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Spätes
Erwachen
(Halle)
Zum Zeitpunkt der Ereignisse lebte und arbeitete ich in Halle als Angehöriger der KVP-Dienststelle II. Wir waren Offiziersschüler einer Nachrichtenoffiziersschule. Bis zum 17. Juni 13 Uhr verlief unser Ausbildungsdienst ganz normal. Einzige Ausnahme war, daß der Wachzug vom 16. zum 17. Juni über eine besondere Wachsamkeit zum Schutz des Objekts belehrt wurde.
Nun zum 17. Juni. Ich betone nicht zufällig die Uhrzeit 13 Uhr. Denn zu diesem Zeitpunkt rückten wir zum Mittagessen ein. Als wir eben Platz nehmen wollten, gab es Alarm. Meine Reaktion war: „Wie kann man hier seine Erbsen in Ruhe essen?" Diese laute Bemerkung brachte mir und einem Kameraden den Befehl ein, die Lage aufzuklären, allerdings in Zivilkleidung. Wir dachten, daß die Übung diesmal wohl besonders echt aussehen sollte.
Nach dem unauffälligen Verlassen der Kaserne in der Paracelsusstraße, ca. 15 Minuten Fußweg vom Zentrum entfernt, mußten wir allerdings feststellen, daß auf den Straßen der Teufel los war. Kein Fahrzeug fuhr, alle politischen Losungen lagen auf der Straße. Volkspolizisten in Uniform und als Funktionäre erkennbare Personen erhielten Prügel. Die Massen, alt und jung, strömten in breiter Front zum Hallenser Markt. Ständig wurde gerufen: „Die Regierung muß weg", und man führte auch entsprechende Losungen mit. Wir wurden zum Mitkommen aufgefordert und zogen mit, um die Lage zu sondieren. Auf dem Marktplatz angekommen, hörten wir über Lautsprecher die Stimme von Erna Dorn1, über die ich damals allerdings noch nichts wußte. Sie schwang sich zur Sprecherin der Versammlung auf, forderte demokratische Wahlen und fand damit viel Anklang. Danach sprach sie vom geliebten Führer, dessen Politik nun wieder fortgeführt werden müßte. Diese Ausführungen ließen meinen Kameraden und mich stutzen. Ähnliches hatten wir zuletzt als Schuljungen gehört und waren nun erschrocken, wie diese Ansprache der Erna Dorn bejubelt wurde.
Es gelang uns, ohne Aufsehen wieder zum Objekt zu gelangen. Dort waren inzwischen sämtliche Kompanien in Alarmbereitschaft versetzt worden. Danach folgte der Befehl zum Ausrücken Richtung Stadtzentrum. Die Post und andere wichtige Einrichtungen waren zu sichern sowie die von Demonstranten besetzten oder erstürmten Einrichtungen wieder in Besitz zu nehmen. Dazu gehörte das Zuchthaus, welches zugleich Untersuchungsgefängnis war. Außerdem gab es die generelle Anweisung, die Bevölkerung nicht zu provozieren und nur beim Angriff auf die eigene Person von der leeren Schußwaffe (Karabiner bzw. Maschinenpistole) durch Schlag oder Stoß Gebrauch zu machen.
Wir gelangten auf den Marktplatz, konnten die Menschenmassen etwas zerteilen und die Post sowie andere öffentliche Gebäude besetzen, um Zerstörungen - beispielsweise das Durchtrennen der Fernsprechkabel - zu verhindern.
Beim Anrücken auf das Zuchthaus wurden wir aus Handfeuerwaffen beschossen, die man den dortigen Wachmannschaften abgenommen hatte. Da wir auf den Feuerstoß nicht vorbereitet waren, gab es auf unserer Seite einige Verwundete. Der Kompaniechef verlor die Nerven und stammelte unsinnige Befehle. Mir fiel nichts Besseres ein, als, so laut ich konnte, „Hinlegen!" zu brüllen. Es klang nicht sehr militärisch, half aber. Danach krochen wir in die Deckung von Hauseingängen, Fahrzeugen und anderen Schutzmöglichkeiten, die wir auf der Straße sahen. Das Zuchthaus, im Volksmund „Roter Ochse" genannt, erreichten wir nicht, konnten aber feststellen, daß Volkspolizisten noch Teile der Gebäude besetzt hielten.
