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Dresden - Hamburg und zurück

 Mein frühes Zuhause ist das Dresden vom Anfang der dreißiger bis in die Mitte der vierziger Jahre, und ich würde meine Kindheit als glücklich bezeichnen, obwohl Vater bereits wenige Tage nach meinem fünften Geburtstag starb. Er wurde neununddreißig und sein Erwachsenenleben war - wie das der meisten Gleichaltrigen - vor allem von Fronteinsatz, Verwundung, Hunger und Inflation geprägt. Sonst weiß ich wenig über ihn. Und von seinen vor ihm verstorbenen Eltern und einer Schwester nur, daß sie wie unzählige einfacher Hungerleider im Hinterland der Fronten die letzten Monate des I. Weltkriegs nicht überstanden. Großvater war ein Arme-Leute-Schneider und - wie Frau und Tochter - einer von den geschichtlich Namenlosen, deren Leben und Sterben scheinbar keine Spuren hinterläßt. Sie selbst fügten sich wahrscheinlich noch in das vorgeblich Gottgewollte, aber ihr Geschick mündete im gemeinsamen Schicksal von Abermillionen und führte zu jenem Aufbegehren, das den einfachen Menschen erstmals die hoffnungsvolle Perspektive einer selbstbestimmten, friedlichen Zukunft eröffnen sollte.

Meinem Vater erschien die Berliner Novemberrevolution allerdings als Alptraum, in dem der „Mob“ die Straße beherrschte, den Chargen die Schulterstücke herunterriß und sie in die Gosse warf. Weshalb der sächsische Unteroffizier es vorzog, sie in einem Hausflur selbst abzunehmen und säuberlich zu verwahren. So jedenfalls wurde es den beiden Kindern später überliefert, die solchen Aufruhr nun ebenfalls verabscheuten. Bald danach gehörte Vater zur Schicht jener von Haus aus mittellosen Angestellten, die ehrgeizig an die Spitze und unter die Wohlhabenden drängten. Als er im Jahr 1919 eine Familie gründete, hatte er bereits die erste Sprosse einer Leiter erklommen, die ihn in den Dresdner Prokuristensessel der renommierten Deutsch-Böhmischen Elbschiffahrtsgesellschaft und unmittelbar vor eine Teilhaberschaft mit Direktorenposten in einer ähnlichen Firma führte - bevor ein heimtückisches Blutgerinnsel seinen scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg beendete.

Ich behielt ihn als liebevoll, fürsorglich, geduldig und heiter in Erinnerung. Auch bei den Angestellten der Firma und den Flußschiffern sei er wegen seiner herzlichen Art sehr beliebt gewesen, berichtete Mutter. Ich habe ihn viele Jahre tief betrauert. Allerdings wäre ich ohne diesen Verlust vermutlich noch nachhaltiger von konservativen und nationalsozialistischen Ideen beeinflußt worden.

Denn meine frühesten Erinnerungen sehen mich in einem gepflegten Blasewitzer Villenviertel. Die Fünfzimmerwohnung mit Bad und Balkon war gutbürgerlich bis vornehm eingerichtet. Man leistete sich bereits ausgewählte Kleidung, etwas Meißner Porzellan sowie Schmuck, Haushaltshilfe, Urlaub und sogar den kleinen Opel, während „draußen“ die Arbeitslosigkeit Rekordstände erreichte und Hausierer mit ihrem ärmlichen Kram von einer Villa zur anderen schlichen. Für den Fall, daß einer zudringlich werden sollte, hing der „Totschläger“ mit schwerem Bleikopf neben unserer Tür.

Vor allem aber gehörte Vater wie alle früheren Mitglieder seiner Deutschnationalen Partei inzwischen der NSDAP an. Als er einmal mit anderen vor unserem Haus „in Linie antrat“, erlebte ich ihn auch in Uniform. Er hinterließ wenig später ein Paar glänzend braune Paradestiefel und hatte uns Kindern im Jahr zuvor aus dem höchsten Dresdner Bürogebäude den Anblick eines historischen Fackelzuges geboten, dessen eindrucksvolles Flammenmeer ich später nur vom Brand der Dresdner Synagoge und dem Feuersturm des 13. Februar 1945 übertroffen fand.

