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Horst Gröger
Meine
Hand
Ja?
Ich bins. Hurra, Durchschnitt 1,1.
Meinen allerherzlichsten Glückwunsch, mein liebes Kind.
Danke, ich bin so froh.
Logisch. Mein Durchschnitt im Abi 1959 war viel schlechter.
So, so... Also ist es falsch gesagt, dass der Apfel nicht weit vom Birnbaum fällt.
Streiten wir doch den Sinn dieses Sprichwortes aus.
Wie? Was schlägst du vor?
Das Leben war so, dass wir viele Jahre getrennt lebten, wir wissen nicht, worüber der Andere lacht und warum er weint. Suchen wir uns in meinem Heimatdorf, in unserer Vergangenheit.
Einverstanden,
aber wie wollen wir uns suchen im
Dorf deiner Kindheit?
Du fragst, ich erzähle dir meine Erinnerungen. So suchen wir gemeinsam.
Wonach und was?
Uns, Töchterchen.
Ich fange an zu fragen: Wer sind wir, wer bin ich, wer du
außer mein Papa?
Das ist die Frage, die den Menschen von allen Wesen, die wir kennen,...
(Goethe?)
–
ja - unterscheidet: Wer bin ich, wo komme ich her, wo gehe ich hin?
In dein Dorf zurück!
Ja, du Kücken. Aber ernst, Tochter, es war unser Leben.
War es dein Kinder-Leben oder dein Kind-Erleben?
Beides, mein kluges 1,1-Kind, es war meine Kindheit und frühe Jugend, die ich mit Freuden und Schmerzen durchlebte und zu gestalten versuchte. Deine Frage ist die nach dem Sinn des Lebens, was einschließt: Was war gut, was schlecht? Warum überhaupt leben wir?
Gib mir bitte eine Antwort, die kürzeste, zu der du fähig bist: Was ist der Sinn des Lebens?
Du. - Gut, dein Schweigen jetzt. Ja, mein Kind, du bist der Sinn. Als Mensch weiß ich, dass ich sterben muss. „Das Wertvollste, was der Mensch besitzt, ist das Leben. Es wird ihm nur ein einziges Mal gegeben. Und nutzen soll er es so, dass ihn nutzlos vertane Jahre nicht bedrücken, und er sterbend sagen kann, dass er sein Leben dem Herrlichsten in der Welt gewidmet hat".
Das klingt aber gewaltig.
Ein etwas verändertes Zitat aus dem Roman „Wie der Stahl gehärtet wurde" von Ostrowski.
Was ist das Herrlichste?
Ich muss im Leben etwas zurücklassen, meine Werke und Taten sollen von mir zeugen. Verändert habe ich, dass das Wichtigste die nicht abreißende Kette des Lebens ist, meine Ahnen, ich, meine Kinder und deren Kinder, „geformt nach meinem Bilde, ein Geschlecht, das mir gleich sei, zu leiden, zu weinen, zu genießen und zu freuen sich ..."
(Zitat bekannt.)
Jeder sollte sich von Zeit zu Zeit fragen, habe ich im Leben Ergebnisse hinterlassen, die in die Zukunft weisen. Meine schönsten Spuren sind die eigenen Kinder, eine immer zeugende Quelle menschlichen Glücks.
Danke.
Aber alles - Gutes und Böses, Heiteres und Tragisches und Lächerliches - erleben wir in der Gemeinschaft. Wir gehören zu einem Größeren.
Ja, Schiller.
Ich freue mich, dass wir uns auf solchem Niveau verständigen können.
Es
hat mich damals sehr berührt, dass du mir dein erstes Buch aus deinem 13. Jahr,
das Schiller-Lesebuch, zum
14. Geburtstag geschenkt hast. Wir sind uns einig, dass jeder
seine Persönlichkeit ausprägen soll, auch in der Gemeinschaft.
Ich ergänze: auch für die Gemeinschaft. Denn Individualität und Gemeinschaft müssen sich nicht widersprechen, sollen sich gegenseitig befruchten.
Ja schon. Hier aber ist eines der Probleme, über die wir
nicht einig wurden. Du behauptest
von meiner Schulzeit, ich sei in der Entwicklung meiner Persönlichkeit
lediglich „begleitet" worden,
während du zu Gemeinschaftssinn - ihr nanntet es damals Kollektivität
- erzogen wurdest. Aber du bist
doch wie ich Person und Persönlichkeit. Ja, dein Leben wäre weniger bitter gewesen, wenn du angepasster und
weniger Individualist gewesen wärst. Und auch ich bin kein Monster, das Kleine
und Schwächere verspeist.
Was ist denn nun der Unterschied zwischen uns, abgesehen, dass ich etwas jünger
und Frau bin, du mein Papa.
(Lästermaul, aber ein liebes Mäulchen.)
Eigentlich ist das Ergebnis doch gleich: erwachsene Persönlichkeiten.
Das System, die Prämissen und Prioritäten waren anders.
Das Kriterium, ob die Gesellschaft gut oder schlecht ist, sollte sein: Fördert oder hemmt sie die Entwicklung des Einzelnen.
Lass dich umarmen, mein Kind. Du hast meine Dialektik begriffen. Gut ist die starke Persönlichkeit in der gesunden Gemeinschaft, in der Bürger und Gesellschaft, besonders aber auch der Staat, sich immer bewusst sind, dass „die freie Entwicklung des Einzelnen die Voraussetzung für die freie Entwicklung aller ist". Das ist aber das „Einfache, das so schwer zu machen ist."
Das
klingt gut, das klingt wie einer deiner druckreifen Sätze, über die ich mich
so oft geärgert habe, weil ich sie nicht zu widerlegen vermochte. Aber deine
letzten Sätze kommen mir
so bekannt vor.
Sie sind es auch, sind nicht von mir. Ich zitierte 2 der großen Dialektiker, den Philosophen und den Dichter.
Wir sind gleichen Sinnes Wann fahren wir in unsere Vergangenheit, in dein Dorf Wenn die Schmerle duftet und am meisten Wärme gibt.
II.
Jetzt sind wir durch dein Dorf gegangen, 10 Minuten. Es
hat nichts zu bieten
Doch, Menschen wie mich und unsere Schicksale. Dieses Dorf- wenn du willst, dieses 200-Seelen-Nest - verbindet, und zwar die Vergangenheit mit der Zukunft über die Menschen. Sieh diese einsame Eiche am Rain. Sieh bitte genau hin.
Im
Stamm sind große rostige Nagel und Eisenkrampen
Ja, Spuren von mir und unserer wilden Kinderhorde, vor über 50 Jahren gesetzt.
Warum?
