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Klaus Eichler

Reiseträume

Ferien, Urlaub, Reisen - wohlklingende Worte, verbunden mit der Freude auf Entspannung, der Sehnsucht nach der Ferne, der Chance, dem Alltag zu entfliehen. Waren es einst die Eindrücke der arbeitsuchenden Wanderburschen oder die faszinierenden Indianergeschichten von Karl May, die die Neugier auf die Welt schufen, sind es heute das Fernsehen, die schier unübersehbaren Reiseangebote der farbenprächtigen Kataloge mit den Offerten der Reiseveranstalter und natürlich wiederum die Reiseerlebnisse von Freunden, Kollegen und Nachbarn.

Der Traum vom Reisen war und ist zugleich immer gesellschaftlich determiniert. Millionen junge Deutsche haben im vergangenen Jahrhundert ihre erste Auslandsreise mit dem Leben bezahlt. Sie endeten auf den Schlachtfeldern des Ersten und Zweiten Weltkrieges. Waren viele von ihnen noch freiwillig gegangen, mussten danach Millionen ihre Heimat zwangsweise verlassen, nachdem das Weltmachtstreben des deutschen Imperialismus sein desaströses Ende fand.

 

Noch mitten in den Trümmern des Dritten Reiches entstanden neue Träume - die einer grundlegend anderen gesellschaftlichen Ordnung. Arbeit, Brot und Völkerfrieden, das ist unsere Welt!

Von Beginn an verband die besonders zur Ader gelassene Jugend die Forderung nach dem Recht auf Arbeit mit dem auf Erholung (Grundrechte der jungen Generation, I. Parlament der FDJ 1946 in Brandenburg). Gleich mit der Gründung der DDR wurde das Recht auf Erholung, auf jährlichen Urlaub gegen Entgelt, Verfassungsrecht (Artikel 16).

Die Bedingungen fürs Reisen verbesserten sich Schritt für Schritt.

-   Einkommen und Wohlstand wuchsen beständig. Die materielle Basis wurde nach Maßgabe der Kräfte erweitert und vervollkommnet. Zudem hatten auf Grund der Preise alle Zugang zu den Ferienangeboten. Die FDGB-Ferienreise kostete pro Tag 5 Mark, für Kinder 2 Mark. Kinderferienlagerplätze pro Tag 1 Mark. Die Übernachtung in den Jugendherbergen für Schüler, Studenten und Lehrlinge 25 Pfennige.

Das war auch Teil des sprichwörtlichen zweiten Portemonnaies der DDR-Bürger. Mehr noch, denn die Finanzierung des Gewerkschaftsurlaubs erfolgte nur zu einem Drittel durch die Urlauber. Sie bezahlten damit im Wesentlichen die Verpflegung. Das zweite Drittel (Nutzung der Hotels, Kultur und Sport) bestritt der FDGB. Das letzte Drittel steuerten der Staat und die volkseigenen Betriebe für die Investitionen bei.

 

-     Die Arbeitszeit reduzierte sich erheblich, die Freizeit und die Zahl der Urlaubstage nahmen in den 60er und 70er Jahren zu. Das hatte eine starke Stimulanz für den Urlaub, vor allem auch für Spaß, Freude und Kommunikation bei den Freizeiterlebnissen „zwischendurch", den Brigadefahrten, Theaterreisen, Sportfesten usw. Natürlich profitierte besonders die Naherholung. Dem Hobby frönen, unkonventionell Sport treiben, Freunde treffen ging am allerbesten auf der Datsche.

-     Mobilität und Verkehr entwickelten sich, wenngleich die Wünsche und Erwartungen meist den Gegebenheiten voraus waren. Tatsache bleibt, dass jeder sein Urlaubsziel erreichte - mit minimalem Aufwand! Der 8-Pfennig-km-Preis der Reichsbahn wurde zur An- und Abreise zum FDGB-Ferienheim noch einmal ermäßigt, für die Kinder und Jugendlichen sowieso.

Die Haupterholungsträger, der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund, die Freie Deutsche Jugend, die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe, der Kulturbund haben Urlaub und Erholung nach Kräften gefördert. Parteien und zentrale Staatsorgane hatten eigene Erholungsheime. Sportler reisten ohnehin unentwegt in Trainingslager und zu Wettkämpfen.

Wer keinen FDGB-Ferienurlaub bzw. Betriebsferienscheck ergattert hatte oder mit der Jugendtourist-Reise noch nicht wieder dran war ..., landete bei den Zeltern aus Passion auf den Campingplätzen an der Ostsee, am Balaton oder legte auf der Datsche eine Pause ein.

