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Auf dem Weg zur ersten
deutschen Försterin
Wo ist mein Heim, mein Vaterland? Wo durch Wiesen Bäche brausen, wo auf Felsen Wälder sausen, wo ein Eden uns entzückt, wenn der Lenz die Fluren schmückt! Dieses Land, so schön vor allem, Böhmen ist mein Heimatland!1 |
2. Juni 1945. Noch einmal wende ich mich um - wo ist es nun, mein Heimatland Böhmen? Keine 200 Meter hinter mir. Und doch: verloren, verlassen für immer. Der Preis für die Verbrechen Hitlers, die er an den Völkern der Tschechoslowakei begangen hat.
Die Kinder kommen gelaufen und holen mich in die Gegenwart zurück. Die Sonne scheint. Unsere Sachen, die wir mitnehmen durften, sind am Eingang des Fabrikgeländes in einem kleinen Holzschuppen verstaut.
Da stehen wir nun - in der Fremde ...
Meine Mutter, klein und zart, mit 58 Jahren Invalidenrentnerin nach 42 Jahren Fabrikarbeit als Seidenweberin.
Ich selbst, nach achtmonatiger Kriegsehe mit 20 Jahren Kriegswitwe, mit meiner dreijährigen Tochter an der Hand. Sie hat ihren Vater nie gesehen, kam erst 10 Tage nach seinem Tod zur Welt. (Auch ich habe meinen Vater nie gekannt. Als ich vier Monate alt war, mußte er emigrieren, in die Sowjetunion - und mein ganzes Leben lang habe ich ihn gesucht!)
Die anderen drei Kinder - zehn, sechs und drei Jahre alt - gehören meiner einzigen Schwester. Sie ist dreizehn Jahre älter als ich, von frühester Jugend aktiv tätig als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der Tschechoslowakei und der Union der Textilarbeiter. Als im Oktober 1938 Hitler kommt, geht sie in die Widerstandsbewegung. Nach Stalingrad, im Jahre 1943, wird sie denunziert und gelangt in die Hände der Gestapo. Immer wieder „Verhören“ unterzogen, kommt sie immer wieder zurück wegen der unmündigen Kinder und ihres an der Front vermißten Mannes. Als Strafarbeit muß sie Tarnnetze knüpfen, und ich helfe ihr dabei wegen ihrer Hände. Aber dann wird sie - alle „mildernden Umstände“ nützen nichts - im September 1944 vom „Volksgerichtshof in Leitmeritz zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt wegen „öffentlicher Wehrkraftzersetzung“ und „Werbung für die Sowjetunion“. Ihr Rechtsanwalt hatte alles in seinen Kräften Stehende getan, um sie vor dem Zuchthaus zu bewahren. Was aus ihm geworden ist, weiß niemand.
Schlimm war die Zeit bis zum Tag der Befreiung, als sowjetische Truppen einmarschierten. Meine Schwester wurde sofort als Mitglied der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei aufgenommen.
Nun packt sie ihr Mitgliedsbuch, das Urteil, die Ausweise in die Handtasche. Mit ihr gehe ich nach vorn zur Straße - eine breite Allee, die alten Bäume wie ein Dom darüber und scheinbar unendlich lang. Ich sehe ihr nach, bis sie meinem Blick entschwindet. Mutter sitzt, den Kopf aufgestützt, auf einem Koffer; die Kinder spielen; und wir müssen nun warten, warten - fast unerträglich ...
Endlich, gegen Abend, kommt meine Schwester mit einem kleinen Fahrzeug der Stadtverwaltung Zittau zurück - wir verladen Sachen, Kinder, Mutter; fahren gemeinsam nach Zittau, finden in einer verlassenen Wohnung Unterkunft. Und nun beginnt unser zweites Leben. Für mein kleines Mädchen und mich der Beginn eines langen Marsches ...
Es folgen unruhige, wilde, aufregende Tage und Wochen, Monate. Meine Schwester hat Arbeit bei der Stadtverwaltung Zittau gefunden, wird als Dezernentin für Flüchtlings- und Wohlfahrtswesen eingesetzt. Fast täglich laufen volle Züge ein - vor allem aus der ČSR und aus Schlesien - Züge mit Menschen, die nicht wissen, wohin. Sie werden mit Zuweisungen, Lebensmitteln und dem darüber hinaus Nötigsten versehen - dann geht es weiter nach Deutschland. Aber was ist das, dieses viergeteilte Deutschland?
Mit den Zügen kommen auch Bekannte aus der Heimat - sie bleiben zeitweilig mit bei uns in der Wohnung, bis meine Schwester das Günstigste für sie gefunden hat. Solidarität in Aktion, wie sie auch mir seit meinem siebten Lebensjahr bei den „Roten Falken“ und der „Sozialistischen Jugend“ gelehrt wurde.
Mutter versorgt, so gut es geht, Kinder und Haushalt; meine Schwester bringt zwischendurch etwas zum Essen - Kartoffelflocken, Margarine, Marmelade - und immer wieder Aufträge für mich, beispielsweise: Kümmere dich mal um die Kinder unten auf den Schuttbergen, bei den Ruinen spielen sie. Mit einem „Rückkehrer“ - einem ehemaligen Wehrmachtssoldaten aus Bernburg - holen wir die Kinder zusammen, bringen sie in notdürftig vorgerichtete, noch bewohnbare Räume. Wer sind sie? Wo kommen sie alle her? Haben sie Eltern, Verwandte? Wir beschäftigen sie, gehen auf ihre Fragen ein, erzählen, singen mit ihnen (dabei fallen mir meine eigenen Kinderlieder und vor allem die schönen alten Arbeiterlieder von den „Roten Falken“ wieder ein), dann basteln wir mit ihnen Püppchen aus Glasperlen, auf dicken Zwirn aufgefädelt. Wir müssen uns immer wieder etwas Neues ausdenken, und es werden schließlich immer mehr Kinder und Jugendliche - die Anfänge der „Antifajugend“.
