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Eigentlich nichts Besonderes

 Was soll ich aus meinem Leben berichten? Eigentlich gab es nichts Besonderes. Ich war eine von Millionen: Elisabeth Lehmann, Jahrgang 1924 -Arbeiterkind, Arbeiterin und Mutter einer fünfköpfigen Arbeiterfamilie, die ganz normal in der DDR lebte. Aber vielleicht ist es gerade deshalb gut, einiges davon aufzuschreiben.

Wir waren sieben Kinder zu Hause, und es schien jedem ganz normal, daß wir nach 8 Klassen Volksschule unseren Lebensunterhalt selbst verdienen mußten. Bei mir sah das so aus, daß ich 1938 im Glaswerk Drebkau zu arbeiten begann. Später ging ich zwei Jahre „in Stellung“ als Hausgehilfin, und dann kamen auch schon der Krieg und mit ihm meine Dienstverpflichtung in die Munitionsfabrik Neupetershain. Eine entsetzliche Zeit war das für uns einfache Menschen. Aber danach hatten wir den festen Willen, unser Land wieder aufzubauen und nie wieder einen Krieg zuzulassen.

Da auch mein zukünftiger Mann den Krieg überlebt hatte und bereits 1945 nach Hause kam, konnten wir beiden in dieser schweren, aber schönen Zeit des Neubeginns eine kleine Familie gründen, die sich in der Folgezeit um drei hübsche kleine Mädchen erweiterte. Mein Mann arbeitete als Tischler. Ich war zunächst beim Abriß des alten Trattendorfer Kraftwerks und beim VEAB beschäftigt, bevor ich 1962 als Presserin im VEB Sprelawerke Spremberg begann. Dort blieb ich ununterbrochen 29 Jahre lang, bis ich 1991 als Siebenundsechzigjährige mein Arbeitsleben beendete.

Wegen meiner Schwangerschaften und solange unsere Töchter klein waren, ging natürlich nicht immer alles ohne Probleme ab. Aber da Staat und Gesellschaft der DDR bekanntlich ausgesprochen kinder- und familienfreundlich waren, brauchte ich mich auch in schwierigen Situationen nicht um meinen Arbeitsplatz und um meinen recht ordentlichen Verdienst zu sorgen. Außerdem konnte ich mehrere kostenlose Heilkuren in Anspruch nehmen und mit meiner Familie manche preisgünstige Urlaubsreise machen.

Unsere Töchter erhielten, wie das der DDR-Normalität entsprach, ordentliche Lehrstellen und nach Abschluß ihrer Ausbildung einen angemessenen, sicheren Arbeitsplatz - ebenso wie ihre späteren Ehemänner.

Für mich war die Berufstätigkeit inzwischen längst nicht nur eine Frage des Geldverdienens, sondern mehr und mehr ein wirkliches Bedürfnis, und den meisten meiner Kolleginnen ging es ebenso: Es war einfach schön, in „unserem“ Betrieb gebraucht zu werden, gemeinsam mit anderen etwas Nützliches zu leisten und immer mitten im Leben zu stehen. Und wenn man dann noch mit Jüngeren zusammenarbeitete, mußte man ja einfach jung bleiben. Ich war schon gar nicht mehr allzuweit vom Rentenalter entfernt, als ich noch Mitglied der Jugendbrigade „Karl Liebknecht“ wurde: einundzwanzig junge Frauen, Mütter und Mädchen im Dreischichtbetrieb, und ich - nicht als Brigadeleiterin, aber als als sogenannter „guter Geist“ - mittendrin. Es gab schon manchmal Schwierigkeiten, wenn sich bei den jungen Frauen Nachwuchs anmeldete, aber andererseits war Kindersegen doch das Normalste von der Welt, und für das gesamte Kollektiv ein „frohes Ereignis“ im wahrsten Sinne des Wortes.

Es war natürlich auch wichtig, daß es im Betrieb von Jahr zu Jahr spürbar voranging. Der VEB Sprelawerke stellte das für DDR-Wirtschaft und Bevölkerung wichtige Sprelacart her. Als wir 1972 das Sprelaform in die Produktion überführten, brachen wir damit sogar ein westliches Monopol. Und, obwohl man es heute gern abwerten möchte: Wir Sprela-Werker waren stolz auf den Orden „Banner der Arbeit“, das Ehrenbanner des Zentralkomitees der SED und die mehrfache Auszeichnung als „Betrieb der ausgezeichneten Qualität“. Denn die Erfolge fielen uns nicht in den Schoß, sondern mußten zuvor hart erarbeitet werden. Ich selbst freue mich noch heute über die wiederholte Auszeichnung als „Aktivist der sozialistischen Arbeit“.

