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Ines-Petra Scheibe

 Eine Erfolgsgeschichte 

Im Januar 2002 feierten wir, die Mitglieder des Vereins „Betreuung arbeitsloser Leute und Lebenshilfe“ (BALL e. V.), den 10. Jahrestag der Vereinsgründung - Anlass für Erinnerung an die Anfänge und für Vorausschau.

Unsere Geschichte begann im Februar 1991. Ein halbes Dutzend in Folge des Anschlusses an die BRD arbeitslos gewordene Frauen fanden sich in einem ABM-Projekt der „Zukunftswerkstatt Arbeit und Bildung gGmbH“ in Berlin-Hohenschönhausen zusammen. Die „Zukunftswerkstatt“, ein Träger von Weiterbildungs- und Arbeitsfördermaßnahmen aus Bochum, hatte sich sogleich ins „Beitrittsgebiet“ ausgedehnt und als freier Träger auch in Berlin Weiterbildungsangebote und ABM initiiert.

Für uns alle ein großes Glück.

Ziel unseres zweijährigen ABM-Projektes war der Aufbau und das Betreiben eines Arbeitslosencafés im Nordosten von Berlin als Treffpunkt für Arbeitslose mit Beratung zum Arbeitsförderrecht und zu psycho-sozialen Problemen. Ich wurde als Projektleiterin eingestellt - eine promovierte Psychologin hielt man offenbar dazu für geeignet. Mit der Abwicklung der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR im Dezember 1990 war ich in den „Wartestand“ geraten.

Mit 35 Jahren meine erste Erfahrung mit der Arbeitslosigkeit und allen damit verbundenen Ängsten. Nach schlaflosen Nächten zum Jahreswechsel 1990/1991 habe mich schnell und energisch um Arbeit bemüht. Ich hatte allein für zwei schulpflichtige Kinder zu sorgen, und ich konnte mir ein Leben ohne berufliche Arbeit nicht vorstellen. Ähnlich dachten auch die anderen fünf Frauen unseres ABM-Teams Anne rose, alleinerziehende Mutter einer gerade eingeschulten Tochter, Ökonomin, Margot und Waltraud, beide Lehrerinnen von Beruf sowie Susanna und Regina, beide gelernte Serviererinnen. Diese Mischung war sinnvoll, da wir in unserem ABM-Projekt gastronomische Versorgung und Beratungsangebote verbinden sollten. Wir sechs Frauen waren uns von Beginn an einig, wir stellen uns dieser für uns alle neuen Anforderung und wollen beste Arbeit leisten. Jede brachte ihre Erfahrungen und Stärken ein.

Wir alle hatten die gleiche, für uns völlig neue und deprimierende Erfahrung gemacht, dass unser bisheriges Wissen und unsere Leistungsbereitschaft plötzlich nicht mehr gefragt waren.

Nun, in ABM, wollten wir anderen helfen, sich unter veränderten Bedingengen neu zu orientieren und dies hieß natürlich auch, dass wir unsere Arbeit als Chance für einen beruflichen Neubeginn für uns selbst begriffen. Wir mussten uns in kürzester Zeit umfassende Kenntnisse der rechtlichen Regelungen für Arbeitslose aneignen, geeignete Räume für das Projekt suchen, das Projekt inhaltlich untersetzen und es bekannt machen.

In unseren Vorstellungen um die persönliche berufliche Perspektive spielten - mehr oder weniger deutlich artikuliert - folgende Gedanken die Hauptrolle: Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit im sozialen Bereich und berufliche Neuorientierung mit Selbstbehauptung.

Ich weiß nicht mehr, wer zuerst den Gedanken äußerte, wir müssen uns selbst unsere Arbeitsplätze schaffen. Die Ideen in unseren Köpfen waren zunächst verschwommen, teils mit Skepsis behaftet. In Diskussionen und Gesprächen wurden sie zunehmend klarer und mit großen Hoffnungen verbunden.