Meine Schwester und ich waren gleich im Juni Mitglied der KPD geworden, womit wir bewußt eine große Verpflichtung und Verantwortung für all unser Tun und Handeln übernommen hatten. Rastlos, fast Tag und Nacht, waren wir im Einsatz; überall helfend, wo und wann es galt, das Leben der unzähligen, Orientierung suchenden Menschen in geebnetere Bahnen zu lenken.
Eine gute Zusammenarbeit mit der sowjetischen Kommandantur war erforderlich und auch vorhanden. Dafür nur ein Beispiel: Wieder war ein Flüchtlingszug aus Schlesien gemeldet, in dem Typhus herrschte. Die Toten hatte man unterwegs bereits „ausgeladen“. Wir waren entsetzt, als der Zug auf Anordnung der deutschen Behörden in einen Steinbruch gefahren und dort seinem Schicksal überlassen werden sollte. Am nächsten Tag ging meine Schwester deshalb zum sowjetischen Stadtkommandanten. Dieser war aufs höchste empört und traf sofort die notwendigen Maßnahmen: In der Schokoladenfabrik Niederoderwitz wurden zwei große Räume mit Strohaufschüttungen, Decken und anderem versehen. Eine Handvoll Genossen, darunter auch ich, ließen sich gegen Typhus impfen und verpflichteten sich zur Hilfe für die inzwischen dort einquartierten Flüchtlinge. Obwohl Essen und Medikamente mehr als knapp waren, wurden diese Menschen danach mit allem Notwendigen versorgt. Aber der Leichenwagen fuhr trotzdem ununterbrochen ... Ich weiß nicht mehr, wie vielen Menschen - vom Säugling bis zum Greis - ich noch die Augen zugedrückt habe. Doch ich weiß, daß wir dank der sowjetischen Hilfe auch viele Menschenleben retten konnten.
Als ich noch im gleichen Jahr meine Schwiegereltern in der Zwickauer Gegend besuchte, schaute ich mich dort nach Arbeit um. Aber für Umsiedler war es besonders schwierig, in den zerstörten Städten und wenigen übriggebliebenen Betrieben eine Beschäftigung zu bekommen.
Durch einen unwahrscheinlichen Zufall stieß die Freundin meiner Schwester auf deren seit Jahren vermißten Mann. Er befand sich in Halle, allerdings als Kriegsgefangener im sowjetischen Lazarett. Sowjetische Offiziere halfen uns, ihn freizubekommen und nach Zittau zu holen. Nun waren wir schon zu acht - und die Lage im unruhigen Zittauer Dreiländereck wurde immer komplizierter. Deshalb faßten wir den Entschluß, mit dem letzten Flüchtlingstreck des Jahres weiterzuziehen - nach Wernigerode im Harz.
Der Winter wurde besonders hart und lang. Wir waren fremd; es gab kaum Essen, Kleidung und andere lebenswichtige Dinge. Immerhin erhielt meine Schwester mit ihrem kranken Mann und den drei Kindern Wohnung, und ich bezog mit unserer Mutter sowie meiner Tochter eine nahegelegene kleine Mansarde. Danach wurde ich Stammgast auf dem Arbeitsamt. Aber so oft ich auch nachfragte, stets erhielt ich zur Antwort: „Wir haben keine Arbeit für Sie!“ Schließlich wußte ich nicht mehr aus und ein - ganze 5 Mark noch in der Tasche, meine Mutter nur monatlich 30 Mark Invalidenrente, und die Schwester hatte auch noch keine Arbeit gefunden. Als ich beim nächsten Besuch - es war der 31. März 1946 - die gleiche Antwort wie immer erhielt, brach es aus mir heraus:
„Es ist doch unmöglich, daß es in einem zerstörten Land, nach diesem grausamen Krieg mit all seinen schrecklichen Folgen k e i n e A r b e i t geben soll! Erklären Sie mir das, ich kann es nicht nachvollziehen!“
Nach kurzem Schweigen dann die Antwort: „Der Russe verlangt alles für den Forsteinsatz!“
„Na und? Dann gehe ich eben in den Forsteinsatz! Ich scheue keine Arbeit, denn ich muß leben - für mein Kind, meine Familie!“
Mit der Zuweisung, am nächsten Tag beim Revierförster in Hasserode zur Arbeit anzutreten, begann für mich die „Gleichberechtigung“ von Mann und Frau. Es war der 2. April 1946, als ich meinen Fuß erstmals in die Forstwirtschaft setzte - ohne im mindesten zu ahnen, daß 45 aktive Jahre daraus werden sollten.
Jetzt gab es also Arbeit in Hülle und Fülle. Denn auch an den Harzer Wäldern waren der Krieg und die Stürme vergangener Jahre nicht spurlos vorübergegangen. Nicht aufgearbeitete Windwürfe hatten zur Massenvermehrung des Fichten-Borkenkäfers geführt. Große Flächen, ganze Berghänge standen voller abgestorbener Fichten. Einer weiteren Vermehrung der Schadeninsekten konnte nur durch schnelle Aufarbeitung Einhalt geboten werden.
Im Harz lag noch Schnee. Es war kalt, die Arbeit schwer und ungewohnt. Denn früher hatte ich als Buchhalterin gearbeitet und noch nie eine Säge angefaßt. So brauchte ich anfangs viel Willenskraft. Eingesetzt wurden wir zum Schälen von Schichtholz bzw. bereits geschlagenen Stämmen an oft noch vereisten Berghängen sowie zum Schlagen von Stangenhölzern. Danach folgten Flächenräumungsarbeiten und die Wiederaufforstung freier Flächen. Die Pflanzlöcher gruben wir mit Hacke und Spaten in den steinigen Boden. Auch mit der Anzucht neuer kleiner Fichten wurde ich vertraut. Alle diese Arbeiten waren zwar neu und sehr anstrengend, weckten aber bald mein Interesse und die Liebe zum Wald.
