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Rolf Holtzhauer

Gegen den Krebs

Als deutscher Bürger, der den Krieg noch bewusst erlebt hatte, bin ich überzeugt, die deutsche Nachkriegsgeschichte wäre anders - vor allem nicht getrennt - verlaufen, hätte sie nicht unter dem Einfluss der Siegermächte gestanden. In solcher Situation macht man sich seine Gedanken, wie denn ein deutscher, aber auch mein persönlicher Beitrag für die Zukunft unseres Lebens aussehen sollte bzw. könnte.

Schon als junger Medizinstudent in den Jahren 1956/57 hatte ich mit Westberliner Falken und Jungsozialisten Gedanken ausgetauscht, wie nach Überwindung der unnatürlichen Trennung wieder gemeinsames Planen und Handeln aussehen müsste.

Die Strukturen des westdeutschen Gesundheitswesens waren für mich als Student und später als angestellter Klinikarzt allerdings wenig attraktiv, wenn auch fachliche Inhalte und so manche weiterführende Denkanstöße und fachliches Handeln zu beiderseitigem Nutzen über die ost-westdeutsche Grenze ausgetauscht werden konnten.

Wie zu wünschen und zu erwarten, konnten inzwischen mit Wohlwollen der Siegermachte (oder waren es wirklich die deutsch-demokratisch-republikanischen Dissidenten?) beide Bruchstucke Deutschlands wieder zusammengefugt werden. Es ergab sich eine Situation, die nach Hegelscher Dialektik zu einzigartigen Synthesen hatte fuhren können, wenn, ja wenn nicht Voluntarismus, Eigennutz und Pharisäertum so manches verpatzt hatten.

Was lag im Einigungsprozess naher, als jetzt die wahrend beiderseitiger Isolation in verschiedenartigen Experimenten gefundenen und erlebten Erfahrungen miteinander auszutauschen und zu positiven gemeinsamen Ergebnissen zu fuhren?

Jeder Denkende kennt reichlich Beispiele, die diesem Anspruch genügen wurden. Eines davon will ich aus meiner Sicht als Kliniker nach 40-jahriger Betreuung Krebskranker vorstellen.

Nicht nur im Gesundheitswesen, aber wohl gerade dort, hatten die getrennt aufgewachsenen Geschwister Bedeutendes geleistet. Der Ratlosigkeit nach dem Untergang des realen Sozialismus in den neuen Bundesländern ist zuzurechen, dass sich vorübergehend Personen durchsetzten konnten, die sich dilettantisch oder schlimmer noch böswillig aus prinzipiellen Beweggründen heraus, mit Unterstellungen gegen das im Osten aufgebaute Gesundheitswesen, in welchem sie mitunter selbst tätig waren, aussprachen und halfen, es zu zerstören.

„Es gibt nichts, aber auch gar nichts, was vom DDR-Gesundheitswesen zu bewahren sei" - (diese Bemerkung stammt verlässlich von Frau Dr. Sabine Bergmann-Pohl (CDU); ich entnahm sie 1991 einer Pressenotiz. Kann heute leider keine präzise Quellenangabe mehr machen. Frau Bergmann-Pohl wurde 1990 Volkskammerpräsidentin und DDR-Staatsoberhaupt. In dieser Eigenschaft hat sie Weichen gestellt. 1990/91 war sie Bundesministerin für besondere Aufgaben, 1991 bis 1998 Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Gesundheit.)

Nun werden die ungeliebten Kinder des DDR- Gesundheitswesen langsam wieder rehabilitiert: die Polikliniken, die Fachambulanzen an den Kliniken, die geregelte Pflichtweiterbildung der Arzte, die Bereinigung des Medikamentensortiments, das Meldesystem für Geschwulstkrankheiten, Diabetes, Tuberkulose, Geschlechtskranke, sowie die vielen Einrichtungen zur sozialen Betreuung der Kinder, der Schwangeren, der Suchtkranken und der alten Menschen mit ihren spezifischen Beschwerden.

Die ins Leben gerufenen Selbsthilfegruppen können ohne ärztliches Engagement nicht die Bedürfnisse aller Erkrankungssituationen befriedigen.