Als guter Familienvater hatte der Frühverblichene vorgesorgt. Immerhin reichte die an Mutter überwiesene Versicherungssumme zur Anzahlung für ein älteres Mietshaus im Striesener Arbeiterviertel. Dort wohnten in Vorder- und Hinterhaus vierzehn Familien. Wir wurden eine von ihnen, und Jahre später zogen auch Tante und Großmutter mütterlicherseits hier ein. Sie kamen ebenfalls aus einfachen Verhältnissen. Aber der kurz vor meiner Geburt verstorbene Großvater, ein Briefträger, hatte uns interessante Lexika, Atlanten, Stereofotos und Apparate hinterlassen, die seinen Drang nach Bildung und wissenschaftlicher Erkenntnis bezeugten. Sie waren seinerzeit sicher nicht billig gewesen. Vielleicht hatte Großmutter auch dafür nachts Strohhüte nähen müssen? Der Drang ins Gutbürgerliche und womöglich weiter hinauf beherrschte diese Familie jedenfalls im gleichen Maße wie Millionen anderer deutscher Kleinbürger. Nachdem der hoffnungsvolle Stammhalter 1916 in den Karpaten gefallen war, erlebte Großvater vor seinem eigenen Tod noch die Genugtuung, seine Töchter „gut verheiratet“ zu sehen. Zum Glück blieb ihm die Zukunft verborgen, denn beide waren bereits nach wenigen Jahren Witwen mit zunehmenden Existenzsorgen.

Die mütterlichen Mieteinnahmen betrugen je Wohnung nur zwischen 15 und 25 Mark, und nach Abzug der fälligen Zinszahlung sowie Reparaturkosten blieben oft nur rote Zahlen. Deshalb arbeitete Mutter zur Aufbesserung ihrer schmalen Witwenrente meist halbtags im alten Beruf als Kontoristin. Dadurch ermöglichte sie meinem Bruder und mir den Besuch des Realgymnasiums bzw. der Mittelschule bis zum 16. Lebensjahr sowie gemeinsame Ausflüge, kleine Urlaubsreisen und manch herrlichen Theaterbesuch. Zu unserem Vormund hatte man den letzten männlichen Verwandten bestimmt: Vaters Bruder, der in Hamburg als Angestellter einer Mineralölgesellschaft arbeitete und in Wedel/Holstein wohnte. Wir sahen ihn in zehn Jahren dreimal.

Nach Kinderart hatten wir uns in der neuen Umgebung rasch zurechtgefunden, überließen allerlei Existenzsorgen der Mutter und freuten uns der unkomplizierten Spielkameraden. Wenn Mutter Zeit hatte, saßen wir im Winter gemeinsam bei Karten- oder anderen Spielen im anheimelnd warmen Wohnzimmer und hörten dazu Radio oder Grammophon. Während des Sommers schaute sie gern mit mir aus unserem Fenster im 1. Stock über ihre prächtigen, streng duftenden Geranien hinab auf die Straße. Dort war immer etwas los. Der Eismann schwang seine Glocke, oder unten zuckelte ein Pferdewagen entlang, dessen Kutscher „J-u-n-g-b-i-e-r“ ausrief. Auch Obst oder Gemüse wurde auf langsam vorüberrollenden Tafelwagen feilgeboten. Mindestens ebenso interessant war es, nahe oder entfernte Nachbarn zu beobachten. Da Mutter gutmütig war und außerdem auf Anstand achtete, hielt sich das Lästern in Grenzen. Dennoch lernte ich rasch mit ihren Augen sehen. Und sie blickte trotz unserer bescheidenen Lebensumstände in Kleinbürgermanier auf vermeintlich „noch weiter unten“ angesiedelte Menschen etwas herab. Besonders deutlich wurde das, wenn ein riesiger, rotgesichtiger Kohlenträger schleppenden Schrittes und in gebeugter Haltung nach Altstriesen schlurfte. Dort wohnte er in einer der alten Bauernkaten, die ringsum längst von vierstöckigen Wohnhäusern umgeben waren. Der Mensch hieß Bube. Und da er zum Schneuzen kein Taschentuch, sondern die bloßen Finger benutzte, nannten wir Kinder ihn forsch „Rotzbube“. Aus Mutters überaus nachsichtigem Protest schlossen wir, daß sie den Ausdruck ebenfalls treffend fand. Überdies besaß der Kohlenträger den Ruf, Kommunist gewesen zu sein. Das machte ihn nicht nur zum Schmutzfinken, sondern zu einem bedenklichen Subjekt. Vor Hitlers Machtübernahme hatte Striesen als „rote Hochburg“ gegolten, und die nahegelegene Eckkneipe war ein Kommunistentreff gewesen. Der Gedanke verursachte mir Gruseln, sooft ich dort zu ganz besonderen Anlässen eine Kanne Malzbier holen durfte. Zwei Häuser von uns entfernt wohnte ein weiterer ehemaliger Kommunist. Der kleine Mann war nun Nationalsozialist und wurde ebenfalls verachtet, am meisten wohl wegen seines Gesinnungswechsels. Sogar seine dicke Tochter Sonja bekam unsere Ungnade zu spüren.