Meine gesamte „Ausrüstung“ bestand aus einer alten Trainingshose und einem Mantel - dazu ein gefundenes Wehrmachtskochgeschirr. Nach den ersten Arbeitstagen kroch ich buchstäblich „auf allen Vieren“ die Treppe zu unserer Mansardenwohnung hoch. Mutter hielt schon einen Teller Suppe bereit, aber ich fiel nur auf den Stuhl und konnte nicht mal den Löffel selbst halten. Mutter mußte mich füttern - und mein vierjähriges Röschen schaute mit großen, ungläubigen Augen zu.
Aber meine Jugend siegte, ich gewöhnte mich an alles. Schließlich hatte ich von Kindheit an kämpfen gelernt. So durchlief ich nach und nach alle in der Forstwirtschaft anfallenden Außenarbeiten und fand sogar Spaß daran. Später besann sich unser alter Revierförster allerdings auf meinen ursprünglichen Beruf und brauchte mich als Hilfe bei der Entlohnung von zeitweise bis zu 120 Arbeitskräften. Ich half danach bei den umliegenden Revierförstern und auch im Forstamt Hasserode aus, ohne daß ich eine Erhöhung meines knappen Waldarbeiterlohns (0,30 bzw. 0,36 Mark pro Stunde) beanspruchte.
Allmählich wurde unser Leben leichter, obwohl wir an den Wochenenden noch oft zum „Hamstern“, d. h. zur Beschaffung von Kartoffeln, Mehl, Erbsen, grünen Bohnen und anderen Nahrungsmitteln mit dem Handwagen über Land zogen. Glücklicherweise brauchten wir nicht mein gesamtes „Deputatholz“ zum Heizen und konnten den Rest gegen Zuckerrüben eintauschen. Nachts kochten wir aus ihnen Sirup, der als Brotaufstrich verwendet wurde. Manchmal gab es auch „Belotin“-Suppe - ein Mehlgemisch aus Eicheln, Kastanien und was weiß ich noch für Zutaten.
Inzwischen schrieben wir bereits das Jahr 1948. Mit der allmählichen Verbesserung unserer Lebensverhältnisse stiegen auch die Ansprüche, und ich begann mir Gedanken über mein weiteres Fortkommen zu machen. Der Innen- und Außendienst konnte mir nichts Neues bieten, und außerdem waren sämtliche Planstellen des Hasseröder Forstamtes besetzt. Unser alter Revierförster hatte inzwischen ebenfalls nachgedacht und schlug mir eines Tages vor, mich meiner eigentlichen Ausbildung entsprechend in der Forstwirtschaft weiterzuentwickeln. Danach erhielt ich durch Vermittlung seines in der Potsdamer Landesregierung tätigen Bruders eine Planstelle im Forstamt Kremmen bei Berlin. Da die mit dem Wechsel verbundenen Wohnungsprobleme nicht lösbar waren, mußte ich mich leider zeitweilig von Mutter und Tochter trennen. Beide zogen zu meiner Schwester nach Magdeburg, die einige Zeit zuvor mit ihrer Familie dorthin übergesiedelt war.
Die Einarbeitung in Kremmen bereitete mir keine Schwierigkeiten. Aber die Sehnsucht nach meinem Röschen war groß, und ich fuhr so oft als möglich nach Magdeburg. An einem dieser Besuchsabende zeigte mir meine Schwester einen Artikel in der damaligen Frauenzeitschrift „Für Dich“ vom 20. Juni 1948. Darin stand zu lesen:
„Auch Frauen können heute Förster werden, wenn sie die Voraussetzungen dazu erfüllen. Das Zulassungsalter ist auf 16 bis 45 Jahre festgesetzt. Bewerbungen sind an die Landesforstämter der Länder zu richten ... Die Ausbildung setzt eine zweijährige Forstlehrzeit voraus. Anschließend daran ist ebenfalls zwei Jahre eine Forstfachschule zu besuchen. Nach dieser Schule wird der angehende Förster in einen vierjährigen Vorbereitungsdienst aufgenommen. Ist die Försterprüfung bestanden, kann die Anstellung als Revierförster erfolgen. Die Kosten der Ausbildung übernimmt die Forstverwaltung. Während der Lehrzeit wird im ersten Jahr ein Unterhaltszuschuß von 60 Mark, im zweiten von 80 Mark gewährt. Während des Besuchs der Forstfachschule erhöht sich dieser Unterhaltszuschuß auf 100 bis 150 Mark. Bei der außerplanmäßigen Einstellung als Förster wird je nach den sozialen Verhältnissen der Unterhaltszuschuß auf 180 bis 240 Mark bemessen. Bei Zuweisung einer Revierförsterstelle tritt dann die volle Besoldung ein.“
Meine Schwester: „Na, das wäre doch was für dich?!“ U n d o b!!! Am nächsten Tag zurück nach Kremmen. Es war wieder Dienstpost nach Berlin zu bringen, also fuhr ich mit der S-Bahn zur Deutschen Wirtschaftskommission (DWK) - Zentralforstamt - in der Leipziger Straße.
Nach Erledigung meiner Dienstpflichten bat ich in der Fachabteilung „Forstliches Ausbildungswesen“ um eine Unterredung; legte die Zeitung vor: Ist das wahr oder nicht? Ich will Revierförster werden! Als sich die Überraschung gelegt hatte, folgten zwei Stunden intensiver Unterhaltung, die Überprüfung sämtlicher Unterlagen sowie das Abwägen von Für und Wider. Doch dann fiel die Entscheidung:
„Alles in Ordnung, einverstanden. Die ca. zwei Jahre forstlicher Praxis in Hasserode können als Lehrzeit anerkannt werden. Nur ein Haken: Wir wissen noch nicht, wann und an welcher Forstfachschule der nächste Lehrgang einberufen wird. Vorschlag: bis zur Entscheidung arbeitest du bei uns als Hilfssachbearbeiterin.“ Als ich das Gebäude verließ, hatte ich den Arbeitsvertrag in der Tasche und nahm wenige Tage danach meine Arbeit in Berlin auf.
