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Verantwortung und Spaß

 

Kunrau - Magdeburg - Leipzig - Gera ... die Reihe dieser Orte habe ich früher ange­geben, um meine Lebensstationen zu benennen. Und gern sagte ich dazu: „Und die nächste Station ist dann wohl Hof ...“. Aber so weit kam es nicht. Hof kam zu mir.

In Kunrau/Altmark übernahmen meine Eltern eine kleine Bauernstelle mit Boden­reformland. Sie waren „Kuhbauern“, hatten keine Pferde oder Zugmaschinen. Mein Vater arbeitete in der MTS als Schlosser, meine Mutter (die als „Flüchtling“ aus Schle­sien kam) wie Opa in der Landwirtschaft. In die LPG wollten sie zunächst nicht, eige­nen Boden zu besitzen, war ihnen doch etwas sehr Wichtiges.

In diese Verhältnisse hineingeboren wurde ich 1953, zwei Brüder folgten 1955 und 1958. Kunrau, ein Dorf mit etwa 1.000 Einwohnern, lag bis 1967 im „Sperrgebiet“, danach wurde diese Linie hinter das Dorf verlegt. Als Gemeinde mit Bahnstation, Arzt, Zahnarzt, Post, Konsum-Filiale etc. hatten wir gute soziale, aber auch kulturelle (Kino, Bibliothek) und sportliche Möglichkeiten, die sich im Laufe der Jahre noch erweiter­ten. Fußball spielten wir alle, aber auch Handball, Kegeln, Reiten, Leichtathletik oder Geräteturnen waren in der Freizeit möglich.

Meine frühesten Erinnerungen setzen mit der Kindergartenzeit ein. Als geburten­schwacher Jahrgang hatten wir im Kindergarten, in der Schule und im Schulhort un­seres Dorfes eine Sonderrolle, waren leicht zu beaufsichtigen, besaßen aber auch Frei­räume, wie sie andere Gruppen nicht hatten. Das „Schloß“, das große Herrenhaus der früheren Rittergutsbesitzer, beherbergte auch den Kindergarten. Sport und Spiel trie­ben wir im angrenzenden gepflegten Park.

Natürlich bleibt die Zeit nicht stehen. Meine Eltern werden Mitglieder der LPG in Kunrau, Mutter arbeitet im Feldbau und Vater als Traktorist (später als Brigadier der Traktoristen). Ihr Leben wird mit den Jahren leichter, die Arbeitszeit kürzer, ein be­trieblicher Wohnwagen für die Urlaubsgestaltung angeschafft. Wann zuvor konnten Bauern jemals im Sommer zwei Wochen Urlaub machen und an den Rangsdorfer See bei Berlin fahren? Viele kleine Annehmlichkeiten verbesserten unser Leben.

Meine Einschulung erfolgte 1960. Wir waren, wie erwähnt, eine kleine Klasse, 14 Kin­der. (Erst ab der 5. Klasse kamen die Kinder einiger Nachbardörfer hinzu, ab der 8. Klas­se noch weitere Kinder aus anderen Dörfern.) Dadurch war jeder einzelne „öfter dran“, und wir mußten immer „dabei“ sein. Nach der Schule ging es in den Hort. Obwohl meine Eltern beide arbeiteten, wuchs ich, wie alle im Dorf, behütet auf. „Wie alle“ wurde ich Jungpionier und Thälmannpionier. Es gab nur selten „Abweichungen von der Linie“, und meine Eltern verhielten sich unpolitisch. Da sie evangelisch waren, wurde ich auch getauft und besuchte den Religionsunterricht. Opa war Kirchendie­ner, und ich half ihm gelegentlich. Da war es für mich konsequent, konfirmiert zu werden. Aus mir heute nicht mehr bewußten Gründen wollte ich nicht an der Jugend­weihe teilnehmen, obwohl fast alle im Dorf an beidem teilnahmen. Aber verschiedene Diskussionen mit dem Pastor um Fragen, auf die mir die Bibel keine Antwort gab, ließen mich diese Position verändern. Die Situation war nun die, daß ich die Jugend­weihe erhielt, der Pastor sich aber weigerte, mich zu konfirmieren. Meine Konfirma­tion erhielt ich dann zwei Jahre später zusammen mit meinem Bruder. Der neue Pastor kannte wohl die Vorgeschichte nicht.

