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Flugblätter, Schokolade und Drohungen

(Gompertshausen)

 

Damals war ich 22 Jahre alt und diente seit drei Jahren in den bewaffneten Einheiten der Deutschen Demokratischen Republik. Zunächst als Freiwilliger in den Reihen der Kasernierten Volkspolizei und - nach einem einjährigen Lehrgang an der Offiziersschule in Naumburg - bei der Grenzpolizei der DDR. Im Juni 1953 war ich stellvertretender Kommandoleiter beim Grenzkommando Gompertshausen/Kreis Hildburghausen. Unser Grenzabschnitt umfaßte ca. 15 km, und direkt gegenüber befand sich Coburg. Von dort aus versuchte man mit massiven Flugblattaktionen fast täglich Unruhe unter unserer Grenzbevölkerung zu stiften. Besonders tat sich dabei das sogenannte „Ostbüro der SPD" hervor, welches ständig zum Sturz der „SED-Machthaber" aufrief. Auch Parolen wie „Spitzbart, Bauch und Brille ist nicht des Volkes Wille" oder wie „Der Diktator Stalin ist tot - nun nutzt die Chance und stürzt eure Diktatoren in Ostberlin" wiederholten sich ständig. Wahrscheinlich wollte man die „Zone" sturmreif machen. Dies kam auch in nahezu alltäglichen und allnächtlichen Grenzprovokationen sowie vereinzelten Schießereien zum Ausdruck. Die amerikanischen Besatzungstruppen mischten bei alledem kräftig mit.

Zunächst war der 17. Juni 1953 für uns ein Tag wie jeder andere. Ich hatte die letzten Grenzstreifen eingewiesen und vergattert. Anschließend wurde eine kurze Lagebesprechung mit dem Kommandoleiter, dem Politleiter, dem FDJ-Sekretär und den Streifenposten durchgeführt, in der jeder seine Aufgaben erhielt. Als ich danach in Begleitung zweier Grenzpolizisten den täglichen Dorfrundgang beginnen wollte, unterbrach der Sender unseres Kommandos plötzlich sein Programm und informierte über „Unruhen und Streiks" auf Berliner Großbaustellen. Wir setzten uns sofort mit der Grenzkommandantur Hildburghausen in Verbindung. Von dort wurde empfohlen, die weitere Entwicklung in Ruhe abzuwarten. Wenige Minuten nach diesem Anruf traf der sowjetische Militärberater und erfahrene Grenzer Oberstleutnant Sokolow bei uns ein. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, wie er mir auf die Schulter klopfte und sagte: „Keine Panik, Genossen. Wir sind bei uns schon mit ganz anderen Situationen fertiggeworden." Dabei lächelte er, und die von ihm ausstrahlende Ruhe - er war bereits 61 Jahre alt - gab uns tatsachlich die Gewißheit, daß wir diese Situation meistern wurden. Er machte den Vorschlag, zur Lageerkundung an den vorgeschobenen Grenzabschnitt zu fahren.

Zunächst kontrollierten wir die Posten, gaben entsprechende Anweisungen und begaben uns zum Hauptschlagbaum am 3-km-Schutzstreifen. Er war vor allem errichtet worden, um Grenzverletzungen sofort zu erkennen. Danach standen wir in ununterbrochener Verbindung mit dem Kommandoleiter, der uns in kurzen Zeitabständen über die neuesten Meldungen informierte. Die Sonne meinte es gut mit uns, und ab und zu huschten Hase oder Reh in Richtung von West nach Ost oder entgegengesetzt. Dabei machten wir noch Witze und meinten, es wird schon nicht so schlimm werden. Vielleicht ein paar Vollidioten, die ausgerastet sind und auf sich aufmerksam machen wollen. Aber da hatten wir uns leider getäuscht. Gegen 11 Uhr verschärfte sich die Lage in Berlin, und das wirkte sich auch bei uns aus. Unser Kommandoleiter ordnete die Ausgabe von Kaltverpflegung an, da der Grenzabschnitt nunmehr ununterbrochen und ohne Ablösung bewacht werden mußte. Das hieß, Soldaten und Offiziere hatten im Freien zu übernachten, dort, wo wir seit dem Vormittag eingesetzt waren. Den Radiomeldungen zufolge waren dem Berliner „Arbeiteraufstand" weitere in Großstädten wie Leipzig, Halle und Dresden gefolgt. Gefängnisse wurden gestürmt, „politische Gefangene" befreit. Darunter, wie es hieß, sogar eine ehemalige KZ-Kommandeuse. Man verbrannte rote Fahnen, und in Berlin kam es zu schweren Brandstiftungen. Angestachelt durch diese „Heldentaten" wurde es nun auch in unserem Dorf immer unruhiger. Mancher zuvor friedlich-freundliche Einwohner entpuppte sich unversehens als haßerfüllter Gegner der DDR. Unser nur noch von vier Grenzsoldaten bewachtes Dienstgebäude wurde nun mit Steinen, Flaschen und faulen Eiern beworfen. Auch Rufe wie „Brennt diese verfluchte Bude nieder!" wurden laut. Waren nicht unsere sowjetischen Freunde in letzter Minute zu Hilfe gekommen, hatten wir bei unserer Rückkehr wahrscheinlich nur noch eine verbrannte Trümmerwuste vorgefunden.

