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Arbeite mit, plane, regiere mit?

Ich habe lange überlegt, ob ich mich an diesem Buch beteiligen soll oder nicht. Soll ich Selbstbezichtigung betreiben oder reumütig winseln. Ich werde beides nicht tun, sondern ehrlichen Herzens meine Meinung sagen.

Ich wurde ein Jahr vor der Machtübernahme Hitlers, 1932, geboren. Ich bin also in die DDR-Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg hineingewachsen. Wollte nach dem gräßlichen Krieg wiedergutmachen und für den Frieden kämpfen. Andere, wie meine Tochter und Enkelin sind in diese Gesellschaft hineingeboren, wuchsen in den unserer Epoche bestimmenden „geistigen", politischen und kulturellen Strömungen auf und diese beeinflußten auch unser Denken und Wollen, unsere Entschlüsse und Handlungen.

Damit war das Grundproblem in jedem einzelnen angelegt, und zwar in dem, was er schon als Kind bei seinen Eltern, in der Familie, im Hort in der Gruppe, im Kindergarten, in der Schule und später im Betrieb, in seinen Arbeitskollektiv durch Erziehung untereinander erfahren hat. Über viele Jahre hat sich fast jeder Bürger mit dem System irgendwie arrangiert, „eingelassen", wie wir auch kurz sagten. Man hat eine relative innere Ruhe, zum großen Teil auch Bestätigung gefunden, etwas erreicht. Allerdings mußte man dabei genau den Erwartungen, Wünschen und vielleicht sogar Traditionen der Verwandtschaft, Eltern und Großeltern (unsere Hochzeit 1953 wurde deshalb kirchlich begangen) und der Gesellschaft entsprechen, die das angepaßte Verhalten mit Anerkennung, Lob oder Orden und Ehrenzeichen belohnten. Von ihnen wurde also vorgegeben, was zu denken und zu tun war. Daher war ich nie ganz zufrieden, weil ich einiges tat, was mir widersprach, aber ich hatte meinen Platz in der Gesellschaft. Wollte ich das verändern, wäre ich unweigerlich gezwungen gewesen, gegen den Strom zu schwimmen und das ist bekanntlich sehr schwer. Es wurde versucht, mit Offenheit, Ehrlichkeit, Kritik und vertrauensvollem Sich-näher-kommen das Ziel unserer Arbeit, nämlich Erfolg zu haben, zu erreichen. Dabei sind wir durch staatliche und gesellschaftliche Stellen wie Betrieb, Partei, Gewerkschaft, FDJ, DSF u. v. a. immer wieder auf die jeweilige „Linie" getrimmt worden, haben also unter der Regie des Staates und der Partei gestanden, aber dies nicht so empfunden. Wir haben dennoch gut gelebt und waren zufrieden. Was mich dabei störte war, selbst unter Funktionären und staatlichen Leitern duldete man Dummheit und Mittelmaß, wenn es nur politisch brav war. Wir als einfache Bürger und viele Genossen der DDR haben an den Sozialismus „geglaubt", waren überzeugt davon. Ich bin es heute noch! Es gab allerdings nicht wenige Genossen, die Mitläufer waren, die, wie Radieschen außen rot und innen weiß waren. Andere wiederum waren Mitglied der SED, „um im Leben voran zu kommen". Ich habe bewußt nicht gesagt, um „Karriere" zu machen, denn dieser Ausdruck war in der DDR verpönt. Zum Glück!

Ich war auch in der Partei. Mitglied in dieser Partei zu sein war für mich eine besondere Sache. Eine Ehrensache. Ich trat ihr auch erst im Jahre 1965 bei, als ich mit dem Abendstudium als Chemieingenieur fertig war und es nicht heißen sollte, der ist in die Partei eingetreten, um Vorteile zu haben, um in seiner „Laufbahn" vorwärts zu kommen. Außerdem war ich vorher nicht überzeugt und reif genug, um den Schritt zu tun. Dann gehörte ich endlich dazu. Dieses Dazugehören hat mir viel gegeben. Ich wurde im VEB Fahlberg-List, Magdeburg, Produktionsabschnittsleiter. Ich war stolz, in der Verantwortung zu sein. Ich habe in dieser Zeit viel gelernt. Ich habe immer versucht zu analysieren, wie die sozialistischen Prozesse in der Gesellschaft wirklich ablaufen. Dabei habe ich festgestellt, daß Theorie und Praxis, die ja bekanntlich eine Einheit bilden sollten, es nicht immer taten. Die Praxis war tatsächlich das Kriterium der Wahrheit und die sprang uns tatsächlich mit dem nackten Hintern ins Gesicht. Das ging bei der Planerfüllung los, wo schon die Vorgaben unmöglich waren, und endete bei Material- und Ersatzteilfragen. Die Schere klaffte immer mehr auseinander zwischen dem Anspruch der gestellt wurde, und den Tatsachen.

