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Kontrollfahrt zum Berliner Ring

(Berlin)

 

Zu diesem Zeitpunkt war ich als junger Leutnant in der Abteilung Ausbildung der Hauptverwaltung Deutsche Grenzpolizei in Berlin-Niederschönhausen tätig.

Am Vormittag des 17. Juni wurden wir dadurch überrascht, daß die Heinrich-Mann-Allee plötzlich voller Menschen war. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich, daß es sich um Arbeiter vom VEB Bergmann-Borsig handele, die in Richtung Stadtzentrum zögen, um dort zu demonstrieren. Wir gingen neugierig zum Tor, um die vorbeiziehende Kolonne zu sehen. Sie bewegte sich ruhig und friedlich durch die Straße. Kurze Zeit danach wurden wir von unseren Vorgesetzten vom Tor zurückgeholt und in den Versammlungssaal befohlen. Dort erklärte man uns, daß sich Provokateure und Konterrevolutionäre in der Stadt zusammenrotten, um die Regierung zu stürzen. Es sei schon zu Handgreiflichkeiten mit Schutz- und Sicherheitsorganen sowie zu mutwilligen Zerstörungen an öffentlichen Gebäuden und Einrichtungen gekommen. Wir wurden aufgefordert, ruhig zu bleiben und uns für mögliche Einsätze zur Verteidigung des Objektes bereitzuhalten. Meines Wissens wurde die Wache verstärkt.

Gegen Mittag erhielt ich den Befehl, eine MPi und Munition zu empfangen und als persönlicher Schutz mit dem Leiter der Abteilung Kontrollpassierpunkte zu Dienststellen im „Ring um Berlin" zu fahren. Dort war dafür zu sorgen, daß keine LKW-Kolonnen aus der DDR nach Berlin gelangen.

Auf unserer Fahrt quer durch die Stadt in Richtung Köpenick und von dort aus über Friedrichshagen zu den Dienststellen der Deutschen Grenzpolizei in Erkner und Dahlwitz-Hoppegarten sahen wir hier und da Menschengruppen, die sich jedoch allesamt friedlich verhielten. An den Kontrollpassierpunkten wurde durch uns veranlaßt, die Schlagbäume zu schließen und eine Durchfahrt von LKW-Kolonnen nicht zuzulassen. Wir hielten uns bis zum späten Abend in diesem Bereich der Stadtgrenze auf, ohne daß es zu besonderen Vorkommnissen kam. Als wir in der Nacht in die Dienststelle nach Berlin-Niederschönhausen zurückfuhren, sahen wir in der Dimitroffstraße und in den Seitenstraßen eine große Anzahl sowjetischer Panzer aufgefahren.

In den folgenden Tagen wurde uns über die Medien bekannt, daß Provokateure und Konterrevolutionäre besonders im Zentrum der Stadt erhebliche Zerstörungen angerichtet hätten und, daß ein geplanter Umsturz nur durch den Einsatz der sowjetischen Truppen verhindert worden sei. In Halle und anderen Städten, so hörten wir, habe man sogar die Haftanstalten gestürmt und Verbrechern den Weg ins Freie ermöglicht. Nur zögerlich kam die Rede darauf, daß die Arbeiter gegen eine von der Regierung beschlossene Normerhöhung demonstriert hatten. Dieser Beschluß war inzwischen widerrufen worden.

Die Bürger Berlins, die ich an diesem Tag sehen konnte, machten nicht den Eindruck eines Umsturzversuches. Natürlich gab es einige von Westberlin aus gesteuerte „Trittbrettfahrer", die den berechtigten Unmut der Arbeiter für ihre Zwecke nutzten. Provokationen und Zerstörungen wurden von dieser Seite aus lanciert.

Ich kann mit meinem damaligen politischen Verständnis und meiner geringen Übersicht über die konkrete Lage nicht einschätzen, ob der Einsatz von Panzern und anderen Waffen gerechtfertigt war. Vielleicht war die Angst der führenden Politiker größer als die Absicht der demonstrierenden Arbeiter. Heute ist mir klar, daß in der DDR vieles durch die Politiker hochgespielt wurde, um die eigenen Schwächen zu verdecken.

Abschließend noch eine Bemerkung zur Wertigkeit meiner Eindrücke. Kaserniert untergebrachte und in Kasernen diensttuende Angehörige der NVA und der Grenztruppen hatten stets nur einen geringen Überblick über das Geschehen außerhalb der Kasernenumfriedung. Sie wurden, hauptsächlich aus Gründen der Geheimhaltung, vom Umfeld abgeschirmt und trafen sich auch nach Dienst meistens mit ihresgleichen. Probleme in Staat und Wirtschaft sowie Stimmungen innerhalb der Bevölkerung kannten wir nur vom Hörensagen. Unsere Informationen entnahmen wir dem Deutschen Fernsehfunk, dem „Neuen Deutschland" und den Veröffentlichungen des Zentralkomitees der SED.

Lorenz Eyck 


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