterdicken Kiefern - auf denen die grauen Fischreiher nisteten und wo wir Kinder erfolgreich Blaubeeren, Preiselbeeren und Pilze sammelten - waren Weiß- und Schwarzstorch, Wiedehopf und Kuckuck, Ziegenmelker und Pirol noch regelmäßige Sommergäste. Unvergessen bleibt für Naturmenschen das Geräusch der „Himmelsziegen“, das an lauen Frühlings- und Frühsommerabenden die „Bekassine“ genannten Sumpfschnepfen im Sturzflug über den Oderwiesen erzeugten.
Nur ab und zu wurde diese friedliche Ruhe durch die Sirenensignale vorüberfahrender Dampfschiffe auf dem Oderstrom unterbrochen. Dann hörten viele Dorfkinder sogar heraus, ob mit diesem Schiff der sehnsüchtig erwartete Vater sein Kommen ankündigte oder nur ein Verwandter oder Nachbar. Aufhalt war ein typisches „Schifferdorf“. Mehr als die Hälfte der Männer standen im Dienste der Binnenreederei des Juden Wollheim oder anderer Kapitalfirmen. Die meiste Zeit des Jahres pendelten sie zwischen Oberschlesien und Stettin, Berlin, Hamburg, Magdeburg und Duisburg. Nur in strengen Wintern, wenn alle Gewässer zufroren, kamen sie einmal für mehr als eine Woche nach Hause - hielten sich in Aufhalt auf.
Die Binnenschiffer sprachen, wenn sie unter sich waren, immer noch von „Wollheim“, obwohl dieser längst von den Nazis enteignet und die Reederei in „Schlesische Dampfer-Compagnie“ umbenannt worden war. Gern hätten die Nazis auch alle Binnenschiffer an die Kriegsfront geschickt. Aber sie konnten die dringend benötigten Transportmittel nicht allein mit Kriegsgefangenen aus West- oder Nordeuropa „besetzen“.
War es Zufall oder lag es daran, daß die Dorfmänner keine Zeit dafür hatten, daß Aufhalt keine Kirche, sondern nur einen Glockenturm besaß? Seit vor einem Vierteljahrtausend der körperlich kleine und groß genannte II. Friedrich mit seinen Soldaten Schlesien in sein Preußenreich einverleibt hatte, gab es in Aufhalt alle Hausnummern doppelt. Auf der einen Seite des Dorfes wohnten die „Fürstlichen“ (benannt nach dem Fürsten von Karolath) und auf der anderen Seite die „Königlichen“. Für die Menschen hatte das aber keine Bedeutung mehr.
Oberflächlich betrachtet, lebte unser Dorf noch bis zum Ende des sechsten Kriegsjahres relativ friedlich, obwohl die polnische Grenze nur etwa 20 Kilometer entfernt war. Aber zum Jahreswechsel 1944/1945 rückte von Osten her ein Wintergewitter besonderer Art heran! Das erst nur schwach vernehmbare ferne Donnergrollen kam näher und wurde immer lauter und bedrohlicher, obwohl über dem dunklen Wald noch keine Blitze zu sehen waren. Dafür blitzten die Taschenlampen der Nazibeamten, die in der Dunkelheit von Haus zu Haus eilten und alle Leute energisch aufforderten, sofort zur Flucht vor den heranrückenden „bolschewistischen Untermenschen“ in Richtung Westen aufzubrechen. Noch in der gleichen Nacht passierten die Dorfbewohner mit ihren beladenen Pferdewagen die Oderbrücke bei Neusalz (Nowa Sol), und sie zogen weiter bis in das etwa 35 Kilometer westwärts liegende große Dorf Niebusch, das die Nazis in Langhermsdorf umbenannt hatten. Dessen Bewohner waren durch die Nazibehörden ihrerseits nach Westen ausquartiert worden.
Der Oderstrom hielt nun die Front einige Wochen auf. Und in den Festungen Glogau und Breslau an der Oder dauerte der Kampf noch Monate.
Mitte Februar 1945 überrollte uns schließlich die Front. So etwas kann ein denkender und fühlender Mensch bis an sein Lebensende nicht vergessen. An dieser Stelle reicht der Platz nicht aus, um alle wesentlichen Eindrücke zu schildern. Ich könnte schreiben über die Ruhe vor dem Ansturm der Front, über die Geschosse, die neben uns einschlugen, über die flüchtende Wehrmacht, über „Werwolf“-Hitlerjugend-Heckenschützen, über das brennende Pfarrhaus, über Panzer und „Panje“-Wagen, über die Angst der Frauen und über das Brot, das die „Russen“ den Kindern gaben.
Die „Russen“ feierten diesen Tagessieg und sprachen davon, daß „Gitler kaput“ sei und sie in vierzehn Tagen in Berlin sein würden. Aber bis dahin mußten leider noch viele Menschen ihr Leben lassen.
Unsere „Sippe“ umfaßte wenige Tage nach diesem besonderen Ereignis zwölf Personen: Opa Heinrich und Oma Emma, meine Mutter mit zwei sowie ihre Schwester Frieda mit sechs Kindern. Diese Truppe von acht Kindern und vier Erwachsenen wurde durch Großvater Heinrich angeführt. Ihm verdanken seine beiden Töchter und seine Frau, daß sie verschont wurden. Großvater hatte einem Russen in deutscher Kriegsgefangenschaft geholfen. Nun revanchierte sich dieser als Angehöriger der Sowjetarmee.