Im Dezember erfolgte eine weitere Aussprache. Die Genossen ließen mir die Wahl, mich im Zentralforstamt bei wachsendem Gehalt (damals erhielt ich bereits monatlich 432 Mark) weiterzuqualifizieren oder zu den bekannten kargen Bedingungen einen am 2. Januar 1949 beginnenden Lehrgang an der Forstfachschule Sachsen-Anhalt in Kochstedt bei Dessau zu besuchen.
Nach kurzem Überlegen teilte ich meinen Entschluß mit: Ich will Revierförster werden! Man gratulierte herzlich und überzeugte mich danach von der Notwendigkeit, etwas später in Kochstedt anzureisen, um zuvor noch zwei Wochen die Kreisparteischule in Berlin-Kaulsdorf besuchen zu können. Ich dachte: Das schaffst du nie - und sagte trotzdem zu.
Weihnachten und Jahreswechsel in Magdeburg wurden vom Tod meines Schwagers überschattet, der nach dem Krieg nie wieder richtig gesund gewesen war. Trotzdem hatte er für die Familie gearbeitet, zu deren Unterhalt auch ich den größten Teil meines für die damalige Zeit ansehnlichen Gehaltes zur Verfügung stellte. Nun fiel ein Verdiener weg, und ich würde zwei Jahre lang mit 80 bzw. 120 Mark Stipendium auskommen müssen. Das war schon eine schwere Entscheidung. Aber ich mußte mir doch eine neue Existenz aufbauen, auch im Interesse meiner Angehörigen! Diese waren einverstanden und kamen danach auch halbwegs zurecht, obwohl meine Schwester nur gelegentlich etwas hinzuverdienen konnte und der Familienunterhalt hauptsächlich von Mutters Invalidenrente, unseren beiden Witwenrenten sowie den Halbwaisenrenten unserer vier Kinder bestritten werden mußte.
Die Genossen im Zentralforstamt behielten recht: Der Zweiwochenlehrgang an der Kreisparteischule „August Bebel“ Berlin-Kaulsdorf veränderte mein Leben. Der Unterricht war großartig in seinem Wechsel von Lektionen und intensiver Seminararbeit - unwahrscheinlich verständlich und begeisternd durch das ungezwungene Mitmachen. Mein ganzes politisch geprägtes Leben von Kind an wurde nun sozusagen „wissenschaftlich untermauert“, und in diesen Tagen fand ich vom emotionalen zum bewußten Handeln. Fortan besaß ich einen Kompaß für das Ziel, den Sozialismus mit aufzubauen. Diese Wandlung läßt sich schwer ohne Pathos beschreiben. Es war, als fiel ein Schleier von meinen Augen - ich schlüpfte in eine andere Haut, wurde ein neuer Mensch und lernte mit solchem Enthusiasmus, daß ich am Ende als Seminarbeste mit einem Buch ausgezeichnet wurde.
Voller Elan und Zuversicht fuhr ich am nächsten Tag zum IV. Lehrgang der Landesforstfachschule Sachsen-Anhalt nach Kochstedt bei Dessau. Nun wollte ich erst recht als erste beweisen, daß auch Frauen Revierförster werden und sein können. Gleichberechtigt!
Am nächsten Morgen stellte mich der Schulleiter meiner Klasse - fünfzig männlichen Mitschülern - vor. Danach fragte er: „Wo ist denn noch ein Platz frei für die Kollegin?“ Fünfzig Hände hoben sich, und fünfzig Stimmen riefen: „Hier!“ Aber ich hatte die Lage schon unter Kontrolle, einige Schritte, und ich saß in der „ersten Reihe“ (wo ich seitdem und alle Zeit stehen sollte und wollte), hinter mir die Enttäuschten und vor mir der Lehrer.
Das erste Vierteljahr war nicht einfach. Was wußte ich denn beispielsweise schon von Waldbau, Forsteinrichtung, Holzmeßlehre? Anfangs schrieb ich so manche Fünf oder Vier, und die erste Drei war schon ein Riesenerfolg. Aber danach kriegte ich die Kurve, und schließlich standen nur noch Einsen oder Zweien unter meinen Arbeiten. Und meine lieben Kollegen Forstschüler, die mich - wie die meisten Lehrer - zunächst ziemlich von oben herab behandelt hatten, begriffen allmählich, daß ich ernst machte mit meinem Einbruch in ihre Männerdomäne. Bald hatte ich mir einen festen Platz im Kollektiv gesichert. Das tägliche Zusammenleben mit einhundert Männern (an der Schule lief gleichzeitig noch der III., später der V. Lehrgang) normalisierte sich bald gänzlich. Nur noch in der Körpergröße bestand ein sichtbarer Unterschied. Als kleinster Punkt war ich immer von schützenden Kollegen umgeben. Einer von ihnen war übrigens der spätere bekannte DDR-Autor Helmut Sakowski, dem ich ein nettes Gedicht verdanke.
Der Unterricht erfolgte ganztägig, anschließend war gesellschaftliche Tätigkeit zu leisten, und erst danach konnte die Verarbeitung des tagsüber gebotenen Ausbildungsstoffes erfolgen. Das war hart und führte auf der Suche nach effektivsten Methoden zur Bildung von Arbeitsgemeinschaften. Dazu kamen die forstlichen Exkursionen in umliegende Wälder, verbunden mit praktischen Übungen und Arbeiten in den jeweiligen Fächern.
Im Sommer 1949 nahm unsere Forstfachschule geschlossen am „I. Berufswettbewerb der deutschen Jugend“ teil, und mein späterer Ehemann Otto Große wurde als Landessieger des Bereichs Forstwirtschaft ausgezeichnet. Wir beide bildeten anfangs nur eine gut aufeinander eingespielte Arbeitsgemeinschaft, aber allmählich wurde doch mehr daraus - eine lebenslange Ehegemeinschaft.
Unsere Schule besaß nicht nur sehr gute Lehrkräfte, sondern auch verantwortungsbewußte SED- und FDJ-Grundorganisationen, deren Leitungen aus den Forstschülern unterschiedlichster Herkunft gewählt wurden. Im Juni 1949 gründeten wir eine Gruppe der „Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion“.
