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Vorwort

Mit dem Band IV der "Spurensicherung" legt unsere in ihrer Zusammensetzung je nach Zeit und Neigung wechselnde Autorengemeinschaft das bisher schwierigste und bitterste Buch der Reihe vor. Für den sich lange hinziehenden Niedergang der DDR sehen wir drei miteinander vielfach verknüpfte Bedingungen und Ursachen: die zielgerichteten Aktivitäten aus dem westlichen Lager, die Veränderungen in der Haltung des "großen Bruders" Sowjetunion und die von uns selbst zu verantwortenden Fehlentwicklungen. Unsere Autoren schreiben über das, was sie als ehemalige DDR-Bürger erlebt, gedacht und erkannt haben, also primär über uns selbst. Der Niedergang der DDR war Bestandteil des sukzessiven Zerfalls aller "realsozialistischen" Staaten in Europa, und wir hatten ihn in unterschiedlichem Maße selbst mit zu verantworten.

Darüber zu schreiben, fällt Sozialisten, denen das Gedeihen unseres Staates Lebensinhalt war, nicht leicht, und wir verstehen manche unserer Weggefährten, die sich das versagen wollten. Aber wir glauben, daß man einer solchen Aufgabenstellung im Interesse der historischen Wahrheit nicht ausweichen kann, wenn wir auch wissen, daß unsere Erlebnisberichte nur Denkanstöße zur weiteren Beschäftigung mit dem großen Thema geben können.

Die hier wiedergegebenen Beiträge sind in ihren Aussagen pluralistischer Natur, nicht jeder ist auch Ausdruck der Meinung der Redaktionskommission. Aber eine künftige sozialistische Gesellschaft wird im Gegensatz zu dem Versuch, der hinter uns liegt, eine sozialistisch-pluralistische sein müssen.

Zu solcher Berichterstattung bedarf es "nichtgewendeter" Zeitzeugen. Denn die "gewendeten" entdeckten meist erst spät, daß sie aufs "falsche Pferd" gesetzt hatten und beeilten sich, auf das angeblich richtige hinüberzuspringen, was, wenn sie dabei nicht strauchelten oder zuviel "Dreck am Stecken" hatten, von den neuen Mächtigen wohlgefällig honoriert wurde.

Die hinsichtlich ihrer Ideale "Nichtgewendeten" bekennen sich auch heute dazu, daß sie auf das richtige Pferd gesetzt, aber beim Reiten und Kutschieren verhängnisvolle Fehler gemacht oder doch geduldet und in ihrem Banne gehandelt haben. Ein solches Bekenntnis wird von den heute Mächtigen keineswegs honoriert.

Auch der geneigte Leser dieses Buches mag fragen: "Wozu dieses Bekenntnis? Soll denn das Nest noch durch die eigenen Leute beschmutzt werden?"

Nein, sondern wir, also die Autoren, versuchen als beteiligte Zeitzeugen die vermeidbaren Fehler darzustellen, auch die, welche im guten Glauben oder aus objektven, von uns in unserem Umfeld kaum beeinflußbaren Zwängen gemacht oder mitgemacht wurden, wobei wir uns von den durch Machtmißbrauch hervorgebrachten, auch uns sehr belastenden, bitteren Fehlhandlungen entschieden distanzieren. Wir wollen hier Sachverhalte sichern, ohne vorschnelle Urteile zu suggerieren. Wir tun das - bei aller Bescheidenheit sei es gesagt, denn man hat seine Visionen - damit wir vermeidbare Fehler heute, sollten sie erneut keimen oder nachwirken, besser erkennen können und damit unsere Kinder und Enkel sie beim nächsten Sozialismusversuch, der angesichts des heutigen Zustandes der Gesellschaft mit Sicherheit kommen wird, nicht erneut begehen.

Denken wir zurück an die Pariser Kommune vor 130 Jahren. Ohne ihre kritische Auswertung wäre die russische Revolution im Oktober 1917 nie soweit gekommen. Schon nach der brutalen Niederschlagung der Kommune erklärte die bürgerliche Presse, die sozialistische Idee sei ein für allemal erledigt. Sie lebt auch heute weiter!

