vorhergehender Beitrag |
Steine statt Worte
(Dresden)
Achtzehn Jahre war ich alt, und der 17. Juni begann für mich wie jeder andere Arbeitstag. Wie immer zwängte ich mich in die vollbesetzte Straßenbahn, stieg am Postplatz um und erreichte gegen 6 Uhr das Sachsenwerk Niedersedlitz. In einem großen Strom ergoß sich, von allen Seiten kommend, die Menge der Werktätigen in den Betrieb. Der Arbeitstag nahm seinen Lauf.
Plötzlich, es war noch früh am Tage, ertönte die Werkssirene. Wir horchten auf! Hörten auf zu arbeiten! Was war geschehen? Vermutungen wurden geäußert. Der Meister unserer Abteilung wurde ans Telefon gerufen, teilte uns anschließend mit, daß die Arbeiter anderer Betriebe auf die Straße gingen und bat uns, unseren Arbeitsplatz nicht zu verlassen. Doch noch während er sprach, verließen die Angestellten die Büroräume. Voller Neugier folgte ich ihnen. Aus allen Werkhallen und Büros strömten nun die Menschen zum Werktor hinaus auf die Straße und liefen in Richtung Stadtinneres. Manche schrieen - und was sie schrieen, erschreckte mich. Ich verstand die Welt nicht mehr! Wir wollten doch gemeinsam ein besseres Deutschland aufbauen? Und nun dies? Warum nur dieser Marsch? Ich blieb am Werktor stehen, und als die Straße beinahe menschenleer war, ging ich zurück ins Büro. Der Meister und ich arbeiteten weiter. Eine Erklärung für meine Fragen hatte er nicht.
Später erfuhren wir, Otto Buchwitz spricht im Betrieb. Auf dem Fabrikhof versammelte sich eine Menge Menschen. Ich staunte, wie viele, gleich mir, zurückgeblieben waren. Doch Otto Buchwitz kam nicht zu Worte. Der Lärm war zu groß. Es entstand Tumult, und Steine flogen. Unverrichteter Dinge fuhren Otto Buchwitz und seine Begleiter weg, die Erregung ebbte ab, und in Gruppen gingen die Menschen auseinander. Zu Fuß, denn meine Straßenbahn fuhr nicht, trat ich an diesem Tag den langen Heimweg an und hatte viel Zeit, nachzudenken über die Unzufriedenheit so vieler Menschen.
Annemarie Walther
vorhergehender Beitrag |