Die Schulferien im Sommer 1949 verlebten wir gemeinsam beim Borkenkäfereinsatz im Harz. Hier konnten wir erstmalig die bereits erworbenen Kenntnisse im Forstschutz praktizieren. Überhaupt waren diese Wochen zwar ungewohnt schwer, aber doch schön.
Ein derartiger Großeinsatz brachte damals große materielle Schwierigkeiten mit sich. Vor allem die notwendigen Werkzeuge wie Schrotsägen, Äxte, Ketten usw., waren oft nicht ausreichend vorhanden. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an folgende Begebenheit: Wir waren zum Aufmessen von Langholz an den Berghängen eingesetzt. Normalerweise wurden als Längenmaß sogenannte Giesingsche Meßstäbe verwendet. Aber wo hernehmen? Der uns betreuende Revierförster schlug vor, zwei Meter lange gerade Haselruten mit genauester Maßeinteilung anzufertigen. Gesagt - getan -und los ging’s. Ein Stamm nach dem anderen wurde sorgfältig vermessen. Aber eines Tages kam hoher Besuch - ein Oberforstmeister mit dem zuständigen Oberförster. Ohne zu grüßen, die Frühstücksstulle kauend - also mit vollem Mund - rief er uns an: „Mit was für eiszeitlichen Meßstäben arbeiten Sie denn?“ Nun muß man wissen, daß wir Forstschüler eine kritisch-revolutionäre Truppe waren. Solche Töne gefielen uns absolut nicht. Deshalb setzten wir uns abends hin und verfaßten einen Brief an den „Kollegen Oberforstmeister“. Darin brachten wir zum Ausdruck, daß manche Leute mit industriell hergestellten (amtlichen!) Meßstäben ungenau - weil oberflächlich - und andere mit „eiszeitlichen“ sehr genau - weil gewissenhaft - messen. Auch könnten wir nicht verstehen, wie man mit vollem Mund und ohne vorher „Guten Tag“ zu sagen, eine Arbeit aus unangebrachter Entfernung beurteilt. Die Antwort kam bald danach: eine Lieferung vorschriftsmäßiger Meßstäbe und anderes fehlendes Material.
Unmittelbar nach diesem Arbeitseinsatz zogen wir mit unserer Schule nach Ballenstedt im Harz um und wurden „Schlossbesitzer“. Das alte Gemäuer und der Schloßpark sahen zunächst nicht gerade einladend aus, aber wir machten das Beste daraus. Für mich als „Schlossfräulein“ stand ein kleines Turmzimmer zur Verfügung, und bald übten die Jagdhornbläser fleißig auf der Schloßterrasse.
In diese Zeit fiel wieder mal ein Schulleiterwechsel (der dritte), und eines Tages quälte sich ein Möbelwagen den Schloßberg hoch. Im Schloßhof sprang ein mit Reithosen und -stiefeln bekleideter „Kollege“ aus dem Fahrerhaus und rief mit Kommandostimme: „Vier Forstschüler zu mir zum Abladen!“ Nun reagierten wir jungen Menschen infolge unserer „Kriegserfahrungen“ damals sehr allergisch auf militärische Kommandotöne und lehnten deshalb dieses Ansinnen rundweg ab. Das Fahrzeug wurde nicht entladen und verließ erst mal wieder den Schloßhof. Wie der „Dritte“ seinen Einzug danach bewerkstelligte, weiß ich heute nicht mehr. Aber ich sollte während meines zweijährigen Fachschulbesuchs sogar noch den „Vierten“ erleben. (Eigentlich ein Wunder, daß unsere Ausbildung nicht unter dem häufigen Wechsel des Schulleiters litt).
Unsere sonstigen Lebensverhältnisse unterschieden sich nicht von denen im ganzen Land. Die Verpflegung war einfach, doch inzwischen hungerte keiner mehr. Unser Stipendium ließ keine großen Sprünge zu - aber manchmal reichte es doch zu einem Bier im „Großen Gasthof“ unterhalb des Schlosses. Heimfahrten waren selten und deshalb besonders wertvoll. Manchmal kam Mutter mit meinem kleinen Röschen auch aus Magdeburg zu Besuch.
Das Studium ließ uns nur wenig Freizeit. Da war es bereits eine willkommene Abwechslung, wenn wir zum Ernteeinsatz nach Meisdorf fuhren oder zur Schwarzwildjagd als Treiber angefordert wurden. Eine davon bleibt mir unvergeßlich, weil mich eins der Schweine streifte. Worauf ich prompt umfiel und ringsum großes Gelächter erregte, auch bei den Schützen. Am nächsten Morgen fand sich dann sogar an der Wandtafel eine treffliche Kreidezeichnung: Mädchen sitzt auf Wildschwein und schreit: „Ottooo! Hilfe!“ Dieser - mit Ziehharmonikahose und entsetztem Gesicht: „Lilo, klemm die Beine fest!“ Nochmals große Heiterkeit. Leider hatten wir keinen Fotoapparat, und das Meisterwerk mußte undokumentiert abgewischt werden.
Ein andermal war Feueralarm: Alle Mann und eine Frau rauf auf die LKW und los! Danach: mit Zweigen die Flammen am Boden ausschlagen, Gräben um den Brandherd ziehen. Die Feuerwehr kam, ein Pflug erleichterte und beschleunigte die Arbeiten, bis das Feuer im Griff war. „Lilo, wie siehst du denn aus?“ fragten die Jungs entsetzt. Na ja, meine Haare außerhalb der Mütze waren angebrannt, die Augenbrauen ganz weg, das Gesicht rußig. Aber: „Ihr seht nur besser aus, weil ihr sowieso weniger Haare habt.“ Müde und zufrieden fuhren wir zurück. Ein schönes Gefühl.