Oben bauten wir ein Baumhaus, verzehrten Äpfel, Möhren, Kohlrabi, Mais (alles, was wir kleinen Wölfe im Nachkriegshunger ringsum geklaut hatten), heckten unsere Streiche aus, erlebten Heimat und Natur und führten unendliche Gespräche. Dort zum Beispiel war ein Feld roten Klees. Wenn wir hineinrannten (erwischte uns der Bauer, gab es Hiebe), stiegen Wolken von Schmetterlingen auf Unvergesslich im Herbst der Duft der Kartoffelfeuer und der Geschmack darin gerösteter Kartoffeln. Weiter rechts, dort zwischen dem kleinen Wäldchen und der geschlossenen Waldfläche, wenn der Abend leise sich senkte, sieh - so wie jetzt - kamen schon damals Rehe zum Äsen. -Klettern wir hoch, wir finden noch Halt oben.
Es ist schon hier Und Friede hegt über dem Land - Unser Telefonat endete mit der Freiheit. Dazu brauche ich deine Meinung Heute wissen alle, dass ihr, du, in einer Diktatur aufgewachsen seid, die euch alle Freiheit nahm Wie hast du das mehr als 40 Jahre erlebt und ertragen?
Nun ja, heute wissen es alle. Wissen aber diese Alle auch alles? Übrigens verkürzt deine Frage - wie heute üblich - unser Leben auf das Klischee Diktatur, auf Staatsmacht Tatsächlich aber waren wir Teil einer weltweiten, sehr be- und geachteten sozialen Bewegung, die sich in Staaten politisch organisiert hatte. Allerdings war der Staat eine Diktatur. Ein ganz ander Ding war das Alltagsleben, die kleinen wie die großen Freuden und Sorgen.
Also, wie war das?
Was weißt du zum Beispiel mit deinem Durchschnitt von 1,1 vom Alltag, als ich Kind war, zur Schule kam? Warum konnte ich ein Jahr zu früh eingeschult werden, was war 1947 m meiner Zuckertüte?
Was?
Apfel und Petersbirnen. Und oben drauf ein süßer Ruhrkuchen, ganz allem für mich. Ich habe ihn - entschuldige den treffenden Ausdruck - in einem Zuge aufgefressen. Die Erinnerung an meinen Schulanfang ist, dass ich mich erstmalig bewusst satt essen konnte - an süßem Kuchen. Und alle - Oma, Mama, altere Geschwister - hatten es sich vom Munde abgespart. Eine Gemeinschaft.
Was weißt du also von Lebensmittelkarten, auf denen man zu Ostern Fleisch oder Eier bekommen konnte, von Zudelsuppe, vom Schmerz und der Scham, trotz erster Nachtfröste barfuß laufen zu müssen - und von der großen Sehnsucht kleiner Herzen, die bald Hoffnung wurde?
Mach Sehnsucht und Hoffnung für mich nacherlebbar, bitte
Gut Beschreibe meine nach oben gestreckte Hand, beim kleinen Finger beginnend Ich kommentiere
Neben dem kleinen Finger
(1949 Gründung der DDR, Trümmer, zerrüttete Familien, viel Elend und wenig Kraft, Hoffnung leuchtete wie das „Licht von weiten" in Goethes „Schatzgräber", und wir dachten, dass die Verheißung wahrlich nicht das Böse sein konnte )
strebt der Ringfinger nach oben
(1959 Es geht deutlich aufwärts Bald konnte ich mich täglich satt essen, wenn auch zunächst nur an Kartoffeln und Brot, allmählich lag etwas auf dem Brot Margarine, dann auch Wurst, Eier, Käse Ich erwarb das Abitur)
Der Höhepunkt wird mit dem Mittelfinger erreicht
(1969 Ich führe ein gutes Leben, habe studiert, wurde Lehrer, dann Offizier der NVA, habe geheiratet Der Wohlstand wächst: Wohnungseinrichtung, Reisen in verschiedene Länder des Ostens und innerhalb der DDR, fröhliche Bekanntschaft mit Freunden und Gleichgesinnten)
Mit dem Zeigefinger geht es abwärts
(1979 wie mit uns, mit mir Hochschullehrer, der arge Weg bitterer Erkenntnis, Parteifeind, Parteiausschluss, Entlassung aus der Armee, Hilfsarbeiter)
Die
Hand endet im Sturz zum Daumen, der tiefer hegt als der kleine Finger
(1989 Implosion der DDR - Ende Dazwischen nur ein persönlicher Höhepunkt, ein großes Glück: 1984 wirst du geboren )
Du sagtest Ende?
Ja, für Staat und Gesellschaft Aber was bleibt, das sind wir, wir Menschen mit unserem gelebten Leben
Aber die Freiheit?
Freiheit ist eine Chance, aber die Gesellschaft muss auch jedem eine geben Darunter verstehe ich auch und besonders, die Menschen zu fordern, die sich nicht selbst oder nur schlecht selbst helfen können
Das ist der Ansatz von Jesus
Und von Marx, von Tocquille und von allen Sozialreformern
Interessant, dann wäre ja Christentum, Marxismus und Konservatismus vergleichbar
Richtig, im Ansatz, aber auch im Ende Haben sie die Macht, verraten sie den Ansatz und praktizieren Hobbes, seine Moral des Nutzens, die sich heute im Utilitarismus der Marktwirtschaft verwirklicht, und huldigen der Idee der Starken und Mächtigen Macht euch die Erde untertan
Wurdest du deshalb Lehrer, weil das Kind, das sozial benachteiligte zumal, besonders Hilfe braucht?
Ja - Ich lernte gut, leicht und gerne Schon vor der Einschulung, von den älteren Geschwistern Deshalb vorzeitige Einschulung Aber zu Hause horte ich von Oma „Wozu so viel lernen? Wir waren immer Scharwerker und arme Leute Deine Mutter verdiente vor deiner Geburt pro Tag beim Torfstechen 50 Pfennige "
(Die
Goldenen Zwanziger wird das heute genannt)
Es reicht, im Gesangbuch, auch etwas in der Bibel zu lesen. Mein Lehrer („ostpreußische Dorfschule, Kaiserreich nach der Gründung") sagte, weiter als bis hundert brauchen wir nicht zu rechnen, da ihr nie mehr Geld haben werdet.
Wie also kamst du dann zu Abi und Studium?
Durch die Schule als Einrichtung des Staates. Zu Beginn der 8. Klasse kamen der Direktor, einige Lehrer und mir Unbekannte in den Unterricht - Geschichte stand auf dem Lehrplan - und fragten, wer zur Oberschule gehen möchte.
Oberschule?
Führte zum Abitur, entspricht also dem heutigen Gymi. - 2 Jungen standen auf. Schweigen allerseits. Meine Geschichtslehrerin sagte: „Gröger, du auch." Noch ein Junge wurde benannt. Wir 4 gingen ein Jahr später zur Oberschule, - Zwang und Diktatur, mein Kind, oder Hilfe und Chance?
Schon gut. So war das also.
Noch etwas gab es. Es gibt kein Leben ohne Widerspruch, ohne Dornen. Ich war kein Pionier, also gab es 1955 ein Gespräch zwischen der Pionierleiterin und mir. Sie: „Du willst zur Oberschule?" „Ja" „Du trittst also in die FDJ ein!" „Nein." „Du willst tatsächlich zur Oberschule?" „Sicher." „Willst aber nicht in die FDJ eintreten?" Ich trat ein.
