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Ein „Toter" saß im Gerichtssaal
(Leipzig)
Nachdem ich wenige Wochen zuvor wegen „Mißachtung übergeordneter Leitungen" als 1. Sekretär des Leipziger FDJ-Stadtbezirkes Eutritzsch/Gohlis abgelöst worden war, arbeitete ich damals als Instrukteur in der FDJ-Stadtbezirksleitung Leipzig/Plagwitz, Birkenstraße 18.
Die Wiedergabe typischer Stimmungen und Meinungen aus jener Zeit ist schwierig, denn zwischen 1945 und 1960 wurde besonders in Funktionärskreisen nicht nur viel, sondern auch sehr kontrovers diskutiert, und selbst ganz subjektive Argumente bis hin zu persönlichen Angriffen waren nicht ungewöhnlich. Deshalb gab es selbstverständlich auch bei uns allerhand Debatten zu den überspitzten Maßnahmen und der Anfang Juni 1953 eingeleiteten Kurskorrektur. Die Bevölkerung interessierte sich hauptsächlich für die unmittelbaren ökonomischen Auswirkungen und lokale Probleme. Forderungen nach der Einheit Deutschlands und allgemeinen Wahlen spielten in Leipzig zu keinem Zeitpunkt eine Rolle. Daß Walter Ulbricht nicht zu den beliebtesten Funktionären gehörte, war eigentlich kein Geheimnis. Aber selbst der an einigen Stellen auftauchende Spruch „Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille", führte zu Diskussionen unter den Demonstranten. Und gegen Wilhelm Pieck oder Otto Grotewohl wollte sich meines Wissens fast niemand wenden.
Am 17. Juni 1953 wurden wir zu Arbeitsbeginn über die Berliner Ereignisse vom Vortag informiert und sollten anschließend die Lage in den von uns betreuten Betrieben erkunden. Als kurz danach auch in Leipzig Versammlungen, Streiks und Demonstrationen begannen, wurden wir zurückbeordert. Gegen Mittag näherte sich vom Lindenauer Markt her eine lärmende Gruppe. Sie bestand aus 150 bis 200 Kindern und Jugendlichen, die von wenigen Erwachsenen begleitet wurden und zunächst ziemlich ratlos schienen. Erst nach mehreren Aufforderungen der Erwachsenen begannen sie dann Steine gegen unsere Fenster zu werfen, die dabei fast alle zerstört wurden. Wir wollten die Menge von der Tür verdrängen, versuchten deshalb einen Ausfall - und zogen uns sofort wieder zurück. Es wäre sinnlos gewesen, auf Kinder und Halbwüchsige einzuschlagen, während die fünf bis sechs älteren Rädelsführer ihre Meute wohlweislich von der anderen Straßenseite aus anstachelten. Nachdem zuvor keine Telefonverbindung zustandegekommen war, konnte einer von uns aber bei dieser Gelegenheit nach draußen gelangen und die inzwischen in der SED-Stadtbezirksleitung stationierte sowjetische Einheit informieren. Als danach in der Birkenstraße ein Rotarmist mit Maschinenpistole auftauchte, rannte der ganze Haufen samt seinen Anführern davon, ohne daß auch nur ein Schuß gefallen war.
In den Betrieben der Stadt hatte sich die Lage inzwischen unterschiedlich gestaltet, und auch die Menschen reagierten in dieser aufgeheizten Situation verschieden. Mir selbst sind nach derart langer Zeit vor allem einige Beispiele besonnenen und selbständigen Handelns erinnerlich.
Im VEB Bodenbearbeitungsgerätewerk (vorm. Rudolf Sack) bildete sich eine Streikleitung aus ehemaligen NSDAP-Mitgliedern und Berufssoldaten, die erst das Jahr 1945 zu Arbeitern gemacht hatte. Diese Leute beraumten eine Belegschaftsversammlung an und riefen dort zum Aufruhr auf. Zur allgemeinen Verwunderung stellte der Betriebsratsvorsitzende - ein alter, erfahrener Genosse - ihnen dafür sogar ein Mikrofon zur Verfügung. Allerdings war das daran angeschlossene Tonbandgerät für den späteren Prozeß sehr nützlich.
Der Parteisekretär des VEB IFA-Blechverformung (Hauptwerk) forderte sämtliche Betriebsangehörigen zur Besetzung des Betriebes und Fortführung der Arbeit auf. Nachdem fast alle diesem Aufruf folgten, wurden in den nächsten Tagen Sonderschichten gefahren - „weil man ja ohnehin im Betrieb war." Dessen Leitung lag während dieser Zeit in den Händen des Parteisekretärs. Nach dieser bestandenen Feuerprobe erschien es mir desto unverständlicher, daß er Ende 1953 oder Anfang 1954 wegen innerparteilicher Streitereien seiner Funktion enthoben wurde.
Zwischen Leitung und Belegschaft eines polygrafischen Werkes wurden unter Ausschluß betriebsfremder Personen konkrete Forderungen beraten und entsprechende Maßnahmen beschlossen. Dafür verpflichteten sich die Arbeiter, nicht an Demonstrationen teilzunehmen und den Betrieb zu sichern.
Nach meiner Kenntnis wurden auch die übrigen Leipziger Industrieanlagen und sonstige Einrichtungen trotz Streiks, Demonstrationen und Ausschreitungen von Belegschaftsmitgliedern geschützt. Bekanntlich entstanden kurz danach die ersten Betriebskampfgruppen, die u. a. auf den Traditionen des sozialdemokratischen „Reichsbanners", und des kommunistischen „Roten Frontkämpferbundes" fußten.