Erwähnen möchte ich aus meiner Schulzeit noch zwei Ereignisse, die mir fest im Gedächtnis haften blieben und mein Leben (damals unbewußt) beeinflußten:

Die besten Schuler einer Klasse durften für einige Wochen in die Pionierrepublik „Wilhelm Pieck“ am Werbellinsee fahren. Es sollte eine Auszeichnung sein, ich emp­fand es später aber als nicht so bedeutend. (Ich bin auch heute noch für die Anerken­nung von Leistungen, die erbracht werden. Aber „pauschale“ Ehrungen, wie Geburts­tagsgeschenke oder eine Medaille „weil man eben dran war“, finden nicht meine Zustimmung.)

Manchmal, wenn in den unteren Klassen ein Lehrer ausfiel, wurde ich (als Schüler der 9. oder 10. Klasse) eingesetzt, um die Ausfallstunde zu überbrücken. Wir haben dann gerechnet, gelesen oder einfach Geschichten erzählt. Das hat mir großen Spaß bereitet, ich wollte aber nie Lehrer werden.

Verschiedene Umstände führten dazu, daß ich nicht auf die EOS delegiert wurde. Doch trotz aller „Dummejungenstreiche“ setzten sich stets auch Menschen für mich ein. Ich bin meinen Lehrern, Herrn Lorenz und besonders Herrn Heller, noch heute sehr dankbar. Mit ihrer Hilfe bekam ich nach der 10. Klasse (1970) eine Lehrstelle als Fernmeldebaumonteur mit Abitur. Die Lehre fand in Magdeburg statt. Dazu bezog ich das Internat am Editharing. Wir waren die einzige Abiturklasse an der Berufsschu­le der Deutschen Post in Magdeburg. Natürlich gab es Ärger, aber auch viele schöne Erlebnisse. Großen Spaß bereitete mir das Singen im Singeklub. Wir sangen auch spon­tan in der Fußgängerzone, bis uns einige Polizisten aufforderten, dies zu unterlassen.

Aber besonders wichtig waren einige andere Ereignisse:

Nach meinem 18. Geburtstag trat ich aus der evangelischen Kirche aus und wurde Kandidat der SED, wie viele aus meiner damaligen Klasse. Nicht wegen irgendwelcher Aufstiegschancen in der DDR, sondern, um daran mitzuarbeiten, daß es allen Men­schen gut gehen soll. Ich sagte meinen Eltern damals etwa: „In vielleicht 20, 30 Jahren kommen wir zum Kommunismus. Keiner muß mehr hart arbeiten, und allen wird es gutgehen. Und dabei will ich mithelfen.“ Diese Entscheidung war subjektiv und per­sönlich, aber konsequent, denke ich.

Bei der Mathematik-Olympiade der Stadt Magdeburg lernte ich meine heutige Frau kennen. In meiner Altersstufe belegte ich überdies den 1. Platz, was mich vor der Ver­weisung aus dem Internat (wegen einiger Streiche) bewahrte.

Die drei Jahre in Magdeburg möchte ich nicht missen. Gern erinnere ich mich an Frau Heine, unsere Deutsch-Lehrerin. In ihrer Wohnung diskutierten wir oft stun­denlang. Durch sie ist Goethe, besonders der „Faust“, heute noch meine Lieblingslektüre. Und gern erinnere ich mich, daß ich vor meinen eigenen Mitschülern als „Leh­rer“ stand, da unser Mathematik-Lehrer mit dem Motorrad quer durch Magdeburg zu uns kommen mußte und sich dabei so oft verspätete, daß wir diese „Notlösung“ regelmäßig praktizierten.

