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Zwischen Philosophie und Theater
(Jena)
Für „meinen" 17. Juni 1953 war eigentlich der Vortag entscheidend, aber genaugenommen war es das ganze Studienjahr, das ich als Student der Philosophie, Zweitfach Germanistik, an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena erlebte.
Ich war als Oberschüler von Görlitz aus an dieser Universität immatrikuliert worden und wohnte, da ich in Jena keine Unterkunft fand, bei zwei Tanten in Weimar, Breslauer Verwandten, die es über Bayern nach Thüringen verschlagen hatte. In Görlitz hatte ich die letzten beiden Jahre in der Familie des Oberkonsistorialrates Walter Lintzel und seiner Frau Elisabeth, einer Akademikerin und Mutter von vier Kindern, gelebt. Eins davon war mein Klassenkamerad Detlev. Als wir einige Zeit lang bei ihm zu Hause nachmittags zusammen Schularbeiten gemacht hatten und ich danach jeden Abend heimfahren mußte, sagte Mutter Lintzel eines Tages, ich könnte, falls meine Leute nichts dagegen hätten, doch auch bei ihnen wohnen und nur die Wochenenden in Quolsdorf verbringen, wo wir im Mai 1945 gelandet waren und nach vielen Kümmernissen und Entbehrungen eine zweite Heimat gefunden hatten. Das war ein großes Glück für mich, denn in der Familie dieser gebildeten Bürgersfamilie wurde mir nicht vorenthalten, was damals unser Leben ausmachte: Teilen der nicht überreichlich vorhandenen Nahrungsmittel, menschliche Zuwendung, Besuch von Konzerten in der Stadthalle und von Theateraufführungen, gemeinsames Lesen von klassischen Stücken, Skatspielen und viele Gespräche über die Probleme, mit denen wir Sechzehn-, Siebzehnjährigen zu tun hatten. Auch als mein Freund Detlev aus politisch motivierten Gründen von der Görlitzer Oberschule gefeuert worden war, verblieb ich in der Lintzel-Familie. Daß ich mich zum Philosophie-Studium entschlossen hatte und nicht gleich ans Görlitzer Theater gegangen war, wo ich bereits eine Praktikanten-Stelle angetreten hatte, verdanke ich ganz entscheidend meinen Pflegeeltern, die wie wir aus Breslau stammten.
Während
der Görlitzer Oberschulzeit lernten Detlev und ich zwei junge Mädchen kennen,
die, von der Dresdner Fachschule kommend, hier ihr Praktikum als Säuglingsschwestern
absolvierten. Das Kennenlernen mündete in eine Liebesbeziehung, aus der
wenig später zwei Ehen wurden. Christa und ich heirateten während meines
ersten Studienjahres am 1. April; am
1. Juli wurde unser Sohn Matthias geboren.
Es waren also zwei Dinge, die mir das Studium in Jena wenig angenehm machten: meine Liebe zum Theater und mein Getrenntsein von der Liebsten.
Und ein Drittes kam hinzu: die bei den Philosophen in Jena zu der Zeit herrschende große Unduldsamkeit gegenüber allen Studenten, die sich nicht als kämpferisch und klassenbewußt gegenüber den bürgerlichen Professoren und ihren Lehren erwiesen. Das große Maß von Intoleranz ging vor allem von Absolventen aus, die von der ABF111 - auf direkte Weisung der Partei - nach Jena zum Philosophie-Studium beordert worden waren. Ihnen war es vorrangig zu „danken", daß bereits im ersten Semester ein Dutzend von Studenten entweder rausgeschmissen worden oder von selber gegangen war. Ich sollte der Dreizehnte sein. Aber auch, als ich auf reichlich mysteriöse Weise vom Studium ausgeschlossen worden war und meine Gegner schon frohlocken konnten, wieder ein „bürgerlich verseuchtes Element" losgeworden zu sein, tat ich ihnen nicht den Gefallen. Da ich fest davon überzeugt war, daß alle gegen mich gerichteten Anwürfe einer ehrlichen Auseinandersetzung nicht standhalten würden, rüstete ich mich zum Kampf für das weitere Verbleiben an der Universität in dem von mir nicht übermäßig gemochten Studium. Von Dresden aus schickte ich an das Prorektorat für Studienangelegenheiten ein mehrere Seiten umfassendes Pamphlet, in dem ich auf alle „Anklagepunkte" detailliert einging und Verleumdungen von evtl. berechtigten Vorwürfen unterschied. Vielleicht war es diese Art der Verteidigung, die Prof. Dr. Arnold veranlaßte, mir die gewünschte Möglichkeit zur Aussprache bei Rektor Prof. Dr. Hähmel einzuräumen. Die wurde für den 16. Juni angesetzt und fand auch statt, obwohl zu dieser Zeit der Studienbetrieb schon ruhte und die meisten der Kommilitonen bereits im ersten Berufspraktikum waren, und zwar in der Landwirtschaft. Zu meinen Unbot-mäßigkeiten hatte es auch gehört, daß ich mir mein erstes Praktikum an den Landesbühnen in Dresden-Radebeul besorgt und dafür nachträglich auch die Zustimmung der Universität bekommen hatte.
