vorhergehender Beitrag |
Schlagt sie tot
(Berlin)
Zu diesem Zeitpunkt war ich Kursant an der Polit-Offiziersschule der Kasernierten Volkspolizei (KVP) in Berlin-Treptow.
Am Wochenende vor dem 17. Juni befand ich mich auf Sonderurlaub in Leipzig zur Verlobung mit meiner heutigen Frau. Die Feier war überschattet von teilweise erregt geführten Diskussionen über die größer werdenden Versorgungsschwierigkeiten, die willkürlichen Normenerhöhungen, den Entzug der Lebensmittelkarten für bestimmte Kategorien der Bevölkerung sowie zunehmende Tendenzen, anstehende Probleme vorrangig mit administrativen Mitteln lösen zu wollen. Ich empfand diese Diskussionen als bedrückend, denn an unserer Schule wurden derartige Probleme und Schwierigkeiten nur unterschwellig besprochen. Wir Kursanten kannten ihre Tragweite ebensowenig wie das Ausmaß und die Gefährlichkeit der Spionage- und Diversionstätigkeit westlicher Geheimdienste, „Kampfgruppen" und „Ostbüros". Außer zum Besuch von Theaterveranstaltungen verließen wir kaum das Objekt und kamen deshalb auch nicht mit der Bevölkerung in Kontakt. Beim Abschied gab mir mein Vater mit Tränen in den Augen den Ratschlag, „gut auf mich aufzupassen".
Nach meiner Rückkehr an die Schule bat ich um ein Gespräch beim Stellvertreter des Kommandeurs und Leiter der Politabteilung, Oberst Otto Schwab - einem erfahrenen, gütigen und kampferprobten Kommunisten. Er versuchte, mir den „Neuen Kurs" von Partei und Regierung im Zusammenhang mit den Problemen der inneren Entwicklung der DDR und einer sich immer mehr zuspitzenden internationalen Situation zu erläutern. Allerdings scheint mir aus heutiger Sicht, daß offenbar selbst ihm die Tragweite der inneren Widersprüche, die Unzufriedenheit der Ostberliner Bevölkerung sowie die Gefährlichkeit der auf Westberliner Gebiet vorbereiteten Handlungen gegen die DDR nicht voll bewußt waren. Wir Kursanten wurden jedenfalls durch unsere Alarmierung in der Nacht vom 16. zum 17. Juni 1953 sowie den darauffolgenden Einsatz in Berlin völlig überrascht.
Wie jeder andere Angehörige der 10. Kompanie erhielt ich meine strukturmäßige Waffe, den „Karabiner 100", ohne Munition. Während des nächtlichen Appells erläuterte uns Oberst Schwab in kurzen, eindringlichen und verständlichen Worten die politische Situation sowie unsere Aufgabe, „als entscheidende Voraussetzung für den weiteren Aufbau der Grundlagen des Sozialismus in der DDR im demokratischen Sektor von Berlin Ruhe und Ordnung wiederherzustellen". Vom Kommandeur unserer Schule, Generalmajor Friedrich Dickel, erhielt unsere 10. Kompanie als erste den Einsatzbefehl. Die Aufgabe bestand darin, einen Bereitschaftsraum zu beziehen, um gegebenenfalls den Grenzübergang Oderbaumbrücke unter Kontrolle zu bringen. Allein über diesen Übergang kamen in den Morgenstunden des 17. Juni Tausende aus Westberlin in den Ostteil der Stadt, um sich am „Volksaufstand" zu beteiligen.
Als zwei unserer Offiziere die Situation unmittelbar am Grenzübergang beurteilen wollten, wurden sie unter Rufen wie „Schlagt sie tot!" handgreiflich bedroht. Sie konnten sich diesen Übergriffen nur durch die Flucht in eine Baracke des Amtes für Zoll- und Warenkontrolle entziehen. Diese wurde daraufhin von Westberliner Provokateuren mit Benzin übergössen und angezündet. Das Leben der beiden Genossen konnte nur durch den Einsatz eines Teils unserer Kompanie mit aufgepflanztem Bajonett gerettet werden. Danach riegelten wir den Grenzübergang ab und stellten die Ordnung entsprechend den Gesetzen der DDR wieder her. Währenddessen wurden wir von Westberliner Seite unaufhörlich beschimpft, sowie mit Steinen, Molotowcocktails und anderen Gegenständen beworfen. Die Situation war äußerst gespannt, die Stimmung aggressiv, und sie wurde immer mehr angeheizt. Aber wir erreichten an dieser Stelle -ebenso wie bei allen anderen Einsätzen an der offenen Grenze zu Westberlin - durch unser besonnenes Verhalten, daß sich die Westberliner zunehmend in „respektvoller Entfernung" von den „Stalinschülern" aufhielten. Das trug eindeutig zur Verhinderung weiterer Provokationen bei.