Und wurdest Kommunist?
Ja.
Und Parteifeind?
Ja, ich wurde.
Wie passt das zusammen?
Für mich eine logische Entwicklung. Welchen Wert hat Freiheit ohne Disziplin, ohne Verantwortlichkeit für sich und Andere? Churchill soll gesagt haben, wer mit 17 nicht Kommunist würde, habe kein Herz; wer aber mit 70 immer noch Kommunist bleibe, habe keinen Verstand. Ich hatte und habe Herz und Verstand, wurde in meinen Zwanzigern Kommunist und mit 35 Parteifeind. Du hast meine Hand beschrieben. 20 Jahre ging es aufwärts mit der DDR, ihrer Gesellschaft und mit mir. Alle Wege standen dem begabten Kind mit proletarischer Herkunft offen. Siehst du, das war die Chance zur Freiheit, die die Gesellschaft schuf - für mich und Meinesgleichen. Die auch meine Bereitschaft schuf, mit Disziplin Verantwortung zu übernehmen für mich und für andere, für ein Größeres, für das Edelste - wie ich lange glaubte.
Lange, aber nicht endlos.
Richtig. - Mit Hochachtung denke ich noch heute an viele meiner Lehrer, besonders an den alten Klassenleiter, noch Ende des 19. Jahrhunderts geboren. Als Lehrer habe ich später manche seiner Lehrmethoden nachgeahmt, mit Erfolg. Etwa 15 Jahre jünger als meine Oma, ermunterte er mich, gegensätzlich zur alten Frau: „Gröger, lerne, und wenn du etwas geworden bist, trinken wir alle gemeinsam ein Fass Bier. Du zahlst!"
Hast du gezahlt?
Leider ergab sich keine Gelegenheit. Als ich ihn 1975
letztmalig sah, tranken wir aber Wein, auf
meine Kosten. - Er gab bei uns Deutsch, Mathe, Chemie und Musik. In Musik
spielte er auf seiner Viola, ließ uns singen und quer durch den Musiksaal laut flüstern. Das stärkte die Stimme und förderte lautreines Sprechen. Er
meinte nämlich, zu Hause solle man
sprechen, „wie einem die Guschen gewachsen seien", wer aber etwas
werden wolle in der Welt, müsse sich korrekt der Hochsprache bedienen können,
zumal das Sächsische in Deutschland nicht beliebt sei.
In der DDR.
Nein. Damals war die DDR für die Einheit Deutschlands, der Westen aber lehnte jeden unserer diesbezüglichen Vorschläge ab.
Habe
ich nichtgewusst.
Viele geschichtliche Wahrheiten hat man euch in der Schule verschwiegen.
Wie klingt dein Heimatdialekt.
Ganz einfach: Das Vogtland ist do, wo de Hasen - Hosen und de Hosen Husen sei (sind). Nicht immer machte er Musik, sagte, Mathe sei wichtiger. Einmal bekam ich in der Mathematikarbeit eine 5, obwohl alles richtig war. Ich hatte den Punkt nach dem letzten Antwortsatz nicht gesetzt. Bis heute habe ich das nicht vergessen, es aber längst akzeptiert. Diktatur? Zwang? Ich weiß seit langem um den Wert meiner Schulzeit. Man lehrte uns Werte und Grenzen. Auch wenn die Methoden nicht immer angenehm waren. Ich war ein sehr wildes Kind und bekam etliche Male das Klassenbuch auf den Kopf geschlagen. Aber er hatte weit wirksamere Methoden. Für Verstöße musste man ein Gedicht auswendig lernen - nach dem Unterricht selbstverständlich, in der Schule unter seiner Aufsicht. Oder zu Hause abschreiben - 10 Seiten. Einmal schrieb ich den Satz: Der Mensch ist kein Allesfresser, weil er nicht frisst. Bei Wiederholung des Verstoßes wurde die Seitenzahl verdoppelt. Ich gab auf, als bei herrlichem Winterwetter die Kameraden vor meinem Fenster im Schnee rumtobten, ich aber 20 Seiten schreiben musste.
Das hat dich geformt?
Natürlich. Aber prägend war Anderes. Denke an das Fass Bier. Oder dort, in unserem Rücken, siehst du Wald mit starkem Unterholz, Gebüsch, das selbst Nieselregen abhält. Ich war 13 und hatte mich ins Gebüsch verkrochen, um zu lesen: Faust, der Tragödie 1 .Teil. Nichts Besonderes für mich. Nur, ich musste Kühe hüten, eine ganze Herde. Dafür bekam ich vom Bauern - dort links, mitten im Dorf, sein Hof, nein, der seiner Erben - Naturalien und abends, wenn ich noch in den Stallungen mithalf, zusätzlich mit Wurst belegte Brote, die ich mit der ganzen Familie teilen konnte. Schön war es, die Kälbchen aus dem Eimer zu tränken, herrlich, wenn sie am Ende, wenn du sie ihnen gabst, mit rauer Zunge meine Hände leckten. Als besondere Belohnung war mir sogar erlaubt, die Pferde zu versorgen. Nur die Box des riesigen Ackergauls Sahib durfte ich nicht betreten.
Und was hat das mit Goethe zu tun?
Entschuldige, aber die Erinnerung hat mir einen Streich gespielt. - Weil es regnete, hatte ich mich ins Gebüsch verkrochen. Als ich zu mir kam, vom „Faust" gefesselt, hatten meine Kühe den gleichen Gedanken gehabt wie ich und im Wald Schutz vor dem Regen gesucht. Nun suche eine Herde Rindviecher im Wald und treibe sie zurück auf die nasse Weide und alles so, dass es der Bauer nicht merkt - sonst ade mit den zusätzlichen Wurstbroten.
Aber zurück zur Schule. Das war oft so: „Gröger, warum passt du nicht auf?" „Ich habe zu lesen." „Was?" „Schiller, Don Carlos." „Lies weiter. Aber arbeite zu Hause im Lehrbuch den heutigen Stoff durch!"
Gab es einen Anlass, gerade den Carlos so eilig zu lesen?
Das wusste nur ich und jetzt du: Meine große Schülerliebe schrieb mir ihre Absage mit Hölderlin ins Poesiealbum: „Des Herzens Woge schäumte nicht so oft empor und würde Geist, wenn nicht der alte, stumme Fels, das Schicksal, ihm entgegenstünde." Voller Wut und Schmerz suchte und fand ich die Erwiderung bei Schiller: „Es gibt ein höher, wünschenswerter Ziel, als dich besitzen!"
Ihr hattet Verständigungsformen!
Bildung ist Niveau. - Von der Freundin zurück zum Klassenlehrer: „Gröger, geh' für mich einkaufen. Im Unterricht kann ich dich entbehren. Vergiss die ;Juno' nicht. Den Unterrichtsstoff allein zu Hause!"
Und das war eine gute Schule?