Am 16. Juni also erschien ich bei Seiner Magnifizenz und saß ihr, dem Dekan und den Vertretern der Partei- und FDJ-Leitung gegenüber. Das Gespräch verlief, wie es mir in Erinnerung ist, ruhig und konzentriert und war nach einer knappen halben Stunde beendet. Danach erhob sich der Rektor von seinem Platz, ging um den Tisch herum, gab mir die Hand und sagte, daß ihn - und wohl auch die anderen Herrschaften - die Darlegung meines Standpunktes sehr überzeugt habe, daß von einer Exmatrikulation nicht die Rede sein könne und er mir alles Gute für mein weiteres Studium wünsche. Die Leute, die ich seinerzeit als meine Nichtfreunde empfinden mußte, sagten kein Wort, weder ein zustimmendes noch ein gegensätzliches, ihre Augen signalisierten nicht gerade übergroße Freude über die Lösung dieses Konfliktes, aber ich konnte mir einbilden, als Sieger aus diesem Gefecht hervorgegangen zu sein.
Weshalb ich am 17. Juni noch einmal von Weimar aus nach Jena fuhr, ist mir nicht mehr in Erinnerung; wahrscheinlich geschah es deshalb, weil ich noch Gespräche wegen der Zwischenprüfung zu führen hatte, von der ich wegen meiner Beurlaubungvom Studium ausgeschlossen worden war, und die ich natürlich nachholen mußte; nicht zuletzt, um weiterhin mein schönes Stipendium zu erhalten, das mir als Sohn eines Lokomotivführers der Arbeiter-Bauern-Staat zahlte, ohne es später zurückzufordern.
Als ich mich am frühen Vormittag des 17. Juni vom Bahnhof Jena-West aus wohlgemut zum Büro unseres Seminars begab, was sich damals in der Goetheallee befand, die heute wieder Fürstengraben heißt, begegnete ich unterwegs einer großen Anzahl von Demonstranten, darunter vielen Leuten in weißen Kitteln. Ob sie Transparente trugen, weiß ich nicht mehr genau, aber was sie sprechchorartig von sich gaben, ist mir in heller Erinnerung, nämlich: „Spitzbart, Bauch und Brille ist nicht des Volkes Wille." Ich kann nicht behaupten, daß mir diese Art von Demonstration in irgendeiner Weise zusagte; sie erschien mir auf andere Art so überflüssig wie der Trauermarsch, zu dem wir Studenten, zusammen mit unseren Professoren, kurz nach dem Tode des großen Stalin verpflichtet worden waren. Aber hatte ich damals an dieser Kundgebung, wenngleich nicht mit großer Lust, teilgenommen, so hätten mich keine zehn Pferde veranlassen können, die Reihen der hier und heute Demonstrierenden zu stärken und ihre Parolen zu unterstützen. Und dabei war ich zu diesem Zeitpunkt, dank der Erlebnisse und Erfahrungen während des ersten Studienjahres, alles andere als ein überzeugter Anhänger von Ulbricht, Pieck und Grotewohl, aber zu ihren Gegnern oder gar Feinden hätte ich mich doch auch nicht erklären können. Wie ich zur Partei und zum Staat stand, hatte ich am Vortage gerade erst öffentlich kundgetan, und mir war ja sogar, wenn auch widerstrebend, von meinen Gegnern Gerechtigkeit widerfahren; ich hatte wahrlich keinen Grund, mich an der Beseitigung einer Ordnung zu beteiligen, die mir Oberschule und Studium ermöglichte, der ich nicht ablehnend gegenüberstand, selbst wenn einige ihrer Vertreter mich zu ihrem Feind hatten erklären wollen. Außerdem war mir zu diesem Zeitpunkt der ganze Polifkram, dessen Ausmaße ich keineswegs übersah, vermutlich auch ziemlich egal. Freilich, ich hatte bloß gelacht, als mir einige linientreue FDJler im Vorfeld des 17. Juni weismachen wollten, daß die Erhöhung der Marmeladenpreise von der Weisheit des Arbeiter- und Bauern-Staates ebenso zeugen sollte wie die Raufsetzung der Normen für die Arbeiter, aber ich hatte kein Bedürfnis, mich übertrieben für oder gegen das alles zu engagieren, mir ging es in erster Linie um die Liebe zu meiner Frau und dem zu erwartendem Kind und um die Frage, wie ich mir am besten und schnellsten meinen Berufswunsch erfüllen konnte, und der hatte mit dem Theater zu tun.