Über die allgemeinen Verhaltensregeln hinausgehende Erziehungsinhalte wurden mir zunächst im Kindergottesdienst der evangelischen Kirche und später durch nationalsozialistisch bestimmte Einrichtungen wie Radio, Kino, Zeitung, Jungmädchenbund und Schule vermittelt. Die Nazipropaganda hatte mit unserer kleinen Familie ebenso leichtes Spiel wie mit Millionen anderer deutscher Kleinbürger, zu denen im Geiste auch die meisten Arbeiterfamilien unserer Umgebung gehörten. Denn selbst die sanften Augen meiner Mutter strahlten bei den diversen „Anschlüssen“ fremder Territorien an das herrliche Großdeutsche Reich sowie den späteren „Sondermeldungen“ über versenkte Bruttoregistertonnen und errungene Luftsiege. Wir Kinder befanden uns eigentlich bereits seit der Olympiade von 1936 ohnehin im wachsenden Siegestaumel. Waren wir vorher im sächsischen Elbsandsteingebirge gewandert, durfte man seit der „Befreiung Sudetendeutschlands“ auch die Grenze nach Böhmen passieren, Kren und Buchteln probieren oder bei Falk in Aussig feine Törtchen essen, während es solche Köstlichkeiten daheim schon längst nicht mehr gab. Als Mutter meinen Bruder mittels ärztlichen Attests vom Geländedienst des Jungvolks befreien ließ, war dafür nur die Sorge um seine Gesundheit ausschlaggebend. Man jagte die Pimpfe oft im Laufschritt die steile Plattleite von Loschwitz zum Weißen Hirsch hinauf.

Obwohl ich unsere JM-Führerinnen bewunderte und mir ihr Selbstbewußtsein wünschte, langweilten mich die Heimabende des Jungmädchenbundes sehr, und auch das Marschieren war eigentlich nicht meine Welt. Viel lieber trieb ich Sport im Guts-Muths-Turnverein, der sich irgendwann nicht mehr so nennen durfte. Hier konnte ich meine Schüchternheit vergessen, mich nach Herzenslust austoben und mir die nötige Selbstbestätigung holen. Aber meinen Lieblingsplatz hatte ich in den Zweigen eines herrlichen alten Fliederbaums, dessen schwere, dunkle Blütendolden unser kleines Landstück zwischen den hochragenden Häuserzeilen im Frühsommer in einen duftenden Feengarten verwandelte, über den die Mauersegler dahinjagten. Später entdeckte ich, wie zuvor bereits mein Bruder, die klassische Musik und vor allem das Dresdner Opernhaus für mich. Da der „Kulturring der Hitlerjugend“ unverkäufliche Billets für den Spottpreis von 1,05 Mark abgab - die Plätze waren allerdings danach - wurden manchmal mehrere Opern- oder Konzertabende wöchentlich möglich. Das versetzte mich zunehmend in eine Traumwelt, die ich am liebsten keine Minute verlassen hätte.