Man beginnt inzwischen sogar zu verstehen, dass und warum diese Betreuungsaufgaben des Staates vom öffentlichen Gesundheitswesen effektiver und wirksamer erfüllt werden konnten, als auf einem so genannten freien, alles von selbst regelnden Gesundheitsmarkt (treffliches Wort für unsere derzeitige Situation). Ich bin in der Lage, eine große Anzahl von Spezialisten und sogar Gremien zu nennen, die sich auch heute noch mit Erfahrungen befassen, die zum Wohle unseres Gesundheitswesens zur Steigerung seiner Effizienz fuhren konnten, die aber allein aus marktpolitischen Motiven ignoriert werden (Beispiel: Interessengemeinschaft Medizin und Gesellschaft e. V. in Berlin).

Hier geht es um die Anzahl der von den Kassen zu bezahlenden Medikamente, die der Arzt alle kennen muss, hinsichtlich individueller Wirksamkeit, differenziert nach Geschlecht, Alter und Kombination mit anderen Wirkstoffen.

Hier geht es um die Anzahl der Krankenkassen für Pflichtversicherte, die alle ein nahezu gleichartiges Leistungsspektrum vorweisen, aber auch bei differenzierten Einnahmen zum Lastenausgleich verpflichtet sind. Jede einzelne Kasse hat aber ihren eigenen Verwaltungs- und Investitionsaufwand. Interessant wäre hier ein Vergleich mit der Effizienz der Sozialversicherungskasse der DDR (SVK), die 1990 abgewickelt wurde.

Für die Perspektive der Krebsbehandlung konnten Strukturen, die durch Zentralisierung personeller und technischer Ausstattung, Kooperation und Profilierung seit den achtziger Jahren in der DDR entwickelt wurden, grundsätzlich beispielhaft sein. Immerhin handelt es sich hier um ein Thema, das hinsichtlich der Gefahrdung für den Einzelnen, des technischen Aufwandes für Diagnostik und Therapie und der hierfür aufzuwendenden finanziellen Mittel eine erhebliche volkswirtschaftliche Bedeutung hat.

Sucht man nach Wegen, die Tumorbehandlung zu verbessern, muss man sich mit der Organisation einer multidisziplinären Behandlung befassen. Sie ist abhängig von generellen Strukturen des Gesundheitswesens in einem Lande, seinem ökonomischen und technischen Hintergrund und auch von historischen Voraussetzungen.

Es gibt hierzu eine Reihe grundsätzlicher Empfehlungen, die schon 1978 durch internationale Gremien (UICC/CICA[1]) erarbeitet worden sind, sowie die Erfahrungen multizentrisch arbeitender Institute im In- und Ausland.

In der DDR hatten sich hierzu Organisationsformen bewärt, die nach der Vereinigung noch funktionierten, und zwar bis zur strukturellen Abspaltung der niedergelassenen Arzte von der stationär betriebenen Medizin im Allgemeinen und von der Onkologie im Besonderen.

In der DDR spielten interdisziplinäre Zentren eine fruchtbare Rolle, die unabhängig von der Tumorlokalisation

-     eine primäre Tumorausbreitungsdiagnostik mit hohem apparativen Aufwand,

-     eine Aufstellung des Behandlungsplanes hinsichtlich der zu beteiligenden Therapieformen (Operation, Strahlen- und Chemotherapie) und deren zeitlichen Ablaufes,

-     eine Kontrolle sowie statistische Auswertung wahrend und nach der Therapie über mindesten 5 Jahre, angestrebt bis an das Lebensende

gewährleistet haben.

Es bedarf keiner Begründung, dass eine solche komplexe Betreuung nicht von einem Fachgebiet, geschweige denn von einem Arzt allein geleistet werden kann. Dort ist weder die zureichende fachliche Qualifikation vorauszusetzen, noch der unerlässliche technisch-ökonomische Aufwand zu erbringen. Nur bei gemeinsamem Handeln aller drei Teilbereiche der Geschwulstbehandlung bis zur Nachsorge und bei enger patientenorientierter Zusammenarbeit aller Partner in einem Zentrum, mit Nutzung der EDV-gestützten Krebsdokumentation sowie spezieller Untersuchungstechnik und unter strikter Vermeidung von kräftezehrenden Doppeluntersuchungen wird onkologische Arbeit sinnvoll.