Als ich zu dem Gebäude kam, in dem sich ebenerdig die Räumlichkeiten unseres Seminars befanden, wurde ich mit einer weiteren Ungeheuerlichkeit dieses Tages konfrontiert: eine aufgeregte Schar von Leuten hatte aus dem benachbarten Lokal der Nationalen Front Akten, Broschüren und Bücher auf die Straße geworfen und war jetzt dabei, auch die Bibliothek des philosophischen Seminars einer ebensolchen Behandlung zu unterziehen. Zusammen mit der schon etwas älteren Sekretärin versuchte ich den Leuten klarzumachen, daß diese Bücher keineswegs der Nationalen Front, sondern den Philosophen der Universität gehörten, aber zu meiner großen Verwunderung beeindruckte sie das überhaupt nicht; Bücher waren Bücher, gleich welchen Geistes, und gehörten auf die Straße geworfen, und wer sie daran hindern wollte, war hinreichend verdächtig, ein Roter zu sein und hatte Glück, wenn er dafür nur Prügel bezog, die wir dann auch erhielten, ohne diese Bücherfeinde an ihrem idiotischen Tun hindern zu können.
Es war schon einigermaßen kurios: hatte ich in den letzten Monaten - im übertragenen Sinne - von den staatstreuen Genossen Dresche gekriegt, weil ich ihnen nicht bekenntnishaft genug gewesen war, so bekam ich jetzt meinen Teil, weil ich im Verdacht stand, zu denen zu gehören, gegen die sich der „Zorn des Volkes" kehrte. Auf meine Frage an die Sekretärin, wieso sich keiner von unseren in Jena verbliebenen klassenkampferfahrenen Kommilitonen blicken ließ, erfuhr ich, daß einige von ihnen sich in die oberen Etagen zurückgezogen hätten, vor dem Radio säßen, um von Berlin aus zu erfahren, wie sie sich verhalten sollten. Ich glaube, daß ich diese Nachricht damals mit einem Lachen zur Kenntnis nahm, das ein Gemisch von Schadenfreude, Spott und Ingrimm sein mochte. Aber der Umgang mit Büchern und Schriften an diesem Tag von Leuten, welche zugleich den Abtritt der Regierung und Parteispitze forderten, war der zweite bleibende Eindruck, den dieser 17. Juni bei mir hinterließ.
Den dritten Eindruck erhielt ich am Abend dieses ereignisreichen Tages. Am Mittag war ich - wieso, weiß ich nicht mehr - am Bahnhof in einen Kreis von Studenten geraten, ältere Semester zumeist, deren Vertreter für die Zukunft große Veränderungen prophezeiten. Ich weiß nicht, ob ich damals von diesen Weissagungen sehr beeindruckt war; auf jeden Fall fuhr ich am Nachmittag mit dem Zug - die Eisenbahn verrichtete also auf dieser Strecke an diesem Tage ihren Dienst - von Jena nach Dresden. Die Wohnung meiner Schwiegereltern, wo ich meine Frau wußte, befand sich in der Max-Klinger-Str. 8 in Strehlen. Der Zug muß in den späteren Abendstunden im Hauptbahnhof eingetroffen sein; jedenfalls zu einer Zeit, in der wegen der angeordneten Sperrstunde das Verlassen des Bahnhofs bereits verboten war. Erinnere ich mich richtig, wenn ich meine, daß vor dem Haupteingang des Bahnhofes einige Panzer standen? Ich weiß es nicht mehr genau. Jedenfalls verließ ich trotz des Verbotes zusammen mit einigen Reisenden den Bahnhof durch einen Hinterausgang und schlich mich, vorwiegend auf Nebenstraßen, bis in die Siedlung, deren Straßen nach den Namen vieler Maler benannt waren und es bis heute auch noch sind. Hier wurde ich bereits sehnsüchtig erwartet und habe bestimmt eine Schüssel Erdbeeren vorgesetzt bekommen, die meine Frau am Nachmittag im großelterlichen Garten, nahe der Zwinglistraße, gepflückt hatte. In Erinnerung ist mir noch ihr kariertes Umstandskleid mit dem grauen Vorderteil, das durch ihren mächtig dicken Bauch in den letzten Wochen immer größer geworden war.
So endete dieser Tag für mich und die Meinen. Überaus glücklich trat ich in der darauffolgenden Woche mein Theaterpraktikum an den Landesbühnen an, und zwei Wochen nach dem 17. Juni wurde der Sohn geboren. Weder ging ich danach nach Jena zum weiteren Studium der Philosophie zurück, noch begann ich an der Pädagogischen Hochschule in Dresden das Studium der Geographie und der Geschichte – was mir nach dem Sieg, den ich in Jena errungen hatte und weil ich bei meiner Familie sein wollte, zunächst geraten schien - , nein, im September des schicksalträchtigen Jahres 1953, mit seinem 17. Juni in der Mitte, begann ich am Stadttheater Senftenberg, neunzehnjährig und junger Familienvater, meine Arbeit als Dramaturg für eine Monatsgage von 400,- Mark. Aber das ist schon eine andere Geschichte.
Armin Stolper
1 ABF - Arbeiter- und Bauernfakultät
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