Wir waren in unserem Kollektiv 18 Frauen, ein Meister und ich. Es war die sogenannte Pflanzenschutzmittel-Kleinkonfektionierung. Alle Produkte wurden von Hand abgepackt bzw. eingeschaufelt. Nebenbei gesagt, 60 Prozent der Arbeit im VEB Fahlberg-List erfolgte manuell, streng nach Normen, die kaum zu schaffen waren. Aus 200-kg-Holzfässern mit Chloramin (ein Grobdesinfektions- und Bleichmittel) mußten 5-kg-Beutel gefüllt werden. Man stelle sich vor, wie die Frauen hier schuften mußten. Dann diese ständige Forderung nach Steigerung der Arbeitsproduktivität. Die war nur zu erreichen, wenn weniger Arbeitskräfte mehr produzierten.

Es gab Methoden, die den Frauen aufgezwungen wurden wie „9 arbeiten für 10". Ich weiß noch wie heute: der tote Kosmonaut Juri Gagarin wurde Mitglied unserer Brigade und ihm zu Ehren wurde für ihn mitgearbeitet.

Später gab es zum Plan plötzlich einen Gegenplan, der wesentlich höher war. Alles Bauernfang.

Eine Geschichte in diesem Zusammenhang. Jeden Monat mußten wir für eine Firma in Holland Chloramin in 1,5- und 5-kg-Eimer abpacken. Sämtliches Verpackungsmaterial wurde aus Holland angeliefert. Eines Tages erscheint ein Vertreter der Firma und fragt beim Produktionsdirektor nach, ob er sich die Abpackmaschinen einmal ansehen darf. Dem Direktor wurde angst und bange. Er hat zum Glück die Ausrede gefunden, daß die Abteilung heute einen Brigadeausflug macht und niemand im Hause ist. Natürlich machten die „Abpackmaschinen", unsere Frauen, diesen angeblichen Ausflug. Es war schon schlimm.

Die Produktion im gesamten Betrieb, bis auf wenige Ausnahmen, war vorsintflutlich und das, obwohl täglich von Automatisierung und Mechanisierung gesprochen wurde. Die Menschen waren doch nicht dumm. Sie haben sich sehr gut im Betrieb umgesehen und wußten, wie es um unser sogenanntes Weltniveau stand. Natürlich vor Ort.

Täglich hatten sie eine Düngemittelhalle (Superphosphat) vor Augen, die dem Verfall preisgegeben war. Es war aber kein Geld zum Neuaufbau bzw. zur Generalüberholung vorhanden und viel wichtiger: Tonnen mußten gebracht, der Plan erfüllt werden. Die sogenannte Tonnenideologie. Es war also viel vordergründige Propaganda, viele Worthülsen und wenig dahinter. Ich erinnere nur an Walter Ulbrichts Äußerung „Überholen ohne einzuholen" oder „Der Sozialismus siegt" und eines Tages hieß es sogar „Der Sozialismus hat gesiegt".

Ich war APO-Sekretär (Abteilungsparteiorganisation). In der wöchentlichen APO-Sekretäranleitung haben einige von uns, auch ich, einigemal auf den Tisch gehauen und kritisiert, daß es so nicht weitergehen kann. Wir haben die Mißstände aufgeführt und Vorschläge gemacht, wie man sie beseitigen kann. Die Kritiken wurden angenommen, sogar weitergeleitet. Aber wie weit? Sie sind niemals ganz oben angekommen. Es änderte sich nichts! Die Leute, die unser Arbeitsleben und die Politik bestimmten, waren wenig praxisverbunden und engstirnig, ja sogar rechthaberisch. Wir hätten mehr Mitbestimmung haben müssen. Die politische Führung hätte auf die Genossen, Arbeiter und Angestellten in den Betrieben hören sollen, weil Demokratie nur so funktioniert, daß man nicht allein von oben nach unten sondern auch umgekehrt etwas annimmt und durchstellt. Die „hohen" Funktionäre waren aber allwissend und unfehlbar. Das war tödlich für die Arbeit in den Betrieben und für die Gesellschaft.

Das Verhältnis zu den übergeordneten Leitungen war nicht gut, war kalt und steril. Ich meine, eine Parteileitung, egal in welcher Ebene, die ihre Prinzipien nicht mehr auf Brauchbarkeit untersucht, ist zum Untergang verurteilt.