Wir waren überzeugt von der Sinnhaftigkeit unserer ABM, und da war es naheliegend, etwa Ähnliches zu projektieren wie die Aufgabe, die uns zusammengeführt hatte: Hilfe für Benachteiligte zu leisten. Das war ein gemeinsamer Nenner für unser im Grunde zufällig zusammengewürfeltes Team. Dann konnten wir Befriedigung finden und wir trauten es uns zu. Außerdem war die Situation nicht ungünstig für ein solches Vorhaben. Unter dem Druck der Massenarbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern wurden reichlich Mittel für Arbeitsförderung bereitgestellt, es gab aber im Osten noch kaum geeignete Träger, um mit diesem Geld Maßnahmen der Arbeitsförderung zu verwirklichen.

So wie die Vorstellungen nach und nach konkreter wurden, zeichnete sich auch ab, dass Regina eine andere Arbeit fand, doch wir anderen fünf wollten uns der Aufgabe stellen, neben der Arbeitslosenberatung für uns selbst eine berufliche Perspektive zu entwickeln.

Hinzu kamen zwei Neue, die ab Anfang 1992 unser Projekt verstärkten: Gudrun, Sekretärin, die 1990/91 im Personalbüro einer Firma Kenntnisse und Erfahrungen im Arbeitsrecht und Personalwesen erworben hatte, und Ewald, der Rechtskenntnisse einbrachte sowie eine sich oft als wertvoll erweisende Akribie.

Außerdem war Ende 1991 ein Praktikant zu uns gestoßen, der sich für unser Vorhaben als Glücksfall erwies. Er befand sich in einer Ausbildung zum Sozialberater und hatte den Wunsch, sein Praktikum in unserem Projekt zu absolvieren. Lothar kam aus der Kohleindustrie der DDR, hatte in der UdSSR an der Drushba-Trasse gearbeitet und das DDR-Ende als hauptamtlicher Parteisekretär erlebt. Ein Tatmensch voller Initiative, und offenbar gewillt zu zeigen, dass „SED-Funktionär“ nicht identisch war mit dem Bild, das neuerlich in der Öffentlichkeit verbreitet wurde. Er war es, der unsere Intentionen griffig formulierte. Wir helfen uns, indem wir anderen helfen.

Nachdem wir uns grundsätzlich auf das gemeinsame Vorhaben geeinigt hatten, waren jede Menge praktische Fragen zu klären: Welche Rechtsform ist zweckmäßig? Wie kommen wir zu Räumlichkeiten? Wie ist der Beginn finanziell zu bewältigen? Bei wem können wir Unterstützung mit Rat und Tat finden?

Glücklicher Umstand für uns die neue Geschaftsführerin der „Zukunftswerkstatt“ Astrid M förderte unser Vorhaben. Mit ihren Vorgängern war es schwieriger gewesen. Nach anfänglicher Unterstützung sahen sie sich durch Konkurrenz bedroht, als wir unseren Plan zu verwirklichen begannen. Astrid verhielt sich anders. Sie hatte schnell gemerkt, dass wir unsere Arbeitsaufgaben ernst nahmen. Wir hatten Beratungsstellen in Hohenschönhausen in der Wustrower Straße und in Marzahn im Murtzaner Ring aufgebaut und berieten dort regelmäßig Arbeitslose und andere Hilfesuchende und wir arbeiteten in regionalen und berlinweiten Vernetzungen von freien Trägern mit. Unsere Arbeit war anerkannt.

Sie wusste, dass wir unsere „Existenzgründung“ nicht auf ihre Kosten betrieben.

Wir betrachten die „Zukunftswerkstatt“ als unseren Geburtshelfer. In ihrem Projekt haben wir uns nicht nur zusammengefunden und erste Erfahrungen in der sozialen Arbeit unter den für uns neuen gesellschaftlichen Bedingungen gesammelt, sondern auch in der Praxis studieren können, wie eine solche für uns neue Struktur organisiert ist und funktioniert. In der Weiterbildung, die Teil unserer Beschäftigung in der ABM war, erwarben wir Basiswissen über gemeinnützige Arbeit im gegebenen wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmen.

Als aufgeschlossen und hilfreich erwiesen sich auch Angestellte des Arbeitsamtes und von Servicegesellschaften des Senats, speziell der Gesellschaft für soziale Unternehmensberatung GSUB, die öffentliche Mittel für Arbeitsförderung treuhändlerisch zu verwalten hatten. Mit ihnen war vor allem zu klären, welche Anforderungen zu erfüllen waren, damit einer Neugründung durch uns Gelder aus den Mitteln für die Arbeitsförderung bewilligt werden konnten.