Trotzdem war nicht immer alles eitel Sonnenschein, vor allem am Anfang, in Kochstedt. Man hatte mich gleich nach meiner Ankunft in die SED-Parteileitung der Schule gewählt, und ich war nicht leicht zu bremsen. Während meine neuen Kollegen am liebsten mit mir „Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen“ sangen, brachte ich ihnen die „Internationale“ und andere Arbeiterlieder bei. Dies faßten viele so auf, als wolle ich - eine Frau ! - sie kommandieren - und raus war ich aus der Parteileitung. Natürlich ärgerte ich mich darüber. Aber danach ging ich eben zu den Frauen im Ort und kümmerte mich vor allem um die Belange der Umsiedlerinnen. So entstand meine erste DFD-Gruppe. Bald hatte ich auch Verbindung zum Kreisvorstand des DFD, zog in die umliegenden Dörfer, hielt Vorträge, führte Gespräche. Es war eben die Zeit des Aufbruchs - jeder Tag ein Erfolgserlebnis, ein Schritt vorwärts bei der Verbesserung der Lebensverhältnisse. Allerdings brauchte man mich dann doch wieder in der Schulparteileitung, und ich ließ mich nicht lange bitten.
Die Gründung der DDR begingen wir feierlich und betrachteten sie als logische Konsequenz zum Zusammenschluß der drei westlichen Besatzungszonen zur Bundesrepublik Deutschland.
Der 1. Mai 1950 wurde für uns zu einem besonderen Feiertag, als wir im Festumzug der Ballenstedter Bevölkerung mit Fahnen und Transparenten, mit Jagdhornbläsergruppe und in einheitlicher Dienstbekleidung demonstrierten - eine wahre Augenweide!
Ein weiterer Höhepunkt war die Teilnahme am Deutschlandtreffen im gleichen Jahr. In bunt geschmückten Güterwagen fröhlich singend und musizierend, fuhr unsere FDJ-Gruppe nach Berlin. Es war eine ungeheure Aufbruchstimmung in uns, riesige Begeisterung und Elan. Während der interessanten Gespräche und gemeinsamen Aktionen bauten wir - auch im Austausch mit Westberliner Jugendlichen und Studenten - in Gedanken ein einheitliches, friedliches, demokratisches und sozialistisches Deutschland auf, das wir selbst mitzugestalten bereit waren.
Im September 1950 erlebten wir die Eröffnung der 1. großen Ausstellung der Landwirtschaft, Forstwirtschaft und des Gartenbaus der DDR in Leipzig-Markkleeberg. Wir marschierten an der Ehrentribüne vorbei, auf der sich unser Präsident Wilhelm Pieck und viele andere Ehrengäste befanden. Plötzlich ein deutlich vernehmbarer Ruf von dort: „Na endlich wenigstens eine Frau unter den vielen Männern!“ Und dann klatschte alles, während ich mich in das nächste Mauseloch wünschte.
Die Zeit war wie im Fluge vergangen und die Prüfungsvorbereitung bald im vollen Gange. Für zusätzliche Aufregung sorgten die ersten Einsatzgespräche. Ich wollte mich jeder Anforderung stellen, aber zugleich endlich meinem Kind und meiner Mutter ein richtiges Zuhause schaffen. Der gesamte Lehrgang schloß die Forstfachschule mit Erfolg ab, und ich schaffte unter 51 Schülern sogar den 4. Platz. Danach durften wir uns alle „Förster“ nennen.
Zurückblickend: Die Zeit an der Forstschule war meine bis dahin schönste. Dieses Gefühl der Gemeinsamkeit, das Leben im Kollektiv, unser stürmischer Optimismus, unsere Zukunftsgewißheit - einfach unsagbar! Aber diese Gefühle und Erlebnisse teilten wir in jener herrlichen Zeit des Aufbruchs mit vielen anderen jungen DDR-Bürgern.
Doch nun brannten wir alle darauf, das angeeignete Wissen endlich in die Praxis umzusetzen. Vor den Gesprächen über unseren weiteren Einsatz hatten mein späterer Mann und ich davon geträumt, gemeinsam mit weiteren Kollegen eine Jugendoberförsterei im Harz aufzubauen. Leider blieb das ein Traum, und wir wurden beide im Herbst 1950 vorerst nach Halle, d. h. in die Landesregierung Sachsen-Anhalt -Ministerium für Land- und Forstwirtschaft, Hauptabteilung Forstwirtschaft - geschickt. Otto erhielt eine Anstellung als Assistent in der Wirtschaftsprüfung, während ich im Forstschutz arbeitete. Trotz unserer anfänglichen Enttäuschung merkten wir bald, daß diese Tätigkeit nicht nur wichtig, sondern auch interessant war und unseren Horizont für die späteren Aufgaben weitete. Denn natürlich wollten wir nicht auf Dauer im Verwaltungsapparat bleiben, sondern praktisch als Förster arbeiten.
Die vorrangigen Aufgaben des Forstschutzes waren immer noch der Kampf gegen den Borkenkäfer, die Beseitigung der eingetretenen Schäden und Minimierung der Nachfolgeschäden. In dieser Zeit spielten aber auch Wilddieberei und Holzdiebstähle - oft verbunden mit illegalem Waffenbesitz - eine nicht unbedeutende Rolle.
Mein späterer Mann war mit dem Wirtschaftsprüfer oft unterwegs, um Versäumnissen, Vergehen oder kriminellen Handlungen von Forstangestellten auf die Spur zu kommen. Infolge der Nachkriegswirren und schwierigen Lebensverhältnisse war die Wirtschaftskriminalität beträchtlich angestiegen. Bei der Hauptabteilung Forstwirtschaft gingen laufend Anzeigen über illegale Holzverkäufe und andere Delikte ein. Mitte des Jahres 1951 wurden Otto und ich in den zum Schwerpunkt erklärten Grenzkreis Salzwedel versetzt. Dort trafen wir unseren ehemaligen Forstschulkollegen Helmut Sakowski als Kreisforstamtsleiter wieder. Ich landete als Kreisforstamts-Sekretärin leider wieder am Schreibtisch, während Otto sein Ziel erreichte und als Oberförster eingesetzt wurde.