Denn allmählich waren die Rückwirkungen des so ruhmreich begonnen Krieges im Alltag spürbar. Wir begannen zu hungern, und auf die „Punktkarte“ für Textilien bekam man so gut wie nichts mehr. Schuhe waren schlimmste Mangelware, selbst die aus Stoff mit Holz drunter. Statt neuer Sohlen nagelte man kleine Gummiflecken drauf. In der Schule wurden Luftschutzübungen mit der ekligen Gasmaske durchgeführt, und auch zu Hause mußten die Dachböden wegen Brandgefahr geräumt und ein Luftschutzkeller eingerichtet werden. Die strenge Verdunkelung machte Flur wie Treppenhaus zu gespenstischen Orten. Und nach dem Verlöschen der Lichter über Elbe und Zwinger klangen meine Opernabende nicht mehr in festlich-heiterer Schönheit, sondern in gruseligem Dunkel aus. Zu Hause empfing mich dann die Mutter oft bereits mit sorgenvoller Miene, weil im Radio „der Wecker tickte“, was den Abend im Luftschutzkeller enden ließ. Immerhin waren auch auf Dresden bereits zwei oder drei Bomben gefallen, und es gab sogar einige Tote. Aber nach dem ersten Schreck machte sich jedesmal alles auf die Beine, um den Schaden in Augenschein zu nehmen. An Großangriffe wie in Hamburg, Berlin und anderen Städten glaubte niemand. Denn unsere Kunstschätze waren bekanntermaßen unersetzlich, und außerdem behauptete ein Gerücht, daß Churchills Tante auf dem „Weißen Hirsch“ wohne. Unvergeßlich bleibt mir ein Winterkonzert, das mit der Meldung von der deutschen Niederlage vor Stalingrad abgebrochen wurde. Danach begleitete mich das nackte Grauen durch die verdunkelte Stadt. Einige Zeit später schlossen sämtliche Theater und Konzertsäle.

Inzwischen war mein Bruder zur Wehrmacht einberufen worden. Als ich ihn mit Mutter in Chemnitz und Glauchau besuchte, befiel mich unterwegs angesichts furchtbarer Bombenschäden und gefährlicher Luftalarme erneut blankes Entsetzen. Später wurde er zur Flak nach Brüx abkommandiert, und ich mußte während einer Klassenwanderung vom Erzgebirgskamm aus mit ansehen, wie diese in der jenseitigen Ebene liegende tschechische Stadt bombardiert wurde. Der Sohn einer uns bekannten Familie - ein schmucker Matrose und mein heimlich angehimmelter Brieffreund - war in Frankreich als vermißt gemeldet. Manche Klassenkameradin trauerte um Bruder oder Vater. Lehrer wurden zum Wehrdienst einberufen, doch auch die zunehmenden Tagesalarme ließen den Unterrichtsausfall ansteigen. In gleicher Proportion erhöhten sich die Anforderungen an das „Altstoffaufkommen“ der Klasse. Wir gingen von Haus zu Haus und sammelten Papier, Schrott, Spinnstoffe und besonders Knochen, vor denen ich mich ekelte. Denn die meisten stanken schon erbärmlich, oder Suppengrün, andere Speisereste und sogar Maden klebten daran. Da meine Mittelschule in Blasewitz lag, mußte ich an vielen Villentüren klingeln, wo noch immer griffbereite „Totschläger“ hingen und selbst harmlose Schulkinder ungnädig abgespeist wurden.