Ja, Tochter. Er vertraute mir, wusste, dass ich gern selbständig arbeitete. Er forderte meine besonderen Anlagen. Ich habe ihn nie enttäuscht. Die Schule war gut. An meinem Schulsystem schätze ich noch heut Dreierlei: Wir lernten Grenzen kennen und diese einzuhalten. Wir lernten Werte schätzen, zum Beispiel die Bildung als Wert an sich und nicht nur als Karrierebonus. Und wir lernten, selbständig zu lernen.
Aber die Methoden!
Zeitbedingt und als Resultat gar nicht so übel. Wir wollten und konnten lernen. Unsere Lehrer verdienten noch den Namen paedagogos, d.h. Knabenführer. Mit hohen fachlichen und menschlichen Qualitäten, mit Wissen, Können, Verständnis und Liebe, aber auch mit Konsequenz lehrten sie. Bei jedem Kind suchten sie dessen Eigenheiten und forderten diese. Der Brunnen wurde zugedeckt, bevor ein Kind hineinfallen konnte. Lehrer waren Erzieher des Volkes, sie lebten für ein Ethos. Sie hatten manche Sorge mit uns gemeinsam, etwa wenig Essen, schlechte Kleidung und Wohnung; sie verstanden uns: unser Alter, unsere Zeit.
Genauer, kürzer
Der Lehrer hilft jedem Schüler über jede seiner Schwierigkeiten, aber gehen muss er allein.
Wohin?
Ins Leben.
Hm.
Wir Dorfkinder in der Zentralschule in der Stadt waren eine wilde Horde. Das ist eine Gefahr für die Disziplin. Wir tricksten die Lehrer aus - dachten wir und glaubten uns Wunders wie schlau. In jeder größeren Pause schlichen wir uns in die Turnhalle und tobten ausgelassen herum. Seltsamerweise waren immer Matten und Geräte und Bälle vorhanden, die sonst unter Verschluss waren. Viel später, als ich selbst Lehrer war, begriff ich die Absicht unserer Lehrer: Die wildesten Schuler reagierten in den Pausen ihren Kräfteüberschuss in der Turnhalle ab und saßen zu Beginn der Stunde mucksmäuschenstill in ihrer Bank, störten nicht, aus Furcht vor Entdeckung. (Merke: 10 Seiten und mehr.) - Und heute?
Viele wollten erwischt werden, zum Beispiel beim Rauchen.
Oder nimm den Kuss auf dem Schulhof. Zu meiner Zeit war das das aufregendste Erlebnis, natürlich heimlich. Das Unerkannte gehörte zum Prickelnden, an das man sich im Alter mit Schmunzeln erinnert, um die damalige Erregung nochmals auszukosten. Heute wird in aller Öffentlichkeit geknutscht und gefummelt, ohne jede Scham. Man fühlt sich als Held, nicht ahnend, wie arm an Gefühlen man ist, schlimmer: Gefühle können nicht reifen.
Du hast Recht. Viele von uns wollten demonstrieren, wie machtlos Schule und Lehrer gegen Disziplinverstöße sind.
Sie wollen sich immer wieder beweisen, dass im uralten Machtkampf Schüler - Lehrer der Schüler Sieger bleibt. Er muss nur konsequent gegen Ordnung und Autorität verstoßen.
Richtig: uralt. Wir wissen das doch seit Sokrates.
Heute ist es aber anders. Früher hatten wir Angst vor Strafe; heute sucht der Schüler für seine Verstöße Öffentlichkeit. Er hat keine Angst - gut so -, aber er anerkennt auch wenig kulturelle, ethische Grenzen. Ein Kulturbruch zwischen den Generationen droht. 10,12 und mehr Jahre, im Kindergarten beginnend, erlebt das Kind, dass es ungestraft gegen jede Ordnung und Autorität verstoßen kann.
Übertreibst du nicht?
Leider nicht. In der so genannten antiautoritären Erziehung soll das Kind sich und seine Grenzen selbst finden und seine Freuden und Schwierigkeiten ausleben - begleitet von der Schule. So wird auch falsches Verhalten eingeübt, da dem Kind keine Grenzen gesetzt werden. Seine natürlichen Aggressionen, zum Beispiel beim inneren Gärungs- und Reifeprozess in der Pubertät, wird gegen andere Menschen - Schüler, Lehrer, Eltern, „Bullen", „Ausländer", „Russen", „Schwule" usw., usw. - und Sachwerte gerichtet. Der Schulhof ist zum Tatort geworden für Gewalt, betrügerische Geschäfte, Rauschgift. Differenzen werden durch Selbstjustiz bereinigt, Kriminalität fuhrt bis zum Mord am Lehrer vor versammelter Klasse.
Ich verstehe. Hinzu kommen noch Irrationalismus, Okkultismus, Satanismus und und, und. - Aber die Lehrer?
Der Lehrer hat seinen Job, den er durch Kündigung leicht verlieren kann. Er hat die unerfüllbare, aber Schuler und Lehrer krank machende Mission, wild wachsendes Unkraut zu Spalierobst zu kultivieren, mit gebundenen Händen und blind.
Was soll das?
Datenschutz und Begleitung.
Deutlicher.
Es wird weggeschaut, vertuscht, verschwiegen. Die Brunnen werden nicht zugedeckt. Ist dann Jemand im Brunnen ertrunken, ist ein Kind zum Täter geworden - Mord in Meißen - zeigen alle fassungslose Betroffenheit - und gehen zur Tagesordnung über. Die Spirale dreht sich weiter bis zum nächsten Medien-Event: Massenmord in Erfurt. Was werden wir noch erdulden müssen? Aber die Schule begleitet.
Und die Schulämter?
Wurmfortsatz des Blinddarms: für das Funktionieren des Körpers nicht notwendig; tritt er aber in Aktion, kann das tödlich wirken.
Ich
habe mich in der Schulzeit manchmal gefragt, warum es keinen Aufschrei der Lehrer
gegeben hat, keine öffentliche Diskussion zu den Ursachen.
Weil das gegenwärtige Schulsystem die schädlichste Einrichtung der Gesellschaft ist.
Das ist zu absolut.
Es kostet viel Geld, erbringt aber keines der notwendigen Ergebnisse.
Ich möchte, kann dir aber noch nicht zustimmen.
Sehen wir uns also die Bildungsergebnisse an. Der Schüler
wird wie ein Computer mit Fakten voll gestopft, das heißt, was das Ziel sein muss - Urteilsfähigkeit
-, wird als Ergebnis vorausgesetzt. Oder anders gesagt: Das Kind wird wie ein mündiger
urteilsfähiger Burger
behandelt, der auf der Grundlage von Fakten selbst sein Urteil fallen muss.
Was
ist daran falsch?
Der Schüler muss erst zu dieser Urteilsfähigkeit geführt werden.
Wie?
Indem er Werte und Grenzen erfährt und erlebt und das Lernen lernt.
Und ich: 1,1?
In Deutschland gibt es Millionen von Analphabeten, und das nach x Jahren „erfolgreichen" Schulbesuchs mit guten Zensuren, jährlicher Versetzung und staatlich anerkanntem Schulabschluss, aber nicht geeignet für sehr einfache Berufsausbildung. Das Allgemeinwissen in Geschichte zum Beispiel, in Kunst und Kultur ist gering, von „Recht"-Schreibung kann nicht mehr die Rede sein.