Unser Kreisforstamt lag auf dem ehemaligen Flugplatzgelände am Fuchsberg, von dem vor allem große Schutthaufen und gesprengte Hangars übriggeblieben waren. Ein Teil der Kasernen und Offizierswohnungen hatte überdauert, aber alles befand sich in beschädigtem Zustand. Da meine Arbeitsaufgaben Beweglichkeit erforderten, baute mir mein Hauswirt - ich wohnte anfangs in einem möblierten Zimmer - ein Fahrrad zusammen: das erste meines Lebens! Danach lernte ich sofort Radfahren und war stolz und glücklich, bis ich eines Tages nicht „die Kurve kriegte“, auf einem Betontrümmerhaufen landete und drei Wochen mit Prellungen am ganzen Körper im Bett verbringen mußte.
Quelle:
Privatarchiv L Große
„Du
hast ja ein Ziel vor den Augen ... Halle 1951
Allerdings blieb ich nicht der einzige „Unglücksrabe“, denn mein Otto hatte als Oberförster die Verantwortung für sieben Forstreviere und erhielt vom Kreisforstamt ein Dienstmotorrad RT 125. Zur Vorbereitung der Fahrprüfung vereinbarte er mit dem benachbarten Oberförster einige Übungsstunden auf einer abgelegenen Betonstraße des Flugplatzgeländes. Die erste war dann gleich ein „durchschlagender“ Erfolg. Da dem Motorrad noch die Batterie fehlte, war zur Ingangsetzung der Maschine folgendes vereinbart worden: Anschieben, 2. Gang einlegen, Kupplung ziehen, aufspringen, Kupplung loslassen, Gas geben! Anschieben klappte noch, Aufspringen nicht, dafür geschah Kupplung loslassen / Gas geben automatisch. Und schon ging die Post ab, während Otto seitlich am Motorrad hing. Loslassen des unersetzlichen Stückes kam nicht in Frage, also endete die Fahrt erst an der nächsten Böschung. Das Motorrad war heil, aber um Ottos Kniescheiben - von der Kleidung ganz abgesehen - stand es nicht zum besten. Gelacht haben wir trotzdem. Bald danach legte Otto die Fahrprüfung ab und konnte nun jeden Winkel seines weitläufigen Territoriums erreichen. Einmal hatte er sich mit einem Revierförster in noch unbekanntem Gelände verabredet und fuhr - der „genauen“ Beschreibung folgend - zuversichtlich durch Wald und Feld und wieder Wald, ohne allerdings auf den Kollegen zu treffen. Schließlich hielt er an, schaute rundum - und sah einen halben Kilometer östlich den Grenzpfahl DDR/BRD! Natürlich rauf aufs Motorrad und nichts wie zurück! Aber so etwas konnte im Jahr 1951 eben auch noch passieren.
Natürlich beneidete ich Otto um seine Arbeit direkt im Wald. Aber zumindest einer meiner sehnlichen Wünsche ging in diesem Jahr in Erfüllung: Wir erhielten eine der auf dem Fuchsberg instandgesetzten Wohnungen, und ich konnte endlich mein Röschen zu uns holen. Nun waren wir endlich eine richtige Familie und entschieden uns, auch endgültig zusammenzubleiben. Heiraten wollten Otto und ich Ostern 1952 in Berlin, wo meine Schwester wohnte. (Sie war inzwischen die Frau des Genossen Ottomar Geschke, der uns bis zu seinem Tod stets ein warmherziger Freund und für immer ein Vorbild blieb.) Doch statt dessen mußte ich an das Sterbebett meiner Mutter eilen, deren schweres Arbeiterleben sich am Ostersonnabend, dem 9. April 1952 erfüllte. Die Hochzeit wurde verschoben.
Unsere „Siedlung des Friedens“ auf dem Fuchsberg wurde überwiegend von Umsiedlerfamilien bewohnt. Sie hatten durch Eigenleistungen viel dazu beigetragen, die vorhandenen Gebäude wieder nutzbar zu machen. Um so größer war die Aufregung, als ein Teil von ihnen Mitte Mai 1952 die Aufforderung erhielt, die Häuser binnen sechs Tagen für die Unterbringung der Volkspolizei zu räumen. Zusagen zur Bereitstellung von Ersatzwohnungen konnten nicht gegeben werden. Danach trafen wir uns sofort im Kulturhaus und verfaßten eine Resolution an unseren Staatspräsidenten Wilhelm Pieck, die eine unter meiner Leitung stehende Abordnung dem Innenminister von Sachsen-Anhalt, Josef Hegen, mit der Bitte um Weiterleitung überbrachte. Dazu gehörten damals allerhand Mut und Zivilcourage. Aber die Antwort traf kurze Zeit später ein und bewirkte ein allgemeines Aufatmen. Die überstürzte Aktion wurde vertagt. Nach und nach erhielt jede Familie ein neues Zuhause, und auch unser Kreisforstamt zog um. Der Innenminister soll sich nach mir mit den Worten erkundigt haben: „Was habt ihr denn da für eine komische Försterin?“
Meine Bemühungen, auch für mich eine Arbeit im Außendienst zu finden, scheiterten an einer Bestimmung, wonach Mann und Frau im gleichen Betrieb nicht im Abhängigkeitsverhältnis tätig sein durften. Diese Festlegung war in Städten, Industriebetrieben oder Verwaltungen sicher ohne größere Nachteile für die Betroffenen realisierbar, nicht aber im Forst. Denn die Staatlichen Forstwirtschaftsbetriebe lagen so weit auseinander, daß bei getrennter Betriebszugehörigkeit nicht an eine gemeinsame Haushaltsführung oder eine vernünftige Ehe zu denken war. Für mich führte scheinbar kein Weg zurück in den Wald.
Schließlich hörten wir, daß in Mecklenburg ein großer Bedarf an Außendienstkadern bestünde und bewarben uns bei der Landesregierung in Schwerin. Die Zusage kam sofort. Ende Juli 1952 heirateten wir endlich, und ab ging es mit Sack und Pack zum Staatlichen Forstwirtschaftsbetrieb Rostock. Mein Mann übernahm die Oberförsterei Gelbensande (Rostocker Heide) und ich - kaum zu fassen - mein erstes Revier: Billenhagen!