Im Januar 1992 war es so weit: Wir gründeten unseren Verein mit der guten Hoffnung, dass er als Träger von Projekten der Arbeitsförderung im sozialen Bereich lebensfähig sein würde. Acht Gründungsmitglieder versammelten sich am 21. Januar 92, diskutierten die von mir formulierte Satzung und gaben dem Verein den Namen „Betreuung arbeitsloser Leute und Lebenshilfe (BALL)“.

Als schwierig erwies sich die Wahl des Vorstandes. Wir wussten inzwischen, dass Vorstandsmitglieder nicht quasi im eigenen Verein angestellt sein dürfen. Sich wählen zu lassen und damit mehr Arbeit und Verantwortung zu übernehmen bedeutete also, für sich selbst die Chance auf einen Arbeitsplatz bei diesem Verein zumindest in Frage zu stellen. Ich hatte die Hoffnung, auch anderswo Arbeit zu finden und erklärte mich bereit, den Vorsitz zu übernehmen. Daraufhin kandidierte Lothar, der am meisten darauf gedrängt hatte, dass wir vom Reden zum Handeln übergingen, als Stellvertreter und Ewald, der noch fast zwei Jahre ABM vor sich hatte, als Schatzmeister. So wurde der erste BALL-Vorstand gewählt.

Die Geschäftsführung übernahm - zunächst ehrenamtlich - Annerose. Im Mai erfolgte die Eintragung in das Vereinsregister; im Juni erhielten wir die vorläufige Zuerkennung der Gemeinnützigkeit. Als Zwecke des Vereins bestimmten wir in der Satzung, Menschen bei der Bewältigung der vielfältigen mit Arbeitslosigkeit verbundenen Probleme zu unterstützen, der Gefahr der Verunsicherung, Vereinsamung und Resignation zu begegnen und Stätten der Kommunikation, der Anregung, der Unterstützung und Hilfe zu schaffen und zu unterhalten.

Auf der Basis der erfolgten Vorklärungen beschloss die Gründungsversammlung als erste Aktivitäten, Projekte zur Arbeitslosenbetreuung in Hohenschönhausen und Marzahn aufzubauen, einen Frauentreff in Hohenschönhausen zu initiieren, Begegnungs- und Beratungsstellen für ältere und alte Menschen zu schaffen und ein Projekt zur Ausländerbetreuung ins Leben zu rufen.

Wir wussten, dass nur die erste Etappe bewältigt war. Wie sehr uns die nächste fordern sollte, ahnten wir noch nicht. Unser Konzept zu verwirklichen erwies sich als ein Hindernislauf aus unzähligen Schritten. Für uns führte er über noch wenig bekanntes Terrain. Häufig waren es Schwierigkeiten, die unvermeidlich bestehen, wenn man mit Wirtschaftsunternehmen - z. B. als potentiellen Vermietern - und mit Behörden klarkommen muss, und selbst noch ein „Noname“ ist. Vor allem aber hatten wir kein Geld. Alle Arbeit war neben der Aufgabenerfüllung in der ABM ehrenamtlich zu leisten.

Ich hatte das Glück, noch vor dem Auslaufen meiner ABM ab Mai 1992 beim Freidenkerverband angestellt zu werden, um eine Schwangerschafts-Konfliktberatungsstelle aufzubauen und zu leiten. Mit der Vollzeitbeschäftigung in einer für mich ganz neuen Aufgabe waren meinem Einsatz für den Verein natürlich enge Grenzen gesetzt. Annerose übernahm meine Aufgaben als Projektleiterin. In der Rückschau ziehe ich den Hut vor ihr und vor Lothar, die - unterstützt durch Gudrun, Waltraud und Ewald - zwischen Frühjahr und Herbst 1992 unsere ersten ABM-Projekte „aus dem Boden stampften“.

Der Antrag für ein ABM-Projekt, wie er bei den potentiellen Fördermittelgebern Arbeitsamt und Servicegesellschaft einzureichen war, ist in jedem Einzelfall ein fingerdicker Aktenordner mit einer Vielzahl von Formularen, einer Projektbeschreibung, Stellenbeschreibungen, Berechnungen über die Personalkosten für jede ABM-Kraft und für Sachkosten des Projekts bis auf den Pfennig, Auskünften und Belegen über den antragstellenden Verein. Jeder der Ko-Finanziers macht seine Entscheidung mit davon abhängig, wie sich der andere zum Antrag stellt, so dass wir in unserer Unerfahrenheit manchmal meinten, wie der Hase zwischen den Igeln zu rennen. Parallel musste vorbereitet werden, dass für die künftigen ABM-Kräfte Arbeitsplätze mit einer Minimalausstattung vorhanden sind, dazu Räume für die Beratungsstellen. Das hieß Vermieter suchen und Mietverträge vorzubereiten, ohne schon definitive Mittelzusagen zu haben, also mit Rückzugsklauseln für den Fall, dass ein Projektantrag keine Zustimmung findet. Allein die Suche geeigneter und bezahlbarer Mietobjekte und die Verhandlungen darüber haben hunderte Stunden beansprucht. Nur durch enormen Einsatz unserer Gründungsmitglieder war das zu schaffen. Und durch immer wieder ermutigende und voranbringende Solidarität ehemaliger DDR-Bürger, auf die wir in den Institutionen trafen. Da fanden wir nicht die unverbindliche Höflichkeit der neuen Chefs, sondern Sympathie für unsere Vorhaben und bekamen manchen Insider-Tip außerhalb des Protokolls.

Im September 1992 wurde Gewissheit, dass wir ab Oktober unser erstes Projekt mit 14 ABM-Kräften starten konnten: „Hilfe für ältere und alte Menschen“. Die bestand in Beratungs- und Betreuungsleistungen, zu denen auch ein Fahrdienst gehörte und die Hilfe für Senioren mit geringen Einkünften bei der Renovierung ihrer Wohnungen.

Im November kam das Projekt „Hilfe für Ausländer“ mit Beratungs- und Betreuungsleistungen durch 11 ABM-Kräfte vor allem für die vielen in Hohenschönhausen und Marzahn lebenden vietnamesischen Mitbürger hinzu, sowie ein „Frauenzentrum mit Kinderbetreuung“ mit 21 ABM-Beschäftigten in Hohenschönhausen.

Ein Riesenfortschritt war für unsere Arbeit, dass wir durch einen Fördervertrag mit der GSUB für diese drei Projekte eine Stelle für administrative Aufgaben finanzieren konnten. Aus den Projektmitteln ab Oktober 1992 konnten wir dann weitere Regiekräfte bezahlen: zunächst einen Projektkoordinator, ab November eine Bildungsreferentin und eine zweite Stelle für Projektkoordination und zugleich Geschäftsführung, ab Februar 1993 eine Sozialpädagogen-Stelle. So wurde nach und nach für Lothar, für Annerose, für Waltraud und etwas später für Gudrun Wirklichkeit, uns mit dem Auf- und Ausbau des Vereins als Träger von Arbeitsförderprojekten selbst Arbeitsplätze zu schaffen. Zugleich war der Ausbau einer Geschäftsstelle unerlässlich, mit der wir für unsere ABM-Projekte nach und nach geordnete und stabile Rahmenbedingungen schaffen konnten, denn wir waren nun Arbeitgeber für annähernd fünfzig Menschen mit aller damit verbundenen Verantwortung für die Arbeitsbedingungen und nicht zuletzt für die korrekte monatliche Gehaltszahlung, sowie rechenschaftspflichtig für die verausgabten öffentlichen Gelder. Mit dem Fortschritt, den die Anfänge einer Geschäftsstelle bedeuteten, war natürlich gleich wieder ein Problem verbunden, nämlich Arbeitsräume zu finden und zu finanzieren. Nachdem uns anfangs auch damit durch die „Zukunftswerkstatt“ geholfen wurde, fanden wir ab Ende 1992 mietbare Souterrain-Räume in der ehemaligen Poliklinik am Helene-Weigel-Platz in Marzahn, wo dann für Jahre unsere Geschäftsstelle und Teile unserer Projekte untergebracht waren.