85 Prozent der DDR-Bürger hatten in den 80er Jahren eine Urlaubsreise. Die DDR-Bürger waren Reiseweltmeister! Ohne endlose Statistiken zu bemühen: der FDGB hatte allein im Bezirk Rostock 168 842 eigene Betten - mehr als der weltgrößte Tourismuskonzern TUI heute in den Hauptzielgebieten Europas, Nordafrikas, Sudostasiens und der Karibik! 100 000 Camper konnten zugleich an der 370 km langen Ostsee-Küste den Urlaub mit dem Zelt genießen.

Trotzdem wurde das Thema Reisen eine zentrale Forderung der politischen Wende 1989/90 in der DDR. Es waren wiederum die gesellschaftlichen Verhältnisse, an denen Reisetraume scheiterten. Mit der Nichtanerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft durch die BRD war die permanente politische Steilvorlage für die auf die sozialistischen Länder verengte Reisegeografie der DDR-Bürger gegeben, die ständige Devisenknappheit tat das übrige. Daran änderten weder die vom Reisebüro der DDR organisierten Finnland-Reisen und das 1985 in Dienst gestellte Traumschiff („Arkona") genauso wenig wie die Tatsache, dass Jugendtourist Gruppenreisen in insgesamt 36 Länder realisierte.

Mit der am 9. November 1989 ausgelösten Erklärung zu Privatreisen nach dem Ausland ohne Vorliegen von Voraussetzungen waren Grenzen beseitigt. Reiseträume wurden so unvermittelt greifbar, dass das Wort „Wahnsinn" zur Hauptvokabel dieser Zeit wurde. So verständlich das Streben nach Öffnung der Gesellschaft war - ahnten schon alle, welcher Wahnsinn sie treffen wurde? Einen Reiseboom gab es allemal, erst um das Begrüßungsgeld abzuholen und die staunende Verwandtschaft im Westen zu besuchen, dann auch nach Mallorca und in die ganze Welt. Für Hunderttausende ist eine wenig erstrebenswerte Inlandsreiseaktivitat entstanden. Sie pendeln wöchentlich oder gar täglich aus ihren „industriebereinigten" Wohnorten in den Westen, um ihren Familien den Lebensunterhalt zu sichern.

„Visafrei nach Hawaii" stand auf einem Schild in der Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz. Was ist daraus geworden? Auf Hawaii waren die Wenigsten. Nachdem viele gemerkt haben, dass die Sonne in Spanien so scheint wie in Bulgarien, hat die Schwarzmeerküste wieder volle Häuser. Den Kurreisenden aus den neuen Bundesländern liegt Karlovy Vary sowieso naher als Baden-Baden. Das war zu erwarten.

Aber das Hauptproblem ist, 2003 haben nach Erhebungen des Leipziger Instituts für empirische Forschung (LEIF) nur 73 Prozent der Ostdeutschen eine Urlaubsreise unternommen. Ist die Reiselust dem Reisefrust gewichen? Nein, es sind wiederum die gesellschaftlichen Verhältnisse, die über die Reiseintensität entscheiden. Die Ausgrenzung der Arbeitslosen ist offensichtlich, die soziale Unsicherheit allgegenwärtig. Selbst bei den reisefreudigen Senioren nicht nur ob der Senkung der Rentenbezüge und höheren Belastung beim Arztbesuch oder in der Apotheke, sondern vor allem mit dem sorgenvollen Blick auf den Arbeitsplatz der Kinder und Enkel.

Wenn gesellschaftliche Verhältnisse den Ausschlag für Reiseintensität, für Urlaub und Erholung, für sinnvolle, spannende Ferien der Kinder und Jugendlichen geben, dann erhebt sich die Frage, was für Spuren der DDR auf Reisewegen von heute verfolgt werden können. Der Staat wird sich kaum „in die Spur setzen", die Konzernmanager werden die Profitmaximierung nicht mit Ferienheimen belasten. Brauchen sie auch nicht, es gibt ja eine starke materielle Basis an Urlauberbetten, Flugsitzen, Kultur- und Sport-„Events" ohne Ende, die die Nachfrage bereits übersteigen. Es wird also eher die „weichen" Faktoren betreffen, die Erholung und Urlaub mit Osterfahrung bereichern.