Im weiteren Tagesverlauf wurden wir am Alexanderplatz eingesetzt, auf dem sich Zehntausende Demonstranten beider Teile Berlins drängten. Einige Personen schrien Losungen, in denen die Beseitigung der DDR gefordert wurde. Wir erhielten den Auftrag, den Alexanderplatz im Zusammenwirken mit Teilen einer sowjetischen Mot-Schützen-Kompanie von den Menschenmassen zu räumen und das Polizeipräsidium zu entsetzen. Auch zu diesem Zeitpunkt hatten wir keine Munition am Mann. Dagegen waren die sowjetischen Kräfte, die durch einen Panzer T-34 unterstützt wurden, mit MPi, lMG und sMG bewaffnet und aufmunitioniert. Unser Einsatz erfolgte aus Richtung Beimlerstraße in Richtung der heutigen Rathauspassagen. Nachdem die Soldaten der Sowjetarmee von Demonstranten mit Steinen beworfen worden waren, gaben sie Warnschüsse in die Luft ab. Dies löste eine Panik aus, und nach ca. 20 Minuten war der Alexanderplatz von den Demonstranten geräumt. Obwohl es hin und wieder anderes behauptet wird, wurde dabei niemand getötet.
Bei allen unseren Einsätzen drängte sich mir immer wieder der Eindruck auf, daß Bedrohung, Gewalt, Verwüstung und Mord durch zielgerichtete Handlungen Westberliner Organisationen und Einrichtungen initiiert wurden. Dadurch eskalierten die überwiegend sozial bzw. auch politisch motivierten Demonstrationen oft zu Gewalttätigkeiten, die von der Masse der Ostberliner nicht gewollt waren. Das erfuhren wir in vielen Gesprächen mit Einwohnern, die sich von derartigen Handlungen distanzierten.
Am Nachmittag des 17. Juni erhielt die 10. Kompanie den Befehl zum Einsatz am Michaelkirchplatz, um u. a. Mitarbeiter im Bundesvorstand des FDGB zu schützen, dessen Gebäude von einer aufgeputschten Menschenmenge bedrängt wurde. Offenbar hatte dabei die nahegelegene Geschäftsstelle der „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit" (Bezirk Kreuzberg) ihre Hand im Spiel. Nach Zurückdrängung dieser „Demonstranten" über die Sektorengrenze konnten wir in den nachfolgenden Tagen das Gebäude des FDGB-Bundesvorstandes und den Abschnitt Michaelkirchplatz zu Westberlin zuverlässig sichern. Dabei wurden von Westberliner Gebiet (Bezirk Kreuzberg) wiederholt Schüsse aus klein- und großkalibrigen Waffen auf unsere Posten abgegeben. Daß dabei keiner getötet oder verletzt wurde, ist nur unserem „gefechtsmäßigen Verhalten" zu verdanken. Denn die gemeinsam mit uns handelnden Soldaten der Sowjetarmee - mit denen uns in diesen Tagen ein brüderliches Verhältnis verband - konnten uns wichtige Erfahrungen vermitteln. An diesem Standort erhielten wir erstmals Munition - allerdings verbunden mit einem strikten Schießverbot. Dieser Befehl wurde bis zum Ende unseres mehrwöchigen Einsatzes ununterbrochen aufrechterhalten. Im Anschluß an den Einsatz am Michaelkirchplatz hatten wir die noch immer offene Grenze zu Berlin-West im Abschnitt Sonnenallee zu sichern.
Nach allem, was ich am 17. Juni 1953 an mehreren Brennpunkten des Berliner Geschehens erlebte, denke ich voller Hochachtung an das besonnene und zugleich entschlossene Handeln der Soldaten der Sowjetarmee zurück. Mit Sicherheit ist es in erster Linie ihnen zu verdanken, daß die Absicht unserer Gegner, durch Provozierung blutiger Auseinandersetzungen den Anlaß für eine militärische Intervention zu schaffen, scheiterte.
Werner Schmidt
vorhergehender Beitrag |