Wie hektisch und provisorisch es in dieser Anfangsphase zuging, zeigt deutlich die Entstehung unseres Frauenzentrums. Die Projektskizze zu einer Selbsthilfe-, Kontakt -und Beratungsstelle für Frauen und Mädchen hatte ich schon 1991 ausgearbeitet. Nach der Vereinsgründung war es das erste Projekt, das wir dem Arbeitsamt vorlegten. Aus Gesprächen mit den dort Zuständigen ergaben sich Überarbeitungen. So ließen wir die Idee eines Frauen-Cafes als Teil des Projekts fallen, da die Fördermittelverwalter ablehnend reagierten, sobald ein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb zu befürchten war. Dafür erweiterten wir den Teil Kinderbetreuung. Monate nach Einreichung des Projekts bekamen wir am 27. Oktober Nachricht, dass der Beginn zum 1. November genehmigt wurde. In Abstimmung mit dem Arbeitsamt, das allein ja die Stellenbewerber zuweisen konnte, organisierten wir für den 29. Oktober die Einstellungsgespräche in Räumen der Zukunftswerkstatt. Wie viele Gespräche wir Vorstandsmitglieder allein an diesem Tage führten, weiß ich nicht. Grundsätzlich schickte das Arbeitsamt für jede Stelle mehrere Bewerber. Wir hatten aufgrund der Bewerbungsunterlagen, für deren Studium kaum Zeit blieb, und der Gespräche die Auswahl zu treffen. Das war jedes Mal eine verantwortungsvolle Entscheidung, denn wir wollten soziale Aspekte bei den Bewerberinnen und Bewerbern beachten, aber natürlich mussten wir auch an die Arbeitsfähigkeit unserer Projekte denken. Am Abend hatten wir jedenfalls mit 21 Arbeitslosen zunächst mündliche Arbeitsverträge geschlossen. Bis zu ihrem Arbeitsantritt blieben uns Freitag, Sonnabend und Sonntag, denn ab Montag, den 2.November morgens waren sie durch uns in die Arbeit einzuführen. Geeignete Räume für das Frauenzentrum hatten wir noch nicht gefunden. Die „Zukunftswerkstatt“ half uns sehr, indem sie zeitweise Schulungsräume zur Verfügung stellte. Es dauerte noch bis Mitte Dezember, ehe für das Frauenzentrum eine leer stehende ehemalige Poststelle in der Wartenberger Straße gefunden und angemietet war. Bis dahin waren die Mitarbeiterinnen des Projekts mit konzeptionellen Vorbereitungen ihrer künftigen Arbeit und mit dem Erwerb von Grundkenntnissen für die Betreuungs- und Beratungsarbeit auszulasten. Für die Weiterbildung, die gesetzlich geregelt 20 Prozent der Arbeitszeit umfassen musste - also einen Tag je Woche - standen uns erst ab Anfang 1993 Gelder zur Verfügung, so dass wir sie zunächst allein bestreiten mussten. Unsere Vereinsmitglieder hielten Vorträge und leiteten Seminare, um ihre Kenntnisse und Erfahrungen weiterzugeben, und unter den ABM-Kräften fanden sich etliche, die geeignet und bereit waren, den anderen für die zu leistende Arbeit nützliche Kenntnisse - z. B. auf verschiedenen Rechtsgebieten - zu vermitteln. Als endlich die Räume da waren, musste nicht nur deren Nutzung und Einrichtung konzipiert und organisiert werden, sondern sie erwiesen sich auch als rekonstruktionsbedürftig - von angefaulten Fußböden bis zu maroden Elektroinstallationen. Dass am 10. Februar 1993 das Frauenzentrum die Arbeit aufnehmen konnte, war nur möglich, weil die ABM-Kräfte die schwierigen Bedingungen des Anfangs akzeptierten und es mit zu ihrer Sache machten, Arbeitsfähigkeit herzustellen. Keine pochte auf ihre Stellenbeschreibung als Betreuerin oder Beraterin, sondern alle packten an, wo es nötig war, malerten und tapezierten, putzten Fenster und Fußböden, kauften Möbel ein und schraubten sie zusammen, nähten Gardinen und und und. Ich hätte ein paar von den Leuten in dieser Lage erleben mögen, die so gerne verbreiten, die Ostdeutschen mussten erst einmal lernen zu arbeiten, wären zu wenig leistungsbereit und zudem unflexibel.

Das Frauenzentrum „Am Mühlengrund“ ist übrigens schon lange zu einer Adresse geworden, die aus der sozial-kulturellen Landschaft in Hohenschönhausen nicht mehr wegzudenken ist.