Diese Aufgaben wurden in der DDR durch Kreisstellen für Geschwulstbekämpfung koordiniert und mit ausdrücklichem Bedauern einer Reihe von Ärzten Onkologischer Zentren aller Bundesländer nach der Wende liquidiert. Die noch bestehenden poliklinischen Einrichtungen der großen Zentren, wovon es in jedem der ehemaligen 12 Bezirke wenigstens eine gab, hatten auch ohne die Kreisstellen für die Geschwulstbekämpfung die Koordination der Aufgaben fortsetzen können, was allerdings ohne zureichende Administration zu einem Fiasko fuhren musste. Nicht einmal ein flachendeckendes, exakt funktionierendes und vollständiges Meldesystem konnte erhalten werden.

In einem östlichen Bundesland hat die Kassenärztliche Vereinigung gegen eine noch bestehende zentralisierte Tumorambulanz Prozesse bis zu den Landessozialgerichten geführt, um zu versuchen, die Koordination der Krebsbehandlung weitgehend niedergelassenen Ärzten zu übergeben.

Weil aber nachweislich interdisziplinäre Konzepte ab Beginn jeglicher Tumortherapie den Krankheitsverlauf entscheidend beeinflussen, findet man keine vernünftigen Grunde, bei Auftreten von Rezidiven oder Tochtergeschwülsten nunmehr das Procedere ausschließlich dem Hausarzt zu überlassen, der vielleicht nur weniger als 50 Tumorkranke in Quartal behandelt. Isoliert von modernen technischen Möglichkeiten und den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, d. h. ohne fachliche und ökonomische Strategien zu handeln, bedeutet doch bestenfalls das Optimale zwar zu wollen, aber nicht erreichen zu können.

Andererseits verliert so das onkologische Zentrum seine Übersicht zur Qualitätskontrolle und Einschätzung der Ergebnisse seiner medizinischen Bemühungen. Für die Strahlentherapie besonders bedenklich, weil deren Nebenwirkungen im Gegensatz zu Operationen oft erst nach Jahren auswertbar werden. Der Onkologe kennt die Einflussfaktoren, die Nachsorgekontrollen bestimmen:

-     Art und Ergebnis der Primärtherapie (kurativ, palliativ, symptomatisch[2]),

-     Besonderheit des Tumors (Häufigkeit und Zeitpunkt von Lokalrezidiven[3], Häufigkeit und Zeitpunkt sowie Lokalisation von Metastasen[4]), Wachstumsgeschwindigkeiten,

-     Möglichkeiten des Monitoring durch Spezialdiagnostik, die ihm jedenfalls im Zentrum selbst zur Verfügung steht,

-     Zeitpunkt und Intervall der Untersuchungen,

-     Klinische Symptomatik und daraus resultierende Maßnahmen.

Jeder Kranke muss zudem wissen, wer für seine Tumorerkrankung von vornherein verantwortlicher Partner ist. Unsicherheit in diesem Punkt fuhrt zum Gefühl des Alleingelassenwerdens und fordert die medizinische Polypragmasie[5] der niedergelassenen Arzte heraus. Das sehe ich besonders bei palliativer und symptomatischer Therapie. Hieraus ergibt sich, dass die Primär-, aber auch die Nachbehandlung „in einer Hand" verbleiben muss.

Abweichend vom Chirurgen und vom Chemotherapeuten war der Strahlentherapeut per Gesetz verpflichtet, Nebenwirkungen seiner Therapie über Jahre ständig zu dokumentieren und daraus ständig Konsequenzen für die Behandlung zu ziehen, ggf. seine Behandlungsmethoden zu modifizieren und sie sofort internationalen Erfahrungen anzupassen. Diese Verpflichtung ergab sich aus der in der DDR gültigen „Richtlinie Strahlenschutz in der Medizin" für den Strahlentherapeuten und besitzt für ihn besondere Bedeutung, weil er in der Regel keinen niedergelassenen Arzt als Partner findet, an den er seine fachspezifischen Aufgaben delegieren konnte.