Im Mai 1945 führte Opa Heinrich seine zwölfköpfige Familie zurück in das Heimatdorf östlich der Oder. Er arbeitete fleißig, um die Versorgung und Lebensgrundlage aller zu sichern. Von dem bevorstehenden Potsdamer Abkommen wußten wir noch nichts. Deshalb waren wir nicht wenig überrascht, als uns polnische Behörden im Juli 1945 innerhalb weniger Stunden vor die Entscheidung stellten, entweder als Deutsche nach Westen umzusiedeln oder als künftige Polen zu bleiben. Bis auf Familie Klimek entschieden sich alle Dorfbewohner zum Gehen. Kinder wurden nicht gefragt. Möglicherweise hätten wir uns für das Bleiben entschieden, denn das Dorf war für mich Zehnjährigen und meine Freunde wunderschön.
Auch die Wochen der „Umsiedlung“ - manche nennen es „Vertreibung“ - lassen sich nicht in wenigen Zeilen ausreichend wiedergeben. Wochenlang gingen wir täglich viele Kilometer zu Fuß und übernachteten in Straßengräben und Wäldern. Zum Glück für uns war Hochsommer. Auf einer großen Wiese östlich der Lausitzer Neiße bei Forst „durften“ wir dann bis auf unser Handgepäck und zwei Kinderwagen alles zurücklassen, was wir bis dahin mitgeschleppt hatten.
Ich erinnere mich nicht, daß uns jemand westlich des Neißeflusses empfangen hätte, um zu sagen, wohin wir gehen sollten oder um uns Verpflegung und medizinische Betreuung zu geben. Es herrschte ein ziemliches Chaos. Die Menschen strömten nach Westen ins Ungewisse. Und wenn sie sich hilfesuchend an nicht von der Umsiedlung Betroffene wandten, bekamen sie häufig zu hören: „Wir ham nichts!“
Trotz intensiver Bemühungen unseres Großvaters war es nicht möglich, die verbliebene „Sippe“ geschlossen an einem Ort unterzubringen und eine Bleibe auf Dauer zu erwirken. In dieser deprimierenden Situation erlebten wir auf der Landstraße zwischen der Bahnstation Uckro und dem Dorfe Rosenthal im Brandenburgischen plötzlich einen Freudenausbruch des damals dreizehnjährigen Siegfried, dem ältesten von Heinrich Bechers Enkeln. Mein Vater, der im Krieg schwer verwundet und von den sowjetischen Behörden aus dem Lazarett Hubertusburg/Sa, entlassen worden war, hatte auf der Suche nach seiner Familie Zettel an Straßenbäume geheftet. Einen dieser Zettel sah nun sein „angeheirateter“ Neffe Siegfried Schreck und freute sich so, als handle es sich um seinen eigenen Vater.
Meinen Vater fanden wir im Krankenhaus Dahme/Mark, wo er wegen Gelbsucht eingeliefert worden war. Nach seiner Genesung erhielt er Arbeit und eine primitive Unterkunft für seine Familie bei einem Großbauern in Liedekahle, Kreis Luckau. Die folgenden eineinhalb Jahre Ausbeutung durch einen Großbauern wurden im Verein mit seinen Kriegserlebnissen für ihn und uns eine wichtige politische Lehre fürs Leben und das Ankommen in der späteren DDR.
Großvater Heinrich und Großmutter Emma fanden eine Bleibe in Heinsdorf zwischen Dahme und Luckenwalde.
Und was passierte mit Tante Frieda und ihren sechs Kindern? Nicht nur Siegfried, sondern wir alle haben an ungezählten Straßenbäumen nach einer Nachricht, einem Lebenszeichen von Walter Schreck, dem Schiffsmaschinisten und Vater von sechs Kindern, gesucht. Leider vergebens! Erst viel später erfuhren wir, daß der in einem sowjetischen Arbeitslager an Hungertyphus verstorben ist.
Ein guter Mensch, der zur Nazizeit verfolgte Bürgermeister von Zöllmersdorf bei Luckau/Niederlausitz, nahm sich der Familie Schreck an und sorgte dafür, daß sie in schlimmer Zeit nicht im Stich gelassen wurde.
Im Jahre 1947 zog meine eigene Familie nach Fürstenberg/Oder, dem späteren Eisenhüttenstadt, das die „erste sozialistische Stadt Deutschlands“ werden sollte. Noch heute rechne ich es meinem Vater hoch an, daß er die „Knecht- und Magd“-Arbeit meiner Eltern beim Großbauern mit dem Motto beendete: „Lieber etwas weniger zu essen haben, als unfrei und Knecht zu sein!“
1952 wurde in der Ernst-Thälmann-Siedlung - in der fruchtbaren Oderaue zwischen Eisenhüttenstadt und Frankfurt - eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft gegründet. Unsere ganze „Sippe“ setzte sich dafür ein, daß Tante Frieda mit ihren fünf Söhnen und ihrer Tochter dort Fuß fassen konnte. Der Staat DDR gab ihrer Familie Boden, Grundstück und ein Neubauernhaus. Sie wurde Mitglied der LPG. Opa Heinrich und Siegfried waren ihre Hauptstützen. Sie alle „kamen in der DDR an“, sämtliche Schreck-Kinder gründeten später eine Familie. Jeder von ihnen hat heute Enkel und ein Häuschen. Und keiner kehrte der DDR den Rücken.
Selbstverständlich haben diese Menschen, die in schlimmer Zeit zusammenhielten, noch heute ein gutes Verhältnis zueinander. Und ihre Kinder und Enkel wurden im gleichen Sinne solidarisch erzogen.
So bleibt nur noch zu erwähnen, daß wir in Stany - so wird Aufhalt seit 1945 von den Polen genannt - zu Besuch waren und die polnischen Gastgeber uns echte slawische Gastfreundschaft erwiesen. Und wir schworen gemeinsam, daß es nie wieder Krieg geben darf.
Horst Jäkel
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