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Lichtsignale vom Nikolaikirchturm

(Leipzig)

 

Die Bezirksleitung der FDJ befand sich in einem Gebäude der Ritterstraße. Das Sekretariat lag im zweiten Stockwerk. Ich war damals amtierender Sekretär für die Pionierorganisation.

Es ging so los: am Morgen kommen Demonstranten gezogen. Die singen Arbeiterlieder. Viele tragen Bauarbeiterkleidung. Bauleute sind es aus der Windmühlenstraße, der beginnenden Ringbebauung. Mir äallt auf, daß einige von ihnen ganz neue Bauarbeiterkleidung anhaben, die ist offenbar noch nicht ein einziges Mal gewaschen worden. Fensterputzleitern werden angestellt, um ein Transparent abzureißen, das zum Gebäude der Karl-Marx-Universität hinüber gespannt ist. Warum reißen sie das Transparent ab? Einige Mitarbeiter der Bezirksleitung stürzen auf die Straße, ich auch. Als wir unten an die Tür kommen, werden wir bereits belagert. Nicht alle von uns, die draußen auf der Straße stehen, kommen wieder herein. Sie werden verprügelt. Wir wollen die Tür zudrücken, aber die Demonstranten stemmen schon die Fuße dazwischen. Der Pförtner will seine Loge abschließen. Da bricht die Menge herein. Ich werde eingequetscht und bekomme eine Tracht. Blut läuft mir in die Augen. Noch können wir uns befreien und auf die erste Etage zurückziehen. Die Demonstranten verstärken aber den Druck. Im Erdgeschoß hatte eine Zusammenkunft von Politstellvertretern der MTS stattgefunden. Leider haben es die Genossen vorgezogen, durchs Fenster zu flüchten, Richtung Hauptbahnhof abzuhauen. Sie waren jetzt eine gute Verstärkung für uns gewesen. Mit allen Mitteln wollen wir, weil wir ahnen, was sich abspielen wird, die Kaderregistratur schützen. Ein paar schwangere junge Frauen setzen sich vor die Tür in der Annahme, die Eindringlinge würden sie nicht anrühren. Aber die stürzen unsere Madchen die Treppe hinunter. Was geht hier vor? Sind das wirklich Arbeiter? Bauarbeiter?

Ein paar Genossen vom Sekretariat und andere Mitarbeiter halten sich im kleinen Versammlungssaal auf und harren dort der Dinge. Sie sind gelähmt, aktionsunfähig. Immerhin beobachten sie die Straße. Die Bezirksbehörde der Volkspolizei schickt einen Kommandowagen mit Polizisten. Die tragen aber nur Mützen, keine Helme. Der Wagen wird umgekippt. Mit Latten schlagen einige Demonstranten von hinten auf die Kopfe ein. Die meisten Polizisten werden entwaffnet. Drei oder vier haben aber die Türe der Bezirksleitung erreicht und schützen den Eingangsbereich. Sie nehmen nacheinander etwa zehn Randalierer fest und sperren sie in den kleinen Innenhof. Doch dann drücken die mit vereinten Kräften von innen an die Tür, können sich befreien und nehmen nun auch diesen Volkspolizisten die Gewehre weg. Als man feststellt, daß sie nicht geladen sind und auch keine Munition vorhanden ist, kann die Truppe trotz des anhaltenden Gerangels auf dem gleichen Weg wie zuvor die MTS-Leute entkommen. Überraschenderweise trägt einer der Demonstranten sogar noch ein vergessenes Gewehr hinterher.