Es gibt aber Ausnahmen, mich!
Richtig, es sind Ausnahmen. Immer mehr Menschen wissen immer weniger über immer mehr. Ganz auf der Strecke geblieben ist das Wertesystem. Krösus mit 20, also ohne Lebensleistung reich sein, das ist das Ideal - wie bei Gangstern.
Das erinnert an Brecht, dass der Unterschied nur gering sei, ob man eine Bank gründet oder ausraubt.
Oder an die alten Römer, deren Ideal pro domo hieß, also eine Laufbahn im Interesse des eigenen Hauses, wobei das materielle Interesse der eigenen Sippschaft als das allgemeine Anliegen des Staates, der Gesellschaft öffentlich behauptet wird.
Hi, hi, hi! Bei unseren Politikern herrschen also Zustände wie im alten Rom. Anstelle von Bildung und Leistung tritt die Karriere. Wer es schafft, in diesem Dschungel zu überleben, weiter zu kommen, ohne die Anderen mitzunehmen, der steigt auf der Aufstiegsleiter.
Oder er ist ein Star, dann wird er herausgeholt.
Ein Möchte-gern-Star oder Sternchen oder ehemaliger Star. - Mein Kind, du wurdest in der Schule erzogen, besser zu sein als die Anderen. Erinnere dich an folgende alltägliche Werbung: Ein Junge schleicht sich an einen Kampfhund an, nimmt einen Ball an sich und gibt ihn - selbstverständlich gegen Belohnung - an andere Jungen zurück. Es ist sein eigener Hund, keinerlei Gefahr. Also keine Leistung, aber Profit. Ergebnis nach Jahren: Kunde oder Mitarbeiter einer Bank - weil er das Betrügen von Kindheit an eingeübt hat - von der Schule begleitet. Das ist ein Selbstbewusstsein ohne Verantwortungsbewusstsein. Für mich das Gegenteil von Freiheit. Mich lehrte man, mich in meinen dunklen Trieben zu überwinden, stets besser zu werden als ich in meinen Eigenschaften schon bin, ohne mich Anderen überlegen zu dünken. Höre Walter von der Vogelweide: „Wer schlägt den Löwen, wer schlägt den Riesen? Wer überwindet alle Krisen? Das kann nur, wer sich selber überwindet..., sich fest in seine eigne Obhut nimmt!"
Ich
kannte den Text, begreife es jetzt aber besser. - So weit, so schlecht. Aber so
schnell überzeugst du
mich nicht, schließlich bin ich dein Kind, von deinem Stamme. Unbestritten
ist wohl, dass ihr schon als Kinder politisch indoktriniert wurdet.
Das war oft mehr lustig als wirksam. Und bitte keine einseitige Übertreibung. Unterscheide zunächst die ersten 20 Jahre meiner Entwicklung und dann erst den Abfall vom Mittelfinger zum Daumen. In der Schule sah das so aus. Alle sprachen vom „antifaschistisch-demokratischen Schwänzchen". Der Stoff wurde sachlich vermittelt, zum Beispiel das Leben der Sammler und Jäger in der Urzeit. Dann kam das ideologische Anhängsel: „Auch der gute Pionier und Schüler sammelt, zum Beispiel Altpapier für den Frieden und die Stärkung unserer Republik." - Man grinste, und wer glauben wollte, der glaubte. - Oder mein Ideallehrer am 6. März 1953: Wir ganz ruhig in gespannter Erwartung, er wie immer. Er betrat den Raum, schleuderte aus einigen Metern Entfernung seine Mappe aufs Pult, schob seine rundlich-dicke Figur bedächtig zum Stuhle und sprach: „Gestern ist einer der Größten der Menschheit gestorben -und jetzt machen wir Mathematik. Wir berechnen das Volumen der Kugel. Seht meinen Bauch an und merkt euch: Bedächtig kommt er angeschritten, 4/3 pi mal r zur Dritten." Und jeder, jeder hat sich dabei Seins gedacht - und sich seine Weltanschauung selbst gesucht.
Aber du wurdest trotzdem Kommunist.
Und Parteifeind. Ich frage dich: Gab es jemals eine kommunistische Partei, gar eine regierende? Nach meiner Erkenntnis nach dem Verbot des Bundes der Kommunisten nie und nirgends. Es waren marxistisch-leninistische Parteien neuen Typs.
Ist das nicht graue Theorie ohne Wert, Wortklauberei?
Ich erlebte das anders. Hier meine Antwort auf deine bohrenden Fragen nach Demokratie und Freiheit. Eine neue Herrscherkaste entstand, die das archaische Prinzip einführte, dass die Macht bestimmte, was Recht und Moral zu sein hatte. Sieh' meine Pionierleiterin. Völlig logisch ließen sich die neuen Machthaber schon zu Lebzeiten - wie Pharaonen und Cäsaren und Könige von Gottes Gnaden - ihre eigenen Denkmäler errichten.
Personenkult.
Genau.
Aber habt ihr das nicht begriffen?
Ich habe, aber erst später. Wenn du als Kind nur eine Wahrheit hörst und diese durch eigene Erfahrung bestätigst findest, gehst du zunächst den Weg, den die allgegenwärtige Macht wünscht.
Erkläre.
Denke an „Prometheus". Manchmal müsst ihr Kritiker euch selbst glauben, nämlich, dass es tatsächlich Diktatur war, der wir Kinder, meine Generation, die bis ins reife Alter nichts anderes an politischem System kennen lernen konnte, nichts, aber auch gar nichts entgegensetzen konnten. Nach Stalins Tod zum Beispiel versammelten sich viele, sehr viele Menschen auf dem Marktplatz. Wir Schüler auch. Leise Trauermusik. Flaggen auf Halbmast, überall Trauerflor - Stille, lange. Viele Menschen weinten. Da weinte ich mit, noch keine 12 Jahre, und glaubte, dass „Väterchen" persönlich dafür gesorgt habe, dass ich mich nun endlich satt essen konnte und lernen durfte.
Wie konntest du diese Verirrung überwinden?
Ein Witz gefällig, meine Dame?
Wenn
er gut ist.
Über Honecker oder Breshnew?
In dieser Reihenfolge.
Also: Honi hat Staatsbesuch, den amerikanischen Präsidenten. Abends ein Jagdessen in Honeckers Jagdschloss. Staunen. „Herr Staatsratsvorsitzender, woher haben Sie so ein stilvolles Jagdheim?" „Das haben mir unsere Werktätigen geschenkt" - Nächster Abend. Nach den diplomatischen Gesprächen eine Fahrt auf den Berliner Gewässern mit Honis Luxusyacht. „Herr Generalsekretär, auch ein Geschenk der Werktätigen?" „Natürlich." „Da müssen die Werktätigen sie aber sehr lieben?" „Richtig, die müssen, die müssen."
Ich verstehe. Freiheit.