Wesentliche Elemente wirklicher Leitungstätigkeit wurden vernachlässigt und der mehr und mehr fehlende Realismus der Analysen verhinderte die richtigen Schlußfolgerungen.

Von oben wurde den Menschen eine Gesellschaft aufgeredet, die die leitenden Funktionäre schon besaßen. Das konnte nicht gut gehen. Da haben die Menschen zum Schluß nicht mehr mitgemacht und gingen auf die Straße.

Von den Funktionären wurde die Verbesserung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Menschen bei gleichzeitiger Steigerung der Arbeitsproduktivität als Hauptaufgabe in den Vordergrund gestellt. Mehr Waschmaschinen, mehr Kühlschränke, mehr Fernsehgeräte sollten es sein. Den Wettbewerb zwischen Kapitalismus und Sozialismus konnten wir auf diesem Gebiet nicht gewinnen. Denn in der kapitalistischen Gesellschaft werden immer wieder neue Konsumwünsche in die Menschen hinein manipuliert. Wir waren nie den objektiven Herausforderungen gewachsen, wir blieben den fortgeschrittenen westlichen Industrieländern in der ökonomischen Wirksamkeit weit unterlegen. Die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik war nicht gegeben, die Einsicht der Notwendigkeit in die ökonomischen Gesetzte ebenfalls nicht. So wurde z. B. durch die Subventionierung der Verbraucherpreise völlig verdeckt, was eigentlich hätte subventioniert werden sollen. Der Kleintierhalter verfütterte eben Haferflocken, weil das billiger war als das Futter in der Tierhaltung. Man hätte sich erinnern sollen, was Lenin voraussagte: „Wenn die neue Gesellschaft keine höhere Arbeitsproduktivität erzielt als die, die sie ablösen will, ist sie zum Scheitern verurteilt."

Die kapitalistische Gesellschaftsordnung hatte immer eine weitaus höhere Arbeitsproduktivität als wir in der DDR. Da nutzten all unsere sogenannten Errungenschaften nichts, wenn ein Brötchen nur 5 Pfennig und die Miete einer 2-Raum-Wohnung mit Küche und Bad nur 42,15 DM kostete, man aber 10 Jahre und länger auf eine Autobestellung warten mußte. Da sorgte täglich das „Westfernsehen", was fast jeder sah, für Aufklärung. Da war es auch eine Floskel zu behaupten, daß der Kapitalismus ein sterbendes, faules System sei. Der Sozialismus aber war von innerer Starrheit, nicht flexibel genug. Wie hat doch Brecht so schön gesagt, Fortschritt heißt Fortschreiten. Wir aber traten auf der Stelle, haben stagniert und das schon seit dem 17. Juni 1953, wie später auch Ungarn, Polen und die CSSR.

Heute frage ich mich, war die SED wirklich die Partei einer herrschenden Klasse, die an wirtschaftliche Macht gebunden war? Nie! Hier war sie, wie wir wissen, am anfälligsten, in der Wirtschaft, wenn ich an Materialschwierigkeiten und Ersatzteil- und Reservebeschaffung denke. In Wirklichkeit herrschten die Arbeiter und Bauern nicht. Das Wort Volkseigentum war eine Farce. Es wurde unzureichend mit den realen Interessen der Werktätigen verbunden, vor allem in den Betrieben selbst. Ebenso war es nur eine Parole, zu sagen: „Plane mit, arbeite mit, regiere mit."

So war der Niedergang der DDR vorauszusehen.

Wenn eine Regierung und Partei Kritik von unten unterbindet, nimmt sie sich selbst ihre Möglichkeiten zu Verbesserungen, ihren Kontakt zur Wahrheit, denn fast alle Untergebenen sagen ihnen doch nur noch, was sie hören wollen. Was wußte Erich Honecker von der Wirklichkeit, wenn er nur geschönte, also gefälschte Berichte las? Das mußte ins Auge gehen. Denn wenn ein Mensch die Wirklichkeit nicht mehr kennt, nicht die Wünsche und Visionen seines Volkes, und die berichteten Unwahrheiten als Realität ausgibt - dann ist eben etwas faul im Staate DDR. Es wurde falsch gehandelt. Es wurde die Utopie als Wirklichkeit ausgegeben.

Den Sozialismus in der DDR aufzubauen war ein Versuch. Wir sollten es besser machen und uns den demokratischen Sozialismus zum Ziel setzen.

Herbert Rasenberger 


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