 

Zuerst sind es wohl die Reiseträume, die Erwartungen, die sich mit der schönsten Zeit des Jahres ohne Stress und Hektik verbinden. Noch einmal aus der LEIF-Studie: Bei der Auswahl der Reiseziele überwiegt bei den Ostdeutschen deutlich das Interesse am Sehen und Erleben der Natur, von Land und Leuten, an sozialen Kontakten mit Gastgebern. Bei den Westdeutschen sind es mehr solche Genüsse wie Essen und Trinken. Das hatte dem Autor der tunesische Minister für Tourismus am Rande der Jahreskonferenz des Deutschen Reisebüroverbandes 1995 in Tunis bereits gesagt. Westdeutsche Konferenzteilnehmer suchten die Begründung im Reisedefizit der Ostdeutschen. Das kann es nicht sein, zumal sich das Reiseverhalten zwischen Ost und West ausgeglichen hat. Nein, es ist die Erziehung, die aus der Achtung vor dem Anderen das Interesse am Anderssein erwachsen lasst. Beleg dafür sind die Reisen des Berliner Veranstalters „Touristik und Kontakt International" mit Diplomaten in verschiedene Länder, die das Anliegen auf besondere Weise erschließen. Die Resonanz ist seit Jahren entsprechend.

Mit der Programmvorstellung 2004 hat der führende Studienreiseveranstalter „Studiosus" München bemerkenswerte Erkenntnisse offeriert: Es gehe weniger um Sun und Fun und schon gar nicht um Trümmertouren „auf denen gerne ignoriert wurde, was das heile Weltbild einer saturierten Gesellschaft störte". Vielmehr sollen es weltoffene Veranstaltungen sein, die die Probleme des Gastlandes nicht mehr ausblenden; im Mittelpunkt der Reisen stehen neben historischen Relikten die Begegnungen mit dem Land und seinen Menschen in ihren sozialen Verhältnissen. Beachtlich! Natürlich betrifft das eher den gehobenen Kreis der Studiosus-Reisegaste, aber immerhin!

Besondere Aufmerksamkeit richtet sich auf das Programm von Kinder- und Jugendreisen. Hartnäckig sollte die Erfahrung verteidigt werden, jede sich bietende Gelegenheit für die Ausprägung des Geschichtsbewusstseins zu nutzen. Die Achtung vor der Leistung vorangegangener Generationen (technische Denkmale, Zeugnisse des antifaschistischen Widerstandes, Museen) können genauso gefordert werden wie der sorgsame Umgang mit der Natur.

Mobilisierende, lustige Spiele, sportliche Wettbewerbe, Strandfeste schaffen nicht nur bleibende Erinnerungen, sondern sind vor allem Anregung zur Organisation der eigenen Freizeitaufenthalte in den Ferien. Dass die übergroße Mehrheit der Eltern auch so denkt, offenbart die harsche Kritik an den Geschäftsgebaren eines Jugendreiseveranstalters, der seine jungen Klienten an die spanische Costa Brava karrte und nach 14 Tagen wieder einsammelte. Die zuweilen hoch gelobte Selbstverwirklichung reduzierte sich in diesen Strandferien auf den Wechsel von exzessiven Partys und „abhängen". Natürlich wird auch künftig jeder seinen Urlaub, die Ferien, nach seiner Fasson richten. Aber auch dazu braucht es einen guten Schnitt.

Wohin die Reise geht ist nicht minder spannend. Die Träume sind erfüllt, jetzt wird selektiv vorgegangen. Und manchmal ganz pragmatisch: der günstige Dollarkurs favorisiert bei den Fernreisen die USA (bevor die Einreise mit kriminaltechnischen Mitteln flankiert wird), die Karibik und Südostasien. Zugleich haben (wenn auch noch auf niedrigerem Niveau) Bulgarien, Rumänien und Russland die höchsten Buchungszuwächse. Vor allem durch die Westdeutschen. Die für die DDR-Bürger zugänglichen Zielgebiete II. Klasse gewinnen an Interesse.

Insgesamt wird wieder eher kurzer und preisbewusster verreist. Das fordert den Tourismus im Reiseland Deutschland, die Freizeitszene zu Hause ist für viele eine Alternative zur Urlaubsreise. Auto, Hobby und Sport, Kulturangebote, exotische Restaurants und tropische Badelandschaften schaffen ernsthafte Konkurrenz zum Urlaub. Der Traum vom Meeresrauschen bleibt. Dazu die Erinnerung an unseren Meeresstrand. Die neuen Preise an der mecklenburgischen Ostseeküste sind natürlich eine hohe Hürde. Vieles wurde ja auch auf Vier- und Fünf-Sterne-Niveau gebracht. Das ist ein Gewinn. Auf der Verliererseite stehen die, die sich das nicht leisten können oder wollen. Denn schon gibt es Restriktionen, die Nobelgäste vor denen schützen sollen, die nur mit einem Badehandtuch kommen und einen Sonnenplatz am Strand suchen. Das richtet sich nicht nur gegen das Urlaubsinteresse der traditionellen Feriengäste, sondern ist auch kaum zur Veränderung der katastrophalen Beschäftigungssituation in Mecklenburg-Vorpommern geeignet.