Selbstverständlich nahm unsere Familie, ebenso wie viele andere, auch am gesellschaftlichen Leben teil. Ich war 1962 aus Überzeugung in die SED eingetreten und auch Mitglied des FDGB, des DFD und anderer Organisationen. Meine Arbeitskolleginnen schenkten mir ihr Vertrauen und wählten mich zur Vorsitzenden des betrieblichen Frauenausschusses. Wahrscheinlich nicht zuletzt deshalb, weil ich auch im Umgang mit den Vorgesetzten nie ein Blatt vor den Mund nahm und immer sagte, was ich dachte.

An einen Besuch des Genossen Generaloberst Heinz Keßler Anfang 1983 erinnere ich mich gern. Er war uns nicht unbekannt, denn als Mitglied der Volkskammer besuchte der damalige Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung seinen Wahlkreis Spremberg bereits zum wiederholten Male. Eigentlich sollte unsere Jugendbrigade an diesem Tag den Titel „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ zum sechsten Mal in Folge verteidigen. Aber wir brachten Verständnis dafür auf, daß nun doch erst mal keiner Zeit für uns hatte und empfingen den Gast gern. Mir hatte man natürlich wieder mal die Rolle der Wortführerin zugeschoben, und ich durfte ihm über unseren Planstart in das Jahr 1983 berichten. Die Zeitung war auch dabei, und da ich den Ausschnitt aufgehoben habe, kann ich sogar mit Einzelheiten aufwarten: Also, wir hatten uns damals vorgenommen, unsere Bestleistung aus 1982 zur Norm für das neue Planjahr zu machen und tatsächlich innerhalb von zehn Tagen schon 1.458 Sprelacart-Platten über die vorgegebenen Kennziffern hinaus ein- und ausgetafelt. Das alles - Ehrensache - unter Vermeidung von Materialverlusten. - An den herzlichen Ton unseres nachfolgenden Gesprächs mit Genossen Keßler erinnere ich mich auch ohne den Zeitungsartikel. Es drehte sich vor allem um die Probleme unserer im Schichtbetrieb arbeitenden Frauen und Mädchen.

Natürlich kann ich hier nur für mich selbst sprechen, aber für mich war und ist Heinz Keßler vor allem ein aufrechter Antifaschist, der schon als junger Mensch gegen den Krieg gekämpft hat. Deshalb habe ich ihm auch bei jeder Volkskammerwahl gern meine Stimme gegeben. Und als er uns zum Abschluß seines Besuchs sagte, daß er und die anderen Genossen der NVA alles dafür tun wollten, damit wir weiter in Ruhe und Frieden unserer Arbeit nachgehen könnten, war das für mich keine Phrase. Denn der Frieden war zu Zeiten des Kalten Krieges sehr oft bedroht. Die Gefahr ging aber nicht von den sozialistischen Ländern und schon gar nicht von der DDR aus. Leider kann man das von der BRD spätestens nach ihrer Teilnahme am NATO-Angriff auf Jugoslawien nicht behaupten. Ich finde es deshalb sehr ungerecht, wenn Menschen wie Heinz Keßler und andere Angehörige der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen der DDR von der BRD-Justiz verfolgt und verurteilt werden.

Als ich meinen Betrieb 1991 verließ, waren die Produktionskollektive aufgelöst und die einstige Arbeitsatmosphäre Geschichte, wenn auch nicht vergessen. Der Arbeitskräfteabbau hatte begonnen, und auch bei jüngeren Kollegen machten sich Zukunftssorgen bemerkbar.

Abschließend bleibt nur zu sagen: Wir haben in der DDR nicht schlecht gelebt, selbst wenn nicht immer Sonnenschein war. Auch trübe Tage und Schattenseiten habe ich gemeinsam mit meinem Mann gemeistert. Ja, damals gab es auch Schattenseiten. Aber die gibt es heute auch, und nicht zu knapp. Denn jetzt habe ich oft Angst und mache mir Sorgen, z. B. um die Zukunft junger Menschen, die keine Arbeit haben.

                                    Elisabeth Lehmann 


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