* * *
Ich lernte Einiges und lehrte Wissenschaftlichen Kommunismus - und fand mich auf dem schmerzhaften Weg der Erkenntnis, sprich Praxis. Nichts passte zusammen, nichts stimmte mehr. Auch ich gehörte zur sozialistischen Herrschaftskaste. Ihre Glieder aber wurden nach dem klerikalen und feudalen Prinzip behandelt: Bist du treu ergeben, geht es dir gut; lockst du wider den Stachel, wirst du vernichtet (sofern du nicht widerrufst und zu Kreuze kriechst). Denn nur der Einzelne kann fehlen, das Ganze (die Partei, die Kirche, das Offizierskorps usw.) muss immer unbefleckt erscheinen. Der heilige Fetisch garantiert die Macht. Notfalls muss der Einzelne vernichtet werden.
Jesus wie Marx hatten das allerdings anders gesagt.
Jesus starb am Kreuz. Das Kruzifix ist eine Warnung an alle, die seinen sozialen Ansatz verwirklichen wollen. - Zurück zum Witz, und zwar zur Ökonomie: Breshnew verkündete immer öfter, in der Sowjetunion zeichne sich der Kommunismus am Horizont ab. Anfrage an Sender Jeriwan: „Was ist ein Horizont?" „Eine gedachte Linie, die sich stets entfernt, wenn man sich ihr nähert."
Auch
mir fällt ein Witz ein: Der Kapitalismus rast mit großer Geschwindigkeit auf einen
Abgrund zu. Und der Sozialismus ist dabei, ihn zu überholen.
In der Oberlausitz wird Einer gefragt: „Ihr betont und rollt in den Wörtern überdeutlich den Buchstaben R. Wie sprecht ihr aber Wörter ohne R, zum Beispiel Sozialismus?" „Wirrrrr warrrr."
Ich fange an zu ahnen, was der Unterschied zwischen kommunistischer und marxistisch-leninistischer Partei war.
Eine Gleichsetzung wäre genau so falsch, als wollte man die Inquisition als eine Verwirklichung von Christentum bezeichnen.
Oder
die schrecklichen Malefizmeister mit ihren blutigen Orgien bei Hexen- und
Ketzerverhören: Sie waren doch eher eine Inkarnation des Satans als Anhänger
des Gesalbten und seiner
Lehre der Liebe und Verzeihung und des Friedens. Was hat der „Hexenhammer"
mit der Bergpredigt gemeinsam? Es sind Gegensätze, die sich ausschließen.
Treffend und logisch. - Der strahlende Ehrenname Sozialismus wurde zum Schimpfwort, das Juwel zu Asche.
Der
Opal ging seiner Kraft verlustig, der echte Ring vermutlich ging verloren.
Du bist ein Trost, mein Kind, du hast zu Recht 1,1.
Bildung
und Werte habe ich schließlich nicht aus dem Privatfernsehen, aber aus der Schule,
mein lieber Herr Papa.
Du hast sie durch die Schule und trotz der Schule.
Du
sagst so etwas nicht, ohne über Auswege nachgedacht zu haben. Lass mich jetzt bitte
nicht allein. Pessimisten retten nicht die Welt, auch Chaos nicht.
Ich bin kein Pessimist, sondern halte es mit Luther, würde also heute noch einen Baum pflanzen, wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergehen würde.
Du
idealisierst das Schulsystem deiner Kindheit. Möchtest Du das einführen in
Deutschland?
Nein. Wir brauchen etwas Neues. Alle Reformen der
Gegenwart verdienen nicht diesen Namen. Sie sind nichts als der
Flicken-Jagd-Rock eines Sam Hawkens.
An einem Stichtag wird das gegenwärtige Schulsystem abgeschafft und am gleichen Tag ein gut vorbereitetes Erziehungssystem in Kraft gesetzt. Schule wird wieder zur Schule, in der Lehrer am Bildungsgut erziehen und Schüler lernen. Schüler werden zu Werten und Grenzen geführt und erlernen das Lernen. Lehrer werden zu Lehrern erzogen und ausgebildet und nicht zu Miniwissenschaftlern. Wir brauchen einen neuen Ansatz bei der Verteilung der Verantwortlichkeiten:
1. Abschaffung
der Schulpflicht, die durch eine Bildungspflicht zu ersetzen ist.
Der Mensch hat Pflichten, das Kind muss sie einüben.
2.
Abschaffung der
Lehrpläne, die durch Erziehungsleitlinien zu ersetzen sind. Schüler und
Eltern sind der Schule rechenschaftspflichtig über die Erfüllung der Bildungspflichten;
die Schule dem Arbeitgeber Staat. Schüler, die nicht lernen wollen und stören, verlassen die Schule, da sie ihre Pflicht zur Bildung
verletzt haben, aber keiner Schulpflicht unterliegen. Eltern müssen sich kümmern, wer bereit ist,
ihre Schulstörer oder
Schulverweigerer zukünftig zu beschulen.
Ein Beispiel.
Demokratie. Jeder Schüler kennt die Entstehungsgeschichte und Funktionsweise. Der staatliche Plan legt fest, welche Endergebnisse an Wissen, Können und Erkenntnissen der Schüler am Ende der Schulzeit zu beherrschen hat als Voraussetzung für einen Schulabschluss. Alles andere regeln Lehrer und Schule, insbesondere zeitlich zusammenhängende Projekte zum Problem, Stoffauswahl und Beispiele sowie Methoden. Demokratische Praxis ist in den Schülergemeinschaften zu praktizieren und zu üben.
Und
das soll funktionieren, zum Beispiel in den Naturwissenschaften?
Ja. Zusammenhänge, Gesetze, was die Welt im Innersten zusammenhält und Anwendung, Experiment, Beispiele aus der Praxis, Leitfaden fürs Leben, dass die Deutschen ein Kulturvolk bleiben statt Quoten produzieren und diesen Mist dann konsumieren. Beispiel Physik: nicht Dampfmaschine, Turbine, Lokomotive - das ist Geschichte-, die Gesetze des Dampfes in der Schule, die praktische Anwendung je nach der Spezifik in der Berufsausbildung und in der Weiterbildung. - Ein neues Schulsystem muss eine Chance zur Freiheit sein; Freiheit aber ist Disziplin und Verantwortung für sich und Andere.
Ich
verstehe jetzt manche deiner Entscheidungen und Motive. Warum aber wurdest du
gerade Offizier? Philosophie und Religion liegen dir doch mehr als Waffen?
Aus Konsequenz. Soldat wurde ich entsprechend der Wehrpflicht, nachdem ich schon als Lehrer gearbeitet hatte, mit 25. Ich tat meinen Dienst mit Überzeugung und gut. Als sich die Zeit meiner Wehrpflicht dem Ende näherte, bekam ich 2 Angebote: Direktor einer POS.
POS?
Polytechnische Oberschule, Abschluss nach der 10. Klasse. - Also: Direktor oder Offizier. Ich blieb bei der NVA. In einem höheren Stab wurde ich befragt, warum ich Offizier werden wolle. Meine Antwort hat niemand verstanden. Es war ein Menetekel, denn ich hatte - durch das Erlebnis der Praxis - schon Zweifel: Jede Gesellschaft geht unter, wenn die Söhne der herrschenden Klasse nicht mehr bereit sind, Soldaten und Offiziere zu werden.