Nachsorge wurde also vernünftigerweise unter der Verantwortung des Onkoradiologen - wie der Strahlentherapeut in der DDR bezeichnet wurde - zusammen mit onkologisch geschulten Ärzten am Tumorzentrum einer Klinik, natürlich aber auch unter Einbeziehung der Hausarzte des niedergelassenen Bereiches durchgeführt. Alleinvertretungsanspruche sind hier ebenso fehl am Platze wie starre Regelungen. Beschrankungen durch so genannte „Ermächtigungskommissionen" der Kassenärztlichen Standesvertretungen, etwa auf zweimalige Nachuntersuchungen oder auf allgemeinärztliche Basisuntersuchungen können niemals die geforderte Qualität einer verantwortungsvollen Tumorbehandlung erreichen und sind als überflüssige Verschwendung von Ressourcen abzulehnen. Die Gesellschaft fordert und sichert materiell eine individuell angepasste Therapie und muss deshalb auch eine individuelle Kontrolle unterstutzen. Wenn die zitierten Richtlinien zum Strahlenschutz auch hierfür eine wenig ostentative Formulierung benutzen, bedeutet die Forderung nach individueller Bestrahlung durch den Onkoradiologen im Kern auch die der individuellen Nachsorge durch diesen Facharzt (Gebietsarzt) mit dem gesamten Ärzteteam des Tumorzentrums.

Welche Möglichkeiten haben wir heute, solches in der täglichen Praxis einzuführen und zu qualifizieren? Einen Gesundheitsmarkt, der alles regeln wurde, gibt es nicht. Schon dieses menschenverachtende Wort beschreibt nach meiner Auffassung nur die ökonomischen Beziehungen zwischen Arzt, Krankenkasse, Pharmaindustrie und erst zuletzt zum Patienten. Auch die Beliebtheit eines Arztes hat nicht immer mit seinen Fähigkeiten und Kenntnissen zu tun, Eigenschaften, die der Patient nicht immer zu Lebzeiten erfassen wird.

Es mag zunächst erstaunen, dass die seit 1988 im § 11 des Bundessozialgesetzes bestehende Regelung zur Verzahnung der ambulanten und stationären Sektoren bis heute nicht umgesetzt wurde. Das hat dem Steuerzahler Unsummen gekostet. Vordergründig müssen dafür gegensätzliche Interessen der Krankenkassen, der Krankenhäuser, der Kassenarzte und eine dilettantische Beurteilung durch die Zulassungsinstanzen verantwortlich gemacht werden.

Neue Zeiten - neue Einsichten: Eine bessere Verzahnung der stationären mit der ambulanten ärztlichen Tätigkeit soll nun durch neue Strukturgesetze eingeleitet werden; auch vor allem durch ökonomisches Umdenken der Arzte selbst! Werden sie ihre berufspolitischen Interessen im Interesse der Geschwulstkranken zur Disposition stellen?

Die in den östlichen Bundesländern noch sehr vereinzelt funktionierenden onkologischen Nachsorgeambulanzen und Polikliniken sind jedenfalls in ihrem Betreuungsprofil wieder zu vervielfältigen. Sie genießen ausnahmsweise (wegen ihrer Tradition?) ohnehin nach § 311 Abs. 2 SGB V, in Anlehnung an Artikel 3 des Einigungsvertrages Bestandschutz, soweit sie am 31.10.1992 noch für die onkologische Nachsorge gearbeitet haben und nicht inzwischen Einzelermächtigungen, zum Beispiel solcher für Chefärzte, gewichen sind. Damit dieser Bestandschutz bestehen bleibt, aber auch überall die interdisziplinäre umfassende onkologische Therapie und Nachsorge an Zentren zur Regel wird, sollten Fachärzte, Standesvertreter und Gesundheitspolitiker Besseres erreichen und dort zur Schule gehen, wo bereits früher - in einigen europäischen Ländern noch heute oder wieder - mit respektablen Ergebnissen ein modernes effektives Gesundheitswesen funktioniert. Zukünftig brauchen wir eine Gesundheitspolitik, die in Zeiten mangelnder Ressourcen erst die eigene Wirksamkeit verbessert, ehe sie den Versicherten in die Tasche greift.


[1] Committee on International Activities (CICA) der Union Internationale Contre le Cancer (UICC) (Komitee für internationale Aktivitäten der Internationalen Vereinigung gegen Krebs).

[2] Kurativ: Heilung mit Beseitigung der Ursache

Palliativ Linderung der Folgen ohne Beseitigung der Ursache. Symptomatisch Therapie nur der Erscheinungsformen

[3] Lokalrezidive Rückfällige Erkrankung, Neubildung des Tumors

[4] Metastase. Tochtergeschwulst durch Verschleppen von Zellen eines bösartigen Tumors

[5] Polypragmasie. Ausprobieren vieler Therapien, besonders palliativer und symptomatischer


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