Nicht alle unsere Anfangsschwierigkeiten waren den objektiven Umständen zuzuschreiben; manches Problem oder Problemchen war auch hausgemacht. Z. B. hatten wir bei der Vereinsgründung Mitgliedsbeiträge für den Verein beschlossen, die bei 1.- DM/Monat anfingen, um dann gestaffelt zu steigen, z. B. bei einem Netto-Einkommen zwischen 1 000.- und 1 200.- DM auf stolze 2.- DM. Das entstand aus unserem Verständnis eines sozialen Vereins und auch aus unserer eigenen Situation: wir hatten alle wenig Einkommen. Wir merkten schnell, dass wir so als Verein nicht existieren konnten und auf der Mitgliederversammlung, die das erste Halbjahr 1992 bilanzierte, wurden wir uns über eine Beitragserhöhung einig.

Zu unseren inhaltlichen Vorhaben gehörte anfänglich, Schuldnerberatung zu leisten. Aber es zeigte sich, dass dieses Feld schon weitgehend besetzt war und die Zulassung dafür an Voraussetzungen gebunden, die wir zu dieser Zeit nicht erfüllen konnten. Auch andere Vorstellungen erwiesen sich als nicht realisierbar, z. T. allerdings erst, nachdem schon Zeit und Kraft in Vorarbeiten und Prüfungen investiert waren. In Hellersdorf Frauenzufluchtswohnungen zu übernehmen, scheiterte an der fehlenden Finanzierung durch das Bezirksamt.

Als schwer durchzuhalten erwiesen sich unsere anfänglichen Vorstellungen davon, wie in der Projektarbeit „wirkliche“ Demokratie funktionieren sollte. Wir hingen dem „Prinzip der Teamarbeit“ an, worunter wir verstanden, dass bei der Führung der Geschäfte und Projekte des Vereins keine Hierarchie gelten sollte. In Vorstandsberatungen im August und September 1992 beschlossen wir, die künftigen Projektleiter, die Koordinatoren, die Bildungsreferentin und die Geschäftsführerin sollten als Team zusammenarbeiten, wobei die Geschäftsführerin gegenüber den anderen Genannten entscheidungsbefugt sein sollte, ohne aber ein Weisungsrecht zu haben. Als in den Monaten danach die ersten Projekte begannen, merkten wir bald, dass es so nicht funktionierte.

Rückblickend befällt mich manchmal ein fast ungläubiges Staunen, wie wir trotz aller Probleme - besser: durch ihre Bewältigung - auf die Beine kamen und gewachsen sind. Im Februar und April 1993 kamen in neuen Projekten, die wir noch Ende 1992 erarbeitet und eingereicht hatten, 73 weitere ABM-Beschäftigte zu uns, so dass wir fünfzehn Monate nach Vereinsgründung, sechs Monate nach Einstellung der ersten 11 ABM-Kräfte, schon Arbeitgeber für 120 bis dahin arbeitslose Menschen waren, mit einem Finanzvolumen von mehreren Millionen Mark für das Jahr. Seitdem sind im Durchschnitt ständig über 300 Arbeitskräfte beim BALL e. V. tätig, der in Marzahn-Hellersdorf und in Hohenschönhausen eine Palette von Angeboten in verschiedenen sozialen Feldern unterbreitet. Dadurch wird die soziale Infrastruktur in diesen Bezirken durch zusätzliche und gemeinnützige Arbeit bereichert und gleichzeitig Arbeitslosen eine neue berufliche Perspektive eröffnet. Und da weder ein Ende der Massenarbeitslosigkeit absehbar ist noch eine Verminderung des Bedarfs an sozialen Dienstleistungen, sehen wir unsere Aufgabe darin, die Arbeit fortzusetzen.

Wenn ich zu resümieren versuche, worin die Gründe für die erfolgreiche Entwicklung unserer Vereinsarbeit liegen, denke ich vor allem an unsere Haltung, nicht zu warten, bis uns vielleicht irgendwer helfen wird, sondern uns selbst zu helfen und uns zu diesem Zweck zusammen zu tun. Ich denke ebenso an das soziale Gewissen und die reichen Kenntnisse und Erfahrungen, die wir aus der DDR in das größere Deutschland mitgebracht haben. Und ich denke an Bereitschaft, ja, das Bedürfnis, zu lernen und etwas zu leisten. 


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