Erklärst du es mir bitte.
Staaten waren stark, so lange das Soldat Sein Auszeichnung und Ehre war. Aus der Geschichte wusste ich, dass zum Beispiel Rom und viele andere Reiche Söldner warben, die später dann die Macht selber nahmen und die Herrscher stellten. Und bei Tolstoi ...
Welchem?
Lew, Krieg und Frieden. - Dort also hatte ich ein Offiziersideal kennen gelernt: Der Soldat tut nichts, wird aber mit großen Ehren von der Gesellschaft gut versorgt. Dafür muss er ohne Zögern fürs Vaterland sein Leben geben. Und das bei der historischen Wahrheit, dass der Sozialismus tatsächlich für den Frieden war. Allmählich wollten unsere jungen Männer weder zur „Fahne" noch Offizier werden - siehe Zeigefinger und Daumen. Anlass meiner Empörung wurden Suizide. Ich behielt Recht - Implosion 1989/90 -, also musste ich mit Zwang zum Schweigen gebracht werden, weil mich keiner widerlegen konnte. Der „Ehrenschild" blieb rein, der Staat ging unter.
Opal und Ring sind zerbrochen.
Danke.
* * *
Sehe
ich richtig im Zwielicht, steht dort in der Ferne ein großes Kreuz?
Ja, das Weiße Kreuz. Die Fürstenfamilie hat es einst für eine tödlich verunglückte Prinzessin setzen lassen.
Wie eigentlich hältst du es mit der Religion? Deinen „Faust" hast du gut gelesen.
Also wie?
Also exakt: 1. Religion ist gut für den Menschen, dem sie hilft, sein Leben gut zu leben.
Und du? Atheist! Aber doch nicht ohne Gründe?
2. Immer wieder hat der Staat Religion missbraucht, alle Staaten alle Religionen, oft sehr, sehr übel. Dabei unterscheide ich sehr wohl zwischen Religion und Kirche. Du selbst sagtest vorhin etwas so treffend zu den Malefizmeistern. 3. Du fragtest wie Gretchen nicht nach Religion, sondern nach dem Christentum. Ich habe schon als Kind gern Legenden gelesen, aber sie nie geglaubt. Für mich waren Fakten und die Ideengeschichte wichtig für die Entwicklung meiner Weltanschauung. Ich frage: Gab es je ein Christentum?
Na nu!
Schon der Herrenbruder Jacobus und Petrus, Stefanos und Paulus konnten sich nicht einigen wie seit 2000 Jahren die christlichen Kirchen, wer und was ihr Gott ist: Schöpfer oder Geschöpf. Entgegen dem Gesetz der Liebe und Vergebung rotteten sie sich gegenseitig aus mit den grausamsten Methoden. Von den theologischen Begründungen der Gegensätze der einzelnen christlichen Konfessionen hast du sicher weder in Geschichte, Religion, Ethik oder Philosophie etwas gelernt.
Also Kurzlektion.
Gut. 325 befahl der Kaiser das Nicaenum1, die Wesensgleichheit zwischen Vater und Sohn. Das 1. Dogma war geschaffen: Man musste glauben, was befohlen worden war.
Arianer2 wurden gelyncht. Das Filioque3 führte endgültig zum großen Schisma4. Es ist die Konsequenz aus dem Nicaenum, der Wesensgleichheit: Der Heilige Geist geht von Vater und Sohn aus.
Uff.
Es kommt noch mehr. Mono- und Dyophysiten5 können sich bis heute nicht einigen, ob Jesus Gott und Mensch oder nur Gott war. Rechtfertigungsstreit, Prädestination6, Nachfolge Christi und der Apostel, Investitur7- Eucharistie8- und Laienkelchstreit9 und, und, und - nur Streit. Was ist wahr, was glaubwürdig? Was katholisch, was ökumenisch?
Es reicht. Ich schweige. Noch reicht mein Wissen trotz 1,1 nicht aus für alle deine Antworten.
Macht doch nichts, mein Töchterchen. Keine Schule kann alles lehren. Aber jede Schule sollte schon Fragen aufwerfen, über die der Mensch ein Leben lang nachdenken kann, und den jungen Menschen befähigen, selbst und selbständig Antworten zu finden.
Was mich schon seit Jahren am meisten bewegt als sozialisierter und sozial denkender Mensch ist die Beziehung zwischen dem Ich und Wir, zwischen Individuum und Gesellschaft.
Du bist wie ich: Findest kein Ende beim Fragen. Deshalb empfehle ich für heute: Es war genug, wir wollen noch zur Schmerle. Denn es wäre viel Theorie und wenig Praktisches.
Bitte
doch, vielleicht holzschnittartig kurz. Als Impuls zum Weiterdenken.
Was schuf Größe, Stabilität, Reichtum und Akzeptanz im Ägypten der Pharaonen? Die Organisierung der vielen Einzelnen als Gemeinschaft zur Nutzung der widersprüchlichen Natur, zu viel oder zu wenig Wasser und Sonne ins rechte Maß zu bringen.
Anerkannt.
Was erkennt Faust in seinen letzten Worten als Lösung? Gemeindrang eilt - ein tüchtig Jahr von Kindheit, Mann und Greis - die Lücke zu schließen, was ein freies Volk auf freiem Grund schaffen wird.
Anerkannt.
Nun die Alten, die Philosophen. Platon und Aristoteles lehrten, dass die Polis nur dann gut funktionieren wird, wenn der Polites sich von der Idee des Guten und Gerechten leiten lasse. Von Sokrates lernen wir, dass das Gemeinwohl das oberste Prinzip des persönlichen und gesellschaftlichen Verhaltens sein soll. Der Machthaber - so Platon - darf nicht für eine Kaste (genos), sondern für das ganze Volk regieren. Die hässlichste Deformation des Staates liegt nach Cicero dort vor, wo die Reichen als die Besten gelten. Der Anfang der moralischen Erziehung muss also die Gründung eines Charakters sein.
Es reicht. War das eben Gröger?
Nein. Kant. Zum Abschluss: Was hilft uns beiden am meisten? Nicht das Du oder das Ich. Immer nur: Wir.
Steigen wir zunächst vom Baum. - Ich will dir etwas versprechen: Einst werde ich meinen Kindern an dieser Eiche erzählen, dass ihr Opa, mein Papa, als er in ihrem Alter war, Eisen in diesen Baum geschlagen hat, so Zeichen setzend für Veränderung und Bleibendes. Ich werde sagen, Opa war bei einem Versuch dabei, die Welt zu verbessern.
Sage deinen Kindern, dass wir dabei viele Fehler machten, dass Viele die ursprünglichen Ideale verrieten, so dass der Versuch zu Recht scheiterte. Sucht neue Ansätze und Wege, lernt aus unseren Fehlern und macht es besser. Theorie ohne Praxis ist tot, Praxis aber ohne Theorie ist blind. Macht etwas für die Jesus-Idee der Schwachen, wofür ihn die Mächtigen aller Zeiten, seine, deine, unsere Gegner, auch die deiner Kinder, zu Tode marterten. Der Maßstab darf nicht der Gewinn sein, sondern der Mensch, auf dass jeder glücklich wird.
Ich werde so zu deinen Enkeln sprechen.
Die Eiche wird mit meinen Eisen noch leben und mehr sein als nur ein Baum: ein Stück Geschichte. Und wenn dann deine Kinder ins Geäst steigen mittels meiner Steighilfen, dann zeige ihnen die Schönheit der Heimat und des Friedens.
Und
des Menschen.
Erkläre ihnen meine Kindheit und deine Erfahrungen.
Und
deine Hand.
Danke.
Ich kann wieder weinen.
Horst Gröger mit Enkelin Jessica (1996) |
III
Horst Gröger mit Enkelin
Das also ist deine Schmerle. Warum eigentlich erhält dieses Gras an dieser Stelle so häufig Erwähnung in deinem Erzählen?
Dieses Sonnen durchglühte Fleckchen trockenen Grases mitten im Wald - das war das Zentrum meines Kinderlebens.
Erkläre
bitte.
Hier träumte ich mein Glück.
Ich verstehe immer noch nicht.
Hier, mein Kind, wurdest du meine Athene, aus meinem Kopf geboren. Es zog mich hierher. Als Kind träumte ich mein Kind, das so glücklich sein sollte, wie ich mich so oft unglücklich fühlte. Immer solltest du satt sein, ohne Kühe hüten zu müssen, Kerzenschein sollte zum Träumen sein und nicht Beleuchtungsersatz, streiten wollte ich um Überzeugungen statt des Zanks ums Brot, und keine Mutter sollte veranlasst sein, Zucker- gegen Brotkarten einzutauschen.
Wolltest du ein Mädchen oder einen Jungen? Von einem Kind träumte ich.
Nun, hier bin ich, liege neben dir. Jetzt träumen wir zurück in eine Kinder-Märchen-Welt. Ich bin eine Fee und du hast 3 Wünsche frei. Sprich.
Ich wünsche mir zuallererst, dass ich zu dir, meiner Jüngsten, stets ein so gutes Verhältnis habe wie zu meiner Ältesten.
Das wünsche ich mir auch.
Zweitens wünsche ich mir einen langen Gedankenaustausch mit den historischen Persönlichkeiten, die Religionen begründeten, mit Buddha, mit Paulus und mit Mohamed; mit der Ernstthaler Großmutter von Karl May; mit General Patten.
Du mogelst, das allein sind 3-5 Wünsche.
Dein Einwand ist nicht feen-, mein Wunsch aber märchenhaft. - Deshalb wünsche ich mir zum Letzten, dass das Boxen verboten wird.
Das bedarf der Erklärung.
Ein Zeichen, mein Töchterchen, ein Fanal. Ziel des Boxens ist es, einen Menschen zu schlagen; das Ideal gar - der K.o. - beraubt den Menschen seines Menschseins, seines Bewusstseins. Es ist nicht das Ringen des Menschen gegen sich, gegen das Dunkle und Böse in uns, sondern der Kampf gegen seinen Bruder, ein Symbol einer sinnentleerten Welt, und das alles für Geld vor grölenden Fanatikern in der Arena. Wofür eigentlich wurde der Mönch Telemachos10 404 vom Mob erschlagen? Wir haben unermesslichen Reichtum und ungeheure Machtpotenziale geschaffen. Aber wo ist der Mensch noch seines Bruders Hüter? Wieder (oder immer noch?) Brot und Spiele statt sinnstiftender Arbeit, Krösus mit 20 als Lebensziel statt „Tages Arbeit, abends Gäste, saure Wochen, frohe Feste". Ein 2. Honorius11 könnte dem Martyrium des Telemachos den alten Sinn ein 2. Mal verschaffen und auch dem Jesuiten Friedrich Spee12 von Langenfeld ein Denkmal und das Zeichen setzen: Unmoralisches ist verboten.
Und dann?
Dann beginnt die menschliche Periode der Menschheit: Aus allen Zeiten aller Völker, aus allen Kulturen, allen Ideen machen Menschen eine Moral, eine Weltethik, den allgemeinen Maßstab für alle Menschen und für die Menschheit, für alle Gruppen, für alle Gesellschaften, für alle Staaten. Die Prämisse wird nicht mehr gebieten „Macht euch die Erde Untertan!" denn das Untertan Machen durch die Starken fuhrt immer dazu, dass die Schwachen Untertanen werden.
Und wenn nicht? Apokalypse.
Ein Traum der Feen-Märchen-Kinder-Welt: Der Mensch wird gut.
Und
sie gingen und hielten sich an den Händen wie zwei glückliche Kinder. Sie
hatten sich wieder gefunden in der
Vergangenheit, die Zukunft heißt.
1 Auf dem 1. ökumenischen Konzil von Nizaa (Nicaea) 325 unter Kaiser Konstantin verabschiedetes Bekenntnis zur „Wesengleichheit" von Vater und Sohn.
2 Der Presbyter Arius (geb ~260 in Libyen, gest. 336 in Konstantinopel) arbeitete die Lehre aus, Gott habe lange Zeit allein existiert und Christus sei ein durch göttlichen Willen aus dem Nichts geschaffenes Geschöpf. Aufgrund bestandener sittlicher Prüfung habe ihm Gott aber die Würde seines Sohnes verliehen.
3 Lateinisch „und Sohn" - bezeichnet die Auffassung, dass der Geist Gottes nicht nur vom Vater, sondern auch vom Sohn (Christus) ausgeht
4 Spaltung
5 Lehre von der einen bzw. den zwei Naturen Christi, der göttlichen und menschlichen.
6 lateinisch: „Vorherbestimmung" bezeichnet die Auffassung, dass das Schicksal eines Menschen von Gott vorherbestimmt ist.
7 Investiturstreit zwischen Papsttum und europäischem Königtum um das Recht, Bischöfe einsetzen zu können, endend mit dem Canossagang König Heinrichs IV.
8 Abendmahl als drittes Sakrament neben Taufe und Firmung
9 Darreichung des Abendmahlweines nicht nur an die Kleriker, sondern auch an die Laien beiderlei Geschlechts.
10 Telemachos, Märtyrer, Heiliger,gest. um 400, - nach einer (umstrittenen) Überlieferung ein griechischer Mönch, der in Rom von der aufgebrachten Menge gesteinigt wurde, als er in der Arena gegen die Gladiatorenspiele predigte.
11 Honorius, römischer Kaiser, 384-423, verbot die Gladiatorenspiele nach der Tat des Telemachos.
12 Friedrich Spee von Langenfeld, 1591-1635, Jesuit; mit der Schrift „Cautio criminalis" (1631, deutsch erst 1939') - Kampf gegen den Hexenwahn, gegen Folter im Hexenprozess.
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