Das Abitur legte ich mit „Auszeichnung“ ab. Dadurch stand der Weg zum Mathe­matik-Studium für mich offen. Aber vorher sollte die Armee-Zeit absolviert werden Ich mußte extra drängeln im Wehrkreiskommando, um einberufen zu werden. So brachte ich die 18 Monate Wehrdienst als Nachrichtensoldat der Stabskompanie im Straßenbauregiment Neuseddin hinter mich. Mein wichtigstes Erlebnis war in dieser Zeit der private Besuch des Einstein-Hauses in Caputh. Wie in der Schule oder als Lehrling übernahm ich Funktionen in der FDJ. Die Verbindung von Partei und Staat (Armee) empfand ich hier erstmals negativ: Als Kompanie-Parteisekretär wurde nicht der beliebte Stabsfeldwebel wiedergewählt, sondern der neue Politoffizier, der aber erst nach der Wahl in unsere Kompanie kam. Dieses negative Vorspiel und arrogantes Auftreten („Ich bin Vertreter der Macht!“) ließen meinen Blick kritischer werden.

Warum gerade Mathematik studieren? Schule und Lehre fielen mir leicht, schon in der Kunrauer Bibliothek „wagte“ ich mich an die Bücher für Erwachsene. Am schwie­rigsten zu verstehen waren die Mathematik-Bücher. Diese Herausforderung prägte meinen Studienwunsch. Und den realisierte ich ab 1975 in Leipzig an der Karl-Marx –Universität. Das Studium dauerte fünf Jahre, eine Seltenheit in der DDR! Der Studienbetrieb war durchorganisiert, ja verschult. Das hat Vor- und Nachteile. Mögen andere darüber urteilen. Die Sektion Mathematik versuchte noch, das Leistungsprinzip hoch­zuhalten. Aber es war für die meisten leicht, sich der Disziplin, wie man sie ja von der Schule her kannte, zu unterwerfen. Im Internat in der Tarostraße verwalteten wir uns relativ selbständig. Unser Viermann-Zimmer war von zwei Mongolen und zwei Deut­schen belegt. Diese Belegung war freiwillig und hat uns viel Spaß bereitet. Vorlesun­gen und Seminare fanden im alten Mathematischen Institut in der Talstraße oder im neuen Hörsaalkomplex im Zentrum statt. Beide Gebäude habe ich in guter Erinne­rung- das Institutsgebäude, weil hier die Aufnahmeprüfungen für das Studium statt­fanden und in einem Hörsaal der „Große Umordnungssatz“ über der Tafel hing; den Hörsaalkomplex, weil wir daran mitarbeiteten wie alle FDJ-Gruppen in jenen Jahren.

Welche Ereignisse meiner Studienzeit waren mir besonders wichtig? 1976 heiratete ich meine Frau Helga, trotz „Wochenendehe“ bis 1980 sind wir immer noch verliebt, haben drei Kinder (geboren 1977, 1980, 1983) 1979 bekamen wir in Barby, Helgas Heimatort, eine kleine Wohnung (2 Zimmer und Küche, Klo im Hof). Es war in unse­rem Studienjahr eine große Ausnahme, als Student zu heiraten und eine Familie zu gründen. Ich bekam 220 Mark Stipendium, der Internatsplatz war fast kostenlos. Die 5.000 Mark Ehekredit waren eine große Hilfe, und mit drei Kindern brauchten wir nichts zurückzahlen. Überhaupt kamen uns die sozialpolitischen Maßnahmen der DDR - wie z. B. auch das eineinhalbjährige „Babyjahr“ nach dem dritten Kind bei voller Lohnzahlung - sehr gelegen.

Unser Elferrat organisierte den größten Phyma-Fasching (Sektionen Physik und Mathematik gemeinsam) aller Zeiten. Ich war „Security-Chef“, wie man heute sagen würde. Und wir Mathematik-Studenten errangen zum ersten und wohl auch einzigen Male den Wanderpokal im Judo der Universität. Über das Fach „Geschichte der Mathe­matik“ (gelesen von Professor Wußing, dem ich sehr dankbar bin) fand ich die Liebe zur Historiographie, die mich immer mehr erfaßte. Über die Mitarbeit in der For­schungsgruppe „Philosophische Probleme der Naturwissenschaften“ (durch Profes­sor Kannegießer von der Sektion Marxismus/Leninismus) fand ich die Liebe zur Phi­losophie. 1980 wurde ich Mitglied der Mathematischen Gesellschaft der DDR.

Das Studium beenden heißt, die Absolventenlenkung zu beeinflussen. Als Fami­lienvater verlangte ich einen Einsatzort, wo eine Wohnung bereitgestellt wurde. So gelangte ich nach Gera und wurde Mitarbeiter des ORZ der Land- und Nahrungsgüterwirtschaft des Bezirkes Gera. Meine berufliche „Karriere“ ist schnell aufgezeichnet: Arbeitsvorbereiter - Gruppenleiter - Abteilungsleiter Datenerfassung - Abteilungs­leiter Produktionsvor- und Nachbereitung - Leiter des Rechenzentrums. Und poli­tisch? Das ORZ gehörte organisatorisch zum Rat des Bezirkes, damit war unsere SED-Organisation eine APO der Parteiorganisation der SED des Rates des Bezirkes, die direkt der Bezirksleitung unterstand. Das hatte Vor- und Nachteile ... wie immer. Ich gehörte auch einige Jahre der APO-Leitung an, besuchte (freiwillig) die Parteischule, war Seminarleiter der Kreisparteischule ... Meine Überzeugungen waren fest: Wir sind auf dem richtigen Weg. Bei allen Ungereimtheiten und Widersprüchen: Wir sind auf dem richtigen Weg.

Hineingeboren in die „Kinderjahre“ der DDR, lebte ich in ihr und wuchs mit ihr. Groß geworden bin ich mit der „sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft“, gelebt habe ich in der „Gestaltung der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Alles, was erreicht wurde, kam mir persönlich, wie allen Bürgern, zugute. Beschrän­kungen der „Freiheit“ waren normal: Eine jede Gesellschaft kann nicht jedem alles bieten, aber immer mehr Bürgern immer mehr ermöglichen. Einige Einschränkun­gen im Leben wird es immer geben, damit bin ich aufgewachsen. „Aber wir können mit der Zeit immer mehr erreichen, für immer mehr Menschen in der DDR und auf der ganzen Welt.“ (Wie haben wir Angela Davis in Magdeburg begrüßt, wie haben wir mit Vietnam den Sieg gefeiert!)

Es hat Spaß gemacht, das Leben in der DDR. Die Feiern, die vielen Diskussionen mit Freunden, die Publikationen aus der „Freizeitforschung“, vieles vermisse ich. So­ziale Sicherheit war für mich ein sehr hohes Gut. Diese aber war die Grundlage für meine Entwicklung, für mich auch Verpflichtung, weiter daran zu arbeiten. Ich war, obwohl ich das nur wenig merkte, bestimmt ein „schwieriges“ Kind, und ich war ein „schwieriger“ Jugendlicher. Ich habe vieles von vielen Mitmenschen empfangen, man vertraute mir und übergab mir Verantwortung. Diesen Anforderungen versuchte ich gerecht zu werden. Meine Biographie vom ältesten Sohn einer Kleinbauernfamilie über Lehre und Studium zu Leitungsaufgaben in einem Rechenzentrum ist nur in der DDR so möglich gewesen, dank der Unterstützung vieler Mitmenschen. Ich fand Aufgaben, an der gesellschaftlichen Entwicklung mitzuwirken, hier habe ich mich engagiert. Das bestimmte meinen Weg in der DDR, den ich erfolgreich gehen konnte, für mich, die Familie, die sozialistische Gesellschaft.

Dieter Bauke 


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