Allerdings zeigten sich während der Ereignisse auch völlig unerwartete Verhaltensweisen. So hatte einer meiner Bekannten erst vor wenigen Monaten seinen Dienst bei einem Wachregiment der Volkspolizei in Ehren beendet, war mit einer sehr aktiven FDJlerin verheiratet und zuvor nie durch gegnerische Haltungen aufgefallen. Nun zog er sich einen Bauchschuß bei dem Versuch zu, inmitten anderer Demonstrationsteilnehmer ein Leipziger Justizgebäude zu stürmen. Als ich ihn Monate danach traf, konnte er sein Verhalten selbst nicht recht erklären.
Die Mehrzahl der mir bekannten Funktionäre blieb standhaft, obwohl viel Verwirrung herrschte und in einigen Fällen sogar vorsorglich Akten vernichtet und die Illegalität vorbereitet wurden. Manche gerieten natürlich auch in besonders brisante Situationen, mußten sich blitzschnell entscheiden und handelten trotz Mut und bester Absicht falsch - zumindest nach Meinung ihrer späteren Kritiker. Beispielsweise berichteten uns Studenten der Arbeiter- und Bauernfakultät davon, daß sie im Hauptbahnhof Zeuge der gewaltsamen Entwaffnung von Transportpolizisten durch eine randalierende Menschengruppe wurden. (Bekanntlich hatten unsere bewaffneten Kräfte striktes Schieß verbot und oft nicht einmal Munition.) Daraufhin mischten sich die Studenten unter die Menge, verurteilten lautstark jede Bewaffnung und machten diese auch sofort unbrauchbar. Das gefiel den Krakeelern überhaupt nicht. Aber selbst vor den eigenen Genossen mußten sich die Studenten einige Wochen später wegen Zerstörung der Waffen verantworten. Denn statt dessen hätten sie den Transportpolizisten aktiven Beistand leisten sollen.
Nach den Juni-Ereignissen gab es auch kaderpolitische Konsequenzen. Allerdings kenne ich Beispiele von Funktionären, die während der Auseinandersetzungen zurückgewichen oder schwankend geworden waren und später trotzdem wieder verantwortliche Positionen bekleideten. In der Regel unterlagen sie dann aber entweder erneuten Schwankungen oder versuchten, Beschlüsse und vorgegebene Verhaltensweisen mit besonderer Härte durchzusetzen.
Selbstverständlich wurde die Entwicklung auch in Leipzig wesentlich durch die Verhängung des Ausnahmezustandes sowie die sichtbare Anwesenheit sowjetischer Truppenteile beeinflußt. Nach meiner Erinnerung dauerten die Ausgangsbeschränkungen u. ä. sogar länger als in Berlin. Wir kamen jedenfalls - außer zum Wäschewechseln -knappe 3 Wochen nicht nach Hause.
Anfang oder Mitte Juli nahm ich dann als Zuhörer an einem recht aufschlußreichen öffentlichen Prozeß teil, bei dem auch westliche Pressevertreter anwesend waren. Er wurde gegen einen Jugendlichen geführt, der sich in der Innenstadt als Aufputscher und zerstörerischer Rowdy besonders hervorgetan hatte. Sein Verteidiger war entweder ein westdeutscher Anwalt, oder er besaß zumindest irgendwelche Vollmachten von Institutionen außerhalb der DDR. Ich erinnere mich, daß deshalb gleich zu Beginn ein längeres Gerangel um Formalitäten stattfand. Das eigentlich Bemerkenswerte war jedoch, daß der putzmunter vor uns sitzende Angeklagte laut Westpresse zu den „Opfern des Volksaufstandes" gehörte, d. h. von KVP oder „Sowjets" erschossen worden war. Als Zeugin wurde seine Schwester vorgeführt, welche die Nachricht von seiner „Erschießung" an die Westpresse verkauft hatte. Ihre Tätigkeit im „Gewerbe" der Messestadt Leipzig war aktenkundig. Beide, Bruder und Schwester, wurden zu Haftstrafen verurteilt.
Die wesentliche Ursache für das Scheitern des Putschversuches sehe ich darin, daß er keine wirkliche Massenbasis erlangen konnte. Denn als nach den ersten Streiks und Demonstrationen deutlich wurde, daß sich vorwiegend Kräfte aus der Vergangenheit an die Spitze gestellt hatten und sogar zur Wiederherstellung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse sowie Rückkehr der ehemaligen Besitzer aufgerufen wurde, griff zunehmende Ernüchterung um sich. Die Mehrheit hatte Kapitalismus und Krieg noch am eigenen Leibe erlebt und lehnte außerdem die stattgefundenen Übergriffe ab. Selbst die westlichen Besatzungsmächte wagten es damals nicht, derartige Zielstellungen offen zu unterstützen. In der SED war der Arbeiteranteil relativ hoch, die Verbindung der mittleren und unteren Funktionäre zur Basis noch gegeben, und die innerparteiliche Demokratie gewährte den Partei- oder Gewerkschaftsorganisationen relativ viel Selbständigkeit. Das allmähliche Verschwinden dieser positiven Faktoren wirkte sich später verhängnisvoll aus.
Eigentlich habe ich nie verstanden, weshalb diese Klassenauseinandersetzung in der DDR nicht offen ausdiskutiert wurde. Durch ihr „verschämtes Verschweigen" wurde die Bedeutung der Junitage 1953 hochstilisiert, was von politischen Gegnern bis in die Gegenwart hinein kräftig ausgenützt wird.
Karlfred
Pientka
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