Am späten Nachmittag erschienen die ersten Demonstranten aus dem uns westlich gegenüberliegenden Dorf Albingshausen am Schlagbaum. Eskortiert durch Männer vom Bundesgrenzschutz, trugen sie Transparente - schwarze Schrift auf weißem Grund - und hielten sie uns entgegen. Da gab es Parolen wie „Statthalter und Stiefellecker Moskaus" oder „Kommunistenschweine in Grenzeruniform haben in Deutschland nichts zu suchen!" oder „Einheit in Frieden und Freiheit". Für uns hieß es weiterhin Ruhe bewahren und nicht provozieren lassen. Plötzlich tauchten drüben auch amerikanische Militärfahrzeuge auf. Zwei Offiziere der US-Armee bemühten sich um Kontaktaufnahme mit einem sowjetischen Leutnant, der mit uns im Straßengraben Stellung bezogen hatte. Dieser lehnte das Ansinnen natürlich ab. Daraufhin starteten die US-Vertreter zunächst eine „friedliche Provokation", indem sie Zigaretten und Schokolade über den Schutzstreifen herüberwarfen. Doch als wir dieses Zeug aufhoben und postwendend zuruckbeförderten, wurden aus den freundlichen Gesichtern böse, und man beschimpfte uns in englischer Sprache. Danach setzten sich die Amerikaner wieder in ihre Autos und verschwanden. Allerdings nicht, ohne ein paar Schüsse in die Luft abzugeben.

Als es dunkel zu werden begann, versuchten einige Beamte des Bundesgrenzschutzes, mit uns ins Gespräch zu kommen. Dabei wurden sie von Zivilisten, die noch immer den Schlagbaum belagerten, unterstützt. Aber auch das Schlagwort „Wir sind doch alle Deutsche" und Angebote wie „Kommt doch mal zu uns rüber" oder „Wir konnten doch im Herbst gemeinsam Erntedankfest feiern", ferner „Bei uns sind die Mädchen hübscher und feuriger als bei Euch, es wird sich also bestimmt lohnen. Die Vorgesetzten sollen mal ein Auge zudrücken" führten bei uns nicht zu dem gewünschten Erfolg. Manche Grenzsoldaten waren damals natürlich der Meinung, man könne es doch mal versuchen, und sie wurden bestimmt wiederkommen. Aber von uns ging keiner. So mußten wir erneute Schimpftiraden über uns ergehen lassen, wie: „Es kommt der Tag der Abrechnung, da werdet ihr euren Dienst für die rote DDR bitter bereuen". Wir sollten nicht vergessen, daß Stalin tot sei und das kommunistische Regime auch in Rußland nun ins Wanken käme. Währenddessen werteten wir die Vorfalle aus, verspeisten unsere Abendverpflegung und teilten die Wachen ein.

Der nächste Tag verlief für uns etwas weniger aufregend, und in drei Schichten schafften wir auch die zweite Nacht im Freien - im Straßengraben. Danach entspannte sich die Lage, und der gewöhnliche Grenzeralltag kehrte zunehmend wieder ein.

Allerdings hatten einige DDR-Grenzer den Verlockungen von drüben doch nicht standgehalten und ihre Heimat bei Nacht und Nebel auf Nimmerwiedersehen verlassen. Wie wir bei einer Auswertung in der vorgesetzten Dienststelle erfuhren, war darunter sogar der stellvertretende FDJ-Sekretär der Grenzkommandantur Hildburghausen.

In den folgenden zwei Wochen hatten wir fast jeden Tag und jede Nacht Kommandoalarm. Ganz gleich, ob sich der Grenzer gerade aufs Ohr gelegt hatte, er mußte mit hinaus zum Aufsammeln der Flugblätter vom SPD-Ostbüro, die nur so vom Himmel regneten und die man sich offenbar enorm viel Geld kosten ließ. Denn manchmal waren es sogar kleine Broschüren, die unsere Grenzer und die Dorfbevölkerung lesen sollten. Darin wurden Kübel von Dreck und Schmutz über den Staat ausgeschüttet, dessen Grenzen wir freiwillig - absolut freiwillig - schützten. Mein Entschluß nach dem 17. Juni 1953 konnte nur der sein, Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zu werden.

Horst Lohse 


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