Gerade hat der Deutsche Tourismusverband Mecklenburg-Vorpommern als Spitzenreiter der Länder mit Steigerungsraten bei den Übernachtungen gewürdigt. Dort hätten die Vermieter der Unterkünfte sehr früh verstanden, eine Vielzahl von Freizeit -und Kultur-Veranstaltungen anzubieten. Den Charme auf Rügen beispielsweise mache das breite Angebot von Camping - bei 5-Sterne-Urlaub aus, heißt es in der Erklärung des DTV. Der Tourismus von Ostsee bis Erzgebirge bestimme dank des Ausbaus der Infrastruktur mittlerweile die Trends des deutschen Tourismus und profitiert von seiner Qualitätsoffensive für Familien. Das ist wahrlich eine originäre Spur der DDR! Der DTV macht noch etwas aus: „Wenn die Kinder mit ihrem Urlaub glücklich und zufrieden sind, kehren sie später als Erwachsene immer wieder zurück." Na also!

Auch deshalb richteten wir besondere Aufmerksamkeit in der DDR auf die Reiseziele der Kinder und Jugendlichen. Die schönsten Plätze, die das Land hatte, waren gewählt. Ganze Generationen erinnern sich gern an Prerow, Werbellinsee, Bad Saarow und all die Ferienorte mit einem zentralen Pionierlager, Jugendherbergen und Jugendtouristikhotels. Auch heute reisen die meisten Berliner Klassen vor allem in das schöne Umland und an die Ostsee.

Das hat auch Wirkung auf die alten Bundesländer. Die „Stuttgarter Zeitung" setzte sich mit Tendenzen auseinander, die einen eklatanten Verstoß gegen die Gleichheit der Bildungschancen darstellen. Anlass war die immer mehr ausufernde Reisegeografie der Klassenfahrten. Nach einer Stichprobe führte die Entfernteste nach Bangkok! „Die olympisch anmutende Regel von weiter - teurer - länger entspricht weder dem Geldbeutel von Eltern, noch dem Sinn von Reisen, noch dem Bildungsauftrag von Schulen", wird eine Mutter zitiert. Der Autor wandte sich an die jetzt als Kandidatin für das Bundespräsidentenamt ins Gespräch gebrachte Bildungsministerin von Baden-Württemberg, Dr. Schavan, mit Vorschlägen für Reisen nach Berlin, Dresden und Weimar, zur Insel Rügen. Mit dem Verweis auf die Entscheidungen der Lehrer, Eltern und Rektoren gab die Antwort zumindest zu erkennen, dass künftig Empfehlungen für die neuen Länder gegeben werden sollen.

Manches in der DDR Bewährte wirkt gleich, anderes stößt auf Ablehnung und Widerspruch. Oder nur auf Kopfschütteln. Zunächst. FKK passte wohl der nach Außen zugeknöpften BRD-Gesellschaft nicht so richtig. Inzwischen gibt es Scharen von Nackedeis, die sich wo immer es geht an den Stränden tummeln. Die Zeltplätze können sich nicht über Nachfrage beklagen. Die Datsche mit ihrem unerschöpflichen Potential an kreativem Bauen, Gärtnern, Züchten, Feiern erlebt die Renaissance. Hoffentlich bleibt das Erlebnis kameradschaftlicher Nachbarschaft und gegenseitiger Hilfe. Wir sind früher gut ohne den Streit über die Höhe der Hecke, den Gebrauch des Rasenmähers oder das Bellen von Nachbars Hund ausgekommen!

Was von der DDR bleibt, ist die Unbeschwertheit von Urlaub und Reisen - bei allen Unzulänglichkeiten! Alle konnten verreisen - wenn auch nicht überall hin. Das lebt in der Erinnerung und prägt den Stil von Freizeit und Erholung. So war und bleibt die DDR ein Gegenentwurf, auch auf dem scheinbar so gravierend schöneren und größeren Feld des Reisens. Bei allem was wir an der neuen Reisefreiheit, an den Traumzielen Paris und Venedig, Südafrika und Bali gewonnen haben, sei an Peter Hacks erinnert: „worauf es doch ankommt, ist, beim Lauf nach dem Glück nicht das Gute, das man schon hat oder hatte, aus dem Korb zu verlieren".


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