Trotz erheblichen Wissensdurstes bin ich nie gern zur Schule gegangen. Die ständige Angst, aufgerufen zu werden und antworten, an die Tafel oder gar wettrechnen zu müssen, verursachte mir nächtliche Alpträume. Insgesamt lagen meine Zensuren dennoch stets etwas über dem Klassendurchschnitt, so daß ich gute Aussicht auf eine eventuelle spätere Lehrstelle im Bankgewerbe - so wollte es zumindest Mutter - zu haben schien. Aber das stand in den Sternen, denn zunächst war ein „Pflichtjahr“ in Land- oder Hauswirtschaft für alle Mädchen obligatorisch, während die Jungen meist als Flakhelfer eingezogen wurden. Später warteten auf alle der Reichsarbeitsdienst oder andere Kriegsdienstverpflichtungen. Obwohl nach Lage der Dinge keine von uns wußte, ob wir jemals eine Fremdsprache brauchen würden, paukten wir Englisch nicht ungern. Das lag an unserem Lehrer und zeitweiligen Klassenleiter, dem gleichbleibend überaus wohlgenährt wirkenden Herrn G. Er wurde von der gesamten Mädchenklasse verehrt, weil er sich uns voll zuwandte und keine Langeweile aufkommen ließ. Seinen Umgangston fanden wir erfrischend und auch die Lehrmethoden angenehm unkonventionell. Allerdings geriet der Sprachunterricht bei Herrn G. zur Nebensache, da er uns als Experimentiermasse für sein Erziehungssystem mit nationalsozialistischen Inhalten betrachtete. Erklärtes Ziel war, aus uns arische „Herrinnen“ zu bilden. Dazu forderte er totale Unterordnung durch freiwillige Selbstdisziplin, hielt aber offenbar auch Scheinanleihen bei der parlamentarischen Demokratie für effektvoll. Denn er hatte einige Zeit in England gelebt und ließ uns gern Hydepark-Szenen gestalten, obwohl doch eigentlich auch die englischen „Plutokraten“ unsere Feinde waren. Darüber verlor Herr G. zu meiner stillen Verwunderung kein Wort. Im übrigen war er ein zackiger Nazi, der jederzeit strammes Verhalten wünschte und zu besonderen Anlässen in SA-Uniform erschien. In der NSDAP-Gauleitung hatte er die Funktion des Beauftragten für das Auslandsdeutschtum inne. Obwohl wir von anderen Lehrern in unterschiedlichen Graden ebenfalls mit dem Gift des Juden- und Bolschewistenhasses infiziert wurden, wirkte Herr G. darin führend. Er wurde nach Kriegsende verhaftet und verstarb in einem sowjetischen Lager. Heute gelten auch solche wie er als „unschuldige Opfer des Stalinismus“. Während eines Landheimaufenthaltes schickte er die Klasse auf eine Nachtwanderung und stattete sie mit Knüppeln aus, um eventuell im Wald versteckte Russen niederschlagen zu können. In der Aufregung bemerkten weder ich noch andere das Verschwinden einer Klassenkameradin und tappten beim Ungewissen Schimmer unserer Taschenlampen ängstlich im Gebüsch umher. Aber wir erschraken buchstäblich zu Tode, als die Freundin plötzlich „blutüberströmt“ - von Marmelade - vor einem Dickicht lag. Und wäre uns in dieser Nacht ein Russe oder Pole begegnet, hätte ihn unsere knüppelbewehrte Übermacht gewiß in panischem Entsetzen wie eine gefährliche Bestie erschlagen. Denn daran, daß es sich bei jedem „bolschewistischen Untermenschen“ um eine solche handelte, ließen weder Herr G. noch die allgegenwärtige Nazipropaganda den geringsten Zweifel.

Den gräßlichsten Eindruck behielt ich von einem Plakat zurück, das eine spitzbehelmte Fratze mit blutigem Messer im Mund zeigte. Sie war durch den unheimlichen Sowjetstern hinreichend gekennzeichnet, so daß es nicht des Textes bedurft hätte. Dieses Ungeheuer stand mir vor Augen, sooft ich einen Trupp sowjetischer Kriegsgefangener bemerkte. Von ferne glich er einer schmutzigbraunen Viehherde, und ich machte einen weiten Bogen um ihn.

Bereits Jahre zuvor hatten mich Menschen erschreckt, die den scheußlichen gelben Davidstern trugen und vor Deutschen mit gesenktem Blick beiseite traten. Später sah man keine Juden mehr, und ich vergaß sie - als hätte es sie nie gegeben. Man sagte, daß diese Leute aus Deutschland hinaus- und nach dem Osten gebracht worden seien, wo bei Polen und Russen noch genug Platz war. Ein Klassenbesuch des Veit-Harlan-Films „Jud Süß“ verursachte mir Übelkeit und verstärkte meinen Widerwillen gegen diese Rasse, obwohl - oder auch gerade weil - die Hinrichtungsszene so grauenvoll war. Danach stieß ich mich sogar an einigen abgenutzten Wäschestücken, die über entfernte Bekannte meiner Tante in Mutters Wäscheschrank gelangt waren. Die ausgewanderten Juden hatten solchen Armeleutekram natürlich zurückgelassen.