Die uns befohlene Diskussion mit den auf dem Marktplatz versammelten Menschen erwies sich als unmöglich. Über Lautsprecher wurde zur Räumung von Straßen und Plätzen aufgefordert. Panzer waren zu hören, die auf die Stadtmitte zurollten. Als die Menschen flüchteten, wurden im Gedränge mehrere von ihnen verletzt. Unser Sanitätspersonal versorgte sie, obwohl es zu schweren Ausschreitungen gegen die Helferinnen kam. Hier erlebte ich erstmals den Schußwaffeneinsatz der Rotarmisten. Dabei gab es erneut Verletzte und offensichtlich Tote, wie wir aus dem späteren Abtransport entnahmen. Wir selbst hatten keine Munition und konnten den Mädchen nur mit der leeren Waffe beistehen - was wir auch taten, da wir den Angriff auf das Personal der Rotkreuzwagen als unerhörten Akt empfanden. Nach Räumung des Marktplatzes und Besetzung der genannten öffentlichen Gebäude mit Ausnahme der Haftanstalt rückte unsere 4. Kompanie in die Kaserne ab.
Am späten Abend des 17. Juni strömten mehrere tausend Menschen vor das Tor unseres Objektes. Erneut hörte ich die Stimme von Erna Dorn. Über Lautsprecher forderte sie uns zur sofortigen Waffenübergabe auf. Ihr Ansinnen begründete sie damit, daß amerikanische Panzereinheiten im Anmarsch seien und jeder Widerstand unnötiges Blutvergießen bedeute. Für dieses Ultimatum erhielten wir nur wenige Minuten Bedenkzeit. Wir lehnten es geschlossen ab und verhinderten das gewaltsame Eindringen in unser Objekt durch Gebrauch der Schußwaffen. Zu dieser Maßnahme sahen wir uns berechtigt, da trotz unserer mehrmaligen Warnung, von der Waffe Gebrauch zu machen, eine militärische Einrichtung erstürmt werden sollte. Wie später bekannt wurde, gelang der Sowjetarmee unmittelbar danach die Festnahme der Dorn. In der Nacht sowie am Folgetag herrschte weitgehend Ruhe in der Stadt Halle und den umliegenden Ortschaften. Wir trafen auch nicht auf vermutete bzw. angekündigte Agententrupps.
Am Abend des 19. Juni wurde ich zur Doppelstreife vor dem Objekt eingesetzt und während der Dienstausübung durch einen gezielt geworfenen Dachziegel am Kopf verletzt. Dies erfuhr ich erst Ende August im Moskauer Universitätskrankenhaus. So lange hatte ich ohne Bewußtsein mit einem doppelten Schädelbasisbruch dort gelegen. Mir wurde erklärt, daß eine fachgerechte Behandlung damals nur in Moskau erfolgen konnte.
Dr. Günter Weber
1
Lt. einer
Veröffentlichung des Dietz-Verlages („Die Kommandeuse", Berlin 1993)
ist die wahre Identität der Erna Dorn bisher ungeklärt. Fest steht, daß
sie am 22.6.1953 vom 1. Strafsenat des Bezirksgerichtes Halle/Saale in einem Verfahren, in
dessen Durchführung nach heutiger Erkenntnis Fehler auftraten, zum Tode
verurteilt und am 1.10.1953 in Dresden hingerichtet wurde. Sofern sie in den
vorliegenden
Zeitzeugenberichten erwähnt wird, geschieht das im Sinne damaliger
subjektiver Erlebnisse
und Informationen.
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