Damit ist ausgesprochen, daß sich der vorliegende Band - wie auch seine Vorgänger - vornehmlich an jene jungen Leute wendet, denen die heute gängige politisch rechtslastige und unzulässig verkürzte Darstellung der DDR-Geschichte fragwürdig erscheint. Er soll jedoch auch die Älteren anregen, sich zu erinnern, zu tieferem Verständnis dessen, was sie erlebten, zu gelangen und sich im Verwandten-, Freundes- und Bekanntenkreis über das Erkannte auszutauschen.

Längst bereuen viele unserer Mitbürger, daß sie auf die Sirenengesänge und Verheißungen einer den Interessen des Kapitals verpflichteten bürgerlichen Parteienwelt hereingefallen sind und daß sie sich von den Massenmedien des Kapitals manipulieren ließen. Wer glaubt denn heute noch - trotz des großen Warenangebots und vieler schöner Fassaden - etwa beim Anblick konstant hoher Arbeitslosenzahlen, überfüllter Gefängnisse, rechtsextremer Ausschreitungen, der Perspektivlosigkeit großer Teile der Jugend, maßloser Verschuldungen öffentlicher Haushalte, ständig steigender Preise und Profite der Wenigen, aber konstant sinkender Realeinkommen der Bevölkerungsmehrheit, an die verheißenen "blühenden Landschaften"?

Die DDR und ihre Systeme waren nach dem Fallenlassen durch die untergehende Sowjetunion nicht mehr zu halten, auch nicht nach gründlicher Entschlackung neu zu gestalten. Aber hätten wir uns nicht mit mehr Würde und ohne Totalverlust in das einige Deutschland einbringen können?

Wir wollen hier keineswegs nur die ehemalige Partei- und Staatsführung der DDR belasten, denn die DDR war 40 Jahre lang ständigen politischen und ökonomischen Attacken des westlichen Großkapitals ausgesetzt, die ihre Wirkungen hatten. Das Politbüro reagierte zuletzt nur noch im Bann außenpolitischer und z. T. selbstverschuldeter innenpolitischer Zwänge und verfiel schließlich in lähmende Sprachlosigkeit. Und wir wollen andererseits einem Teil der DDR-Bürger bei ihrem kampflosen Generalverzicht auf alle sozialen Rechte und Sicherheiten der DDR-Zeit nicht Naivität und Kurzsichtigkeit im Einigungsprozeß unterstellen.

Es geht eher um zwei Seiten einer Medaille.

Denn längst war das Fundament des Gebäudes der sozialen Rechte und Errungenschaften unterhöhlt, es drohte mangels zureichender wirtschaftlicher Leistungskraft einzustürzen und hätte im Falle des Fortbestehens der DDR mit erneuerter sozialistisch-demokratischer Führung nicht mehr aufrechterhalten werden können (denken wir nur an die riesigen Subventionen im Konsumbereich) - und längst hatte die alte Partei- und Staatsführung ihren selbstgestellten Anspruch, eine sozialistische Volksmacht zu sein, verspielt und zur Phrase verkommen lassen, worauf die Losung der Demonstranten "Wir sind das Volk" nachdrücklich hinwies.

Wo war der Ausweg für das Volk?

Bot sich nicht der Anschluß an den reichen Westen geradezu an, also die "Kohlonisierung"?

 Und so wurde bald geglaubt und gehofft ...

Wir glauben, hoffen und - wissen! Wir meinen, daß gerade der Band IV der "Spurensicherung" - und das nicht nur zwischen den Zeilen - getragen ist von einem tiefen Optimismus, den Jürgen Kuczynski zur Wendezeit in die Worte kleidete: "Ich lasse mir von niemandem die Vorfreude auf den künftigen Sozialismus nehmen."

Bei aller Bitternis - wir auch nicht.

Das Redaktionskollektiv von "Spurensicherung IV"


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