Allerdings erwies sich danach, daß die Gleichberechtigung der Frau in der Praxis gar nicht so leicht durchzusetzen war. Ich trug die Verantwortung für ein herrliches Mischwaldrevier von ca. 1.000 ha und 10 ha Landwirtschaft. Dazu standen mir außer einem Haumeister eine dreiköpfige Holzeinschlagbrigade, eine Frauenbrigade für Walderneuerungs- und Pflegearbeiten sowie zwei stramme „Kaltblüter“ zur Verfügung Mein Gehalt betrug - ich war verheiratet und hatte ein Kind - monatlich 319 Mark brutto. Als ich dem Staatlichen Forstwirtschaftsbetrieb schrieb: „Was ihr mit mir macht grenzt an Ausbeutung!“ wurden daraus 364 Mark brutto.
Ich war glücklich, daß wir in der schön gelegenen Revierförsterei Billenhagen zu dritt ein neues Heim fanden. Da außer uns auch Umsiedler sowie die Familie meines (aus Altersgründen ausgeschiedenen) Vorgängers im Gebäude wohnten, war es zwar sehr eng, aber wir stellten ja auch keine besonderen Ansprüche. Anfangs war ich froh, daß der alte Revierförster noch in greifbarer Nähe sein würde, denn ich konnte durchaus einige gute Tips brauchen. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, daß er gänzlich unter dem Einfluß von Frau und Tochter stand, die insbesondere der gemeinsamen Küchennutzung alle möglichen Hindernisse in den Weg legten und am Ende sogar handgreiflich wurden. Da die beiden Frauen mich immer wieder bedrohten, mußte ich die Polizei sowie unsere Betriebsverwaltung verständigen, die eine Umsetzung der Familie in den Nachbarort veranlaßten. Natürlich waren diese Querelen auch meiner Einarbeitung nicht eben zuträglich gewesen, aber danach ging ich mit neuer Freude und Elan an meine forstlichen Aufgaben heran: Holzeinschlag, Rücken, Abfuhr, Waldpflege und Vorbereitung der Aufforstungsflächen in großem Umfang mußten organisiert werden.
Ich kann sagen, daß „meine“ Waldarbeiterinnen und Waldarbeiter mit mir durch dick und dünn gingen. Ihre Unermüdlichkeit und Einsatzbereitschaft gaben mir immer wieder Kraft, die für mich neuen Aufgaben zu bewältigen. Von meinem zuständigen Oberförster erhielt ich leider wenig Anleitung und Unterstützung. Hinzu kam, daß die Kollegen Revierförster offenbar glaubten, mich als Frau nicht besonders ernst nehmen zu müssen. Machte ich etwas falsch - ich hatte von meinem Vorgänger nur dürftige Unterlagen übernommen, war aber als „Neuling“ natürlich auch nicht fehlerfrei - sahen sie sich in ihrer negativen Einschätzung bestätigt.
Außerdem wurde jeder meiner Schritte auf entwürdigende Art beargwöhnt. Kam mein Oberförster tatsächlich einmal seiner Pflicht nach und besichtigte mit mir ein entferntes Waldstück, kursierte sofort das Gerücht, wir hätten ein „Verhältnis“. (Vielleicht war auch das ein Grund, weshalb er sich oft wochenlang nicht bei mir sehen ließ.) Half ich meinem neu eingesetzten Revierförster-Nachbarn bei der Lohnabrechnung, wurde das gleiche gemunkelt. Einmal, während der Getreideernte, stand ich mit meinen Nachbarinnen in der Küche und bereitete das gemeinsame Abendbrot zu. Danach wurde mir unterstellt, ich sei zur gleichen Zeit mit meinem Haumeister unter dem Erntewagen hervorgekrochen. In Wirklichkeit war er schon lange mit einer anderen Frau liiert, die nur etwa meine Statur besaß.
Kurzum, von den Arbeitern und Arbeiterinnen meiner Revierförsterei abgesehen, umgab mich ein keineswegs erfreuliches Arbeitsklima. Nervös machten mich auch die häufigen Besuche vorgesetzter Personalchefs, die Otto ohne Rücksicht auf meine Aufgaben in Billenhagen unbedingt als Betriebsleiter eines Staatlichen Forstwirtschaftsbetriebes sehen wollten. Ich könne ja mitkommen.
Schließlich, im 1. Quartal 1953, spitzten sich die Dinge für mich in erschreckender Weise zu: Man versuchte, mir mit den unmöglichsten Vorwürfen eine ungenügende Dienstführung nachzuweisen und bereitete sogar meine Entlassung vor. Allerdings wurde diesem vom Gebietsvorstand der Gewerkschaft Land- und Forstwirtschaft des FDGB nicht zugestimmt.
So begann meine praktische Tätigkeit mit vielen Schwierigkeiten, auch einigen Fehlern, und ich hatte zu kämpfen, um nicht aufzugeben.
Im Frühjahr 1953, nach einem halben Jahr Tätigkeit als Oberförster (mit einem Gehalt von 464 Mark brutto mit Landzuschlag!) wurde mein Mann von der Notwendigkeit überzeugt, den Staatlichen Forstwirtschaftsbetrieb Stralsund in Schuenhagen als Betriebsleiter zu übernehmen. Erst nach einigem Zögern stimmte er schließlich zu. Daraus ergab sich für mich, daß ich im Dezember 1953 meinen Traum - ein Forstrevier - wieder aufgeben und ihm nachfolgen mußte.
Doch nichts
ist so schlecht, daß es nicht was Gutes in sich birgt! Sollte doch Schuenhagen
für fast vier Jahrzehnte in fachlicher, politischer und persönlicher Hinsicht
für immer mein wahres Zuhause werden.
Liselotte Große
1 Deutsche Übersetzung des 1. Teils der ehemaligen Tschechoslowakischen Nationalhymne
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