Inzwischen sind die anderen, uns vor sich herschiebend, bis in die zweite Etage vorgedrungen in den Saal. Verächtlich schauen sie auf die paar Leute, die hier sitzen und nichts zur Verteidigung des Hauses unternehmen. Krümmen ihnen kein Haar. Stürzen nur die Lenin-Büste um. Andere und ich bücken uns und wollen sie aufheben. Wieder stehen wir denen gegenüber. Doch ein paar Jugendfreunde, die es mit der Angst gekriegt haben, umklammern uns jetzt von hinten. Nun beginnen die Eindringlinge Gardinen herunterzureißen, Telefonapparate, Aktenordner und Dokumente herum- oder aus dem Fenster zu werfen. Mir dröhnt der Schädel. Mit List gelingt es uns, die Randalierer zum Verlassen des Gebäudes zu bewegen, indem wir einigen zuflüstern, daß sich der Demonstrationszug unten neu formiert und weiterziehen will. Da sie uns in dem Durcheinander für ihresgleichen halten, stürzen sie die Treppen hinab und die übrigen hinterher. Als die auf der Straße merken, daß sie genarrt wurden, wollen sie gleich wieder ins Haus stürmen. Aber wir haben schnell mit Möbeln eine Barrikade gebaut, so daß ihr Vorhaben mißlingt. Danach sehen wir vom Fenster aus, daß unten ein Jeep vorfährt. Ihm entsteigt ein sowjetischer Offizier mit gezogener Pistole. Die Menge weicht. Eine halbe Stunde später fahren Panzer auf. Ich werde verbunden. Als mein Vater in die Bezirksleitung kommt, erkennt er mich nicht gleich. Tage darauf wird ein Arzt feststellen, daß sich meine Schädelnähte gelockert haben.

Danach herrscht Ausgangssperre. Wir patrouillieren ums Haus und sehen plötzlich drüben am Schwanenteich zwei jüngere Frauen mit prallgefüllten Taschen. Eine von den beiden war doch bei den Randalierern dabei, sogar in unserem Haus war die, eine ganz Wilde! Der sowjetische Sergeant stürzt über die Straße. Die Frau will flüchten, wirft die Tasche weg. Später sehe ich, unsere Gardinen hat sie darin, geklaute Gardinen! Die andere Frau beachten wir nicht, aber diese Furie wird vom Sergeanten eingeholt. Er stellt ihr ein Bein. Sie stürzt auf die Straßenbahnschiene, nun überwältigt er sie. Sie schreit hysterisch: „Erschießt mich doch!" Doch der Sergeant führt sie in aller Ruhe ab. In der Pförtnerloge des Universitätsgebäudes übergibt er uns die junge Frau, die dabei hysterisch wiederholt: „Erschießt mich doch gleich!" Einer der umstehenden Jugendlichen erwidert: „Nein, eine Kugel ist zu schade für dich! Dich hängen wir auf!" Daraufhin verändert sich das Verhalten der Frau schlagartig. Sie fängt an zu jammern und erzählt unaufgefordert, wie sie nach Leipzig gekommen ist und was ihr Auftrag war. Zu gleicher Zeit entwickelt sich außerhalb der Pförtnerloge eine heftige Diskussion über den Ausspruch: „... Dich hängen wir auf!" Die meisten wenden sich dagegen. Der Jugendfreund nimmt seine Worte zurück. Begründet sie mit dem Zorn, den er angesichts des Schadens und vor allem der Brutalität gegenüber den Polizisten empfunden hat. Aber wer ist die Frau? Sie hat einen Namen, heißt Gerda S. und wohnt in Westberlin. Eingeschleust ist sie, eine von denen, die den „Volkszorn" anzuheizen hatten. Wir erfahren von ihr auch, daß sie ein Westberliner Fotomodell ist, aber früher in der Leipziger Umgebung zu Hause war. Später, zur Gerichtsverhandlung, wird sich die Gerda S. an nichts mehr erinnern können. Doch ihrem Gedächtnis wird nachgeholfen. Denn eine Zeugin hatte sie Morddrohungen ausstoßen hören.

Am Abend erfahre ich, daß meine Frau tätlich bedroht worden ist. Wir wohnen in der Gutsmuths-, Ecke Aurelienstraße. Einer unserer Nachbarn, der aus der SED ausgeschlossen wurde, führte Drohreden und donnerte an die Tür. Meine Frau konnte die Wohnung gerade noch verlassen und in die Birkenstraße flüchten, ins Jugendheim. Als die sowjetischen Genossen von meiner Sorge erfahren, setzen sie mich in einen Jeep und fahren in die Gutsmuthsstraße, ein Panzerspähwagen folgt uns. Fortan wird die Genossin Meister ihre Ruhe haben.

Spätabends liegen wir in der Ritterstraße oben auf dem Dach. Die Sowjetsoldaten haben ein Maschinengewehr aufgebaut. Plötzlich zeigt der Zugführer auf den Turm der Nikolaikirche. Es scheint, daß von dort Lichtsignale gegeben werden. Er beschließt, den Dingen auf den Grund zu gehen, und ich begleite ihn. Wir steigen den Turm hinauf. Aber die Sache erweist sich als harmlos, sogar komisch. Denn die Turmbewohner baden gerade. Wenn sie auf dem Gang Wasser holen, öffnen sie die Küchentür und verursachen damit die „geheimnisvollen Lichtsignale". Am nächsten Morgen gehen wir nochmals gemeinsam zur Kirche hinüber. Während ich draußen bleibe, bittet der sowjetische Genosse bei einer Flasche Wodka sowie Speck und Brot um Entschuldigung. Erfreulicherweise nehmen Pfarrer und Turmleute diese an.

Am 19. Juni erhalte ich von der Stadtbezirksleitung meiner Partei den Auftrag, bei den Bauarbeitern der Windmühlenstraße eine Versammlung vorzubereiten, auf der unser Oberbürgermeister sprechen soll. „Du bist doch Maurer, Gerhard", sagen die Genossen. Ich nicke, wenn auch mit ungutem Gefühl. Immerhin bin ich schon einmal von einem Gerüst gestürzt, als es umfiel. Diesmal könnte ich auf andere Weise vom Gerüst fallen.

Im vierten und fünften Stock des Rohbaus sitzen die Bauarbeiter auf ihren Kalkkästen und harren der Botschaft, die ich zu überbringen habe. Zunächst stelle ich mich ihnen vor. Als ich meine Funktion nenne, wirft man mir zwischen „Grünschnabel" und „Bonze" so ziemlich alles an den Kopf, was das Vokabular hergibt. Danach kommen wir aber trotzdem ins Gespräch, und die Bauarbeiter berichten von den Mißständen, die ihnen das Leben schwermachen. So müssen sie - weil die Aufzüge nicht funktionieren - Steine und Mörtel über die Gerüstleitern nach oben tragen. Ich mußte diese schwere Arbeit früher oft selbst ausführen und kann ihnen die Empörung nachfühlen. Selbstverständlich zweifeln sie das an. Kommen auf ihre Entlohnung zu sprechen. Behaupten rundweg, daß ich als „Bonze" einen ganzen Batzen mehr Geld als sie verdiene. Einige ziehen ihre Lohnzettel heraus. Zufällig habe ich meinen vom Vormonat auch dabei. Daraufstehen 690 M brutto. Der Ausdruck „Bonze" fällt danach nicht mehr. Anschließend reden wir noch über Normen, Versorgungsprobleme und soziale Fragen.

So wird also die Versammlung durch mich vorbereitet, der Oberbürgermeister spricht, und die Bauarbeiter reagieren nicht unaufgeschlossen. Plötzlich ist sehr viel Einsicht in ihnen. Natürlich verläuft die Diskussion nicht nur friedlich. Man sagt sich hart die Meinung. Wahrend der Versammlung kommt es dann aber dahin, daß die Bauarbeiter diejenigen entlarven, die nicht zu ihnen gehören, die eingeschleust worden waren. Die hatten ihre neuen Arbeitsklamotten nämlich nicht in Leipzig, sondern in Westberlin erhalten.

Gerhard Meister 


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