Nachzudenken begann ich erstmals nach dem Schock, den mir das Ergebnis der schulisch angeordneten Ahnenforschung versetzte. Denn diese förderte nicht nur eine sorbische Abstammung väterlicherseits zutage, sondern mütterlicherseits sogar einen Ahnen namens Moses. Er war offenbar sogar nach Art eines „Wucherjuden“ vermögend gewesen, allerdings im Widerspruch dazu auch christlicher Kirchenvorsteher. Da wir keinen „Deutschstämmigen“ namens Moses kannten, blieb zumindest ein „Verdacht“. Dieser Vorfahre hatte bereits im 18. Jahrhundert gelebt, und die Schule gab sich für den „Ariernachweis“ mit geringeren Zeiträumen zufrieden. So mußte ich die mosaische Kuriosität nicht öffentlich preisgeben. Aber sie führte mich doch zu gewissen Überlegungen.

Eigentlich dachte ich sonst eher zu viel als zu wenig über „Gott und die Welt“ nach - nur eben meist auf dem scheinbar für Ewigkeiten gegründeten Fundament der allgegenwärtigen Nazi-Ideologie. Von der Kirchenlehre - wenn auch noch nicht von Gott - hatte ich mich als Zwölfjährige eines Tages auf dem Heimweg von der Schule verabschiedet, während ich über die vom Religionslehrer behauptete „Schuld“ des Menschengeschlechts nachgrübelte. Mir schien dies auf einmal abwegig, da der Allmächtige uns schließlich mit allen Fehlern und Mängeln selbst erschaffen hatte, obwohl es ihm ein Leichtes sein mußte, seine Geschöpfe so zu bilden, wie es für ihn und uns gut war. Danach sah ich im Religionsunterricht nur noch eine mäßige Märchenstunde und beschloß, nicht an der Konfirmation teilzunehmen. Allerdings entzog meine Tante solchem Rebellentum erfolgreich den Boden, indem sie den Wegfall der ersehnten Geschenke androhte. Sie war es auch, die ihren Schimpfereien über meinen „Dickschädel“ durch Hinzufügung des Beiwortes „wendisch“ nun verletzende Schärfe verlieh und sich auch bei anderer Gelegenheit über die „altbekannte“ und von den Nazis besonders propagierte Faulheit und Heimtücke der Slawen ausließ.

Meine Grübeleien über diese Probleme verliefen zwiespältig und hielten bis Kriegsende an. Einerseits akzeptierte ich Tantes Urteil in Bezug auf meine Person nicht einmal annähernd, und für meinen vergötterten Vater traf sogar das ganze Gegenteil zu. Unsere gemeinsamen Ahnen konnten dann wohl auch nicht so schlecht gewesen sein. Aber die Wenden gehörten tatsächlich zu den Slawen und waren mit den Polen und Russen verwandt, bei denen es sich zweifellos um schmutzig-liederliche und noch dazu jüdisch-bolschewistisch verseuchte Völker handelte.

Andererseits - was hieß das schon: Pole? Im Haus wohnte Herr R. - ein ordentlicher, fleißiger, ruhiger Arbeiter. Mir schien er der sympathischste aller Mieter, und seine Kinder ähnelten ihm. Aber nach Mutters Auskunft war Herr R. Pole gewesen, bevor er Deutscher wurde. Und wieso gab es überhaupt Rassen und Nationen? Die Slawen waren immerhin weiß und wohl sogar irgendwie Arier. Gefährlicher für die Reinheit unserer Rasse schienen außer den Juden vor allem Schwarze, Gelbe und Rote - obwohl der Hauptheld meines Lieblingsschriftstellers eine „edle“ Rothaut war und selbst unter Weißen seinesgleichen suchte. Am Ende ergab sich die alte, nur abgewandelte Frage: Wenn Gott ein allgemeines Völkergemisch wollte, weshalb hatte er dann Rassen geschaffen? Nein, zweifellos sollte jeder Mensch in seinen rassisch-völkischen Grenzen bleiben.

Die Mittlere Reife wurde der gesamten Klasse an einem herrlichen Vorfrühlings- und Faschingsdienstagmorgen zugesprochen. Aus irgendwelchen Gründen waren die Zeugnisse nicht fertig, so daß wir die Neugier auf Einzelzensuren noch einige Tage würden zähmen müssen. Dennoch: Hauptsache Ferien und nie wieder Schule! Von allen verhaßten Schulängsten befreit, rannte ich in unbeschreiblichem Jubel zum „Blauen Wunder“ und meinem Fluß, träumte mich über die sonnigen Hügel näher an das geliebte Felsengebirge heran und war unendlich glücklich. Das ganze, herrliche Leben lag vor mir. Daran würden weder der ernste Wachsoldat im Brückentürmchen noch das bereits vernehmliche Grollen der näherrückenden Front etwas ändern. Ich hatte trotz aller Greuelerzählungen nun vor nichts und niemand mehr Angst.

Und in der Tat verließ mich mein Mut auch wenige Stunden später nicht, als das Inferno des 13./14. Februar 1945 über meine Stadt hereinbrach. Nachdem der Bombenhagel nachließ, hatte ich nur ein Ziel: gegen die Vernichtung zu kämpfen, unsere Wohnung, das Haus, das Leben zu verteidigen. Der heulende Feuersturm schlug bereits wie eine riesige Flamme darüber hinweg. Zunächst packten nur wenige zu. Dem mutigen Herrn R. reichte ich nasse Tücher zur Dachluke hinaus, löste ihn zeitweilig ab und erstickte den sprühenden Funkenregen auf dem Dach. Dann rannte ich durch Wohnungen, stürzte brennende Fensterrahmen auf Hof und Straße, löschte beginnende Gardinen- und Möbelbrände und spurtete über den lodernden Hof, um im Hinterhaus das gleiche zu tun. Einige Bewohner waren geflohen. Andere blieben nun und nahmen den Kampf ebenfalls auf, obwohl er hoffnungslos schien. Denn im großen Straßenviereck ging ein Haus nach dem anderen in Flammen auf, und von beiden Seiten rückten die Brandherde unaufhaltsam näher. Allerdings ahnte noch niemand das Ausmaß der Katastrophe, und auch ich wunderte mich über das Ausbleiben der Feuerwehr. Inzwischen begannen an unserer Brandmauer die Lack- und Farbkanister der benachbarten Plakatdruckerei zu explodieren. Papier- und Pappvorräte loderten auf und flogen brennend im Sturm davon. Als die wichtigsten Posten zuverlässig besetzt schienen, kehrte ich zu meinem angesengten (deutschen oder polnischen?) Helden auf dem Dachboden des Vorderhauses zurück. Dann kämpften wir alle bis zum Morgen und erkämpften das Wunder: Beide Häuser standen noch. In einem Zweifrontenkrieg wären wir untergegangen. Aber in der Parallelstraße hatte auch eine andere Hausbesatzung das Feuer an ihrer Brandmauer gestoppt. Damit waren die Hälfte des Häuserkarrees und die Wohnungen Hunderter Menschen gerettet.

Allmählich kehrten die Geflüchteten zurück und brachten schreckliche Nachrichten: Im weiten Umkreis herrschten Chaos, Entsetzen, Tod und überall das rasende Feuer. Am nächsten Vormittag wieder Bomben, Explosionen ... Eine gewaltige Luftmine löschte im „bombensicheren“ Keller des nächsten Eckhauses auch das Leben der dicken Sonja und ihres verachteten altkommunistischen oder neunationalsozialistischen Vaters aus.

Inzwischen war ich vom Rauch erblindet und fürchtete, es zu bleiben. Erst am Morgen des zweiten Tages nahm ich wieder einen grauflackernden Schimmer wahr. Mein Augenlicht kehrte zurück, doch das rötlichtrübe Grau blieb. Denn Tag und Nacht glichen sich unter dem furchtbaren Schleier von Rauch und Feuer, der über Dresden lag. Der Untergang meiner geliebten Stadt ließ mich innerlich versteinern. Unser kleiner Wellensittich war im Rauch erstickt. Aber ich konnte nicht einmal vor den verkohlten Resten meines herrlichen Fliederbaumes weinen.

Am dritten oder vierten Tag schoben Mutter und ich unsere vollbepackten Räder durch qualmende Straßenzüge und vorbei an schaurigen Ruinen, in deren verschütteten Kellern es für Tote oder Noch-Lebende keine Hoffnung mehr gab, auf vielen Um- und Irrwegen hinauf zur Südhöhe und weiter ins Erzgebirge, wo mich eine längst vereinbarte Pflichtjahrstelle erwartete. Danach fuhr Mutter zurück in die zerstörte Stadt.

Mit der Pflichtjahrstelle hatte ich es gut getroffen. Meine Bauern besaßen einen mäßig großen Hof und waren herzensgute, bescheidene, schwer arbeitende Leute. Sie trieben ihre Menschenfreundlichkeit so weit, daß sie den ihnen tagsüber zugeteilten französischen Kriegsgefangenen trotz schwerer Strafandrohung an ihren Tisch holten. Zunächst war mir das unangenehm, aber dann gewöhnte ich mich an den bescheidenen Jean. Denn der war, das merkte man, bestimmt kein bolschewistischer Untermensch.

Da ich zu nichts gezwungen wurde, ließ ich freudig meine Kräfte spielen und scheute weder Muskelkater noch Schwielen, um in Stall und Feld Bestmögliches zu leisten. So wurde ich binnen kurzem zu einem geachteten Mitglied dieser kleinen Gemeinschaft, zu der neben dem Bauern und seiner Frau deren rüstige alte Mutter sowie zwei Schulkinder gehörten. Obwohl ich mich sonst schnell ekelte, löffelte ich die einfachen Schrotsuppen mit den anderen aus einer Schüssel und fand es bald völlig in Ordnung, daß die mehligen Pellkartoffeln direkt auf eine grobleinene Tischdecke geschüttet wurden. Auch in meiner ungeheizten Kammer fühlte ich mich wohl, selbst wenn nachts manchmal Schneekristalle durch die Fensterritzen und über mein Gesicht wehten.

Einige Kammern des Bauernhauses waren durch Flüchtlinge belegt, von denen mir eine ausgebombte Dresdner Familie unvergeßlich ist. Sie bestand aus dem gütigen alten Großvater S., dessen finsterblickendem Sohn nebst einer spitznasigen Frau vom BDM-Führerinnen-Typ sowie drei netten kleinen Mädchen, die etwa zwischen drei und neun Jahren alt waren. Es handelte sich um entfernte Verwandte der Bauern. Unter den übrigen Flüchtlingen wurde gemunkelt, daß der Finstere SA-Führer sei. Dies ließ mich relativ kalt, während ich der Frau mit wachsender Zurückhaltung begegnete. Abgesehen davon, daß sie ihre nationalsozialistische Überzeugung ständig auf der Zunge trug, regierte sie nicht nur die eigene Familie in diktatorischer Weise, sondern setzte auch bei mir zu Erziehungsversuchen an.

Obwohl ich mich bei meinen Bauern wohlfühlte, hatte ich Sehnsucht nach meiner Stadt und machte mir große Sorgen um die Mutter. Denn wir entnahmen den Radiomeldungen, daß Dresden nun sehr oft von feindlichen Fliegern angesteuert wurde. Manchmal brummten sie sogar über uns hinweg. Briefe von daheim brauchten lange bis ins Gebirge. Nachdem einmal zwei Wochen ohne Post ins Land gegangen waren, jagte ich voller Angst auf dem Rad zu Tale. In mein Köfferchen hatte ich mit bäuerlicher Erlaubnis einige Kartoffeln gepackt. Als ich kurz vor der Stadtgrenze den einsamen Possendorfer Berg hinunterpreschte, hörte ich hinter mir das Dröhnen eines Bomberverbandes. Falls er von Jagdflugzeugen begleitet wurde, konnten diese keine bessere Zielscheibe als mich finden. Die Meldungen über Tieffliegerattacken häuften sich, und einmal hatte auch ich mich schon in die Ackerfurchen drücken müssen. Mein Verstand sagte, daß Anhalten, Absteigen und In-den-Straßengraben-Werfen angebracht sei. Doch der Körper reagierte wie ein Tier auf der Flucht: nur weg - vorwärts! So raste ich weiter in dem Gefühl, den Tod im Nacken zu haben. Der Possendorfer Berg ist allerdings lang, und bald merkte ich, daß sich die Lage weder zum Guten noch zum Schlechten wandte. Das Dröhnen war unverändert hinter mir. Nun bremste ich doch, stieg mit zitternden Beinen ab und hörte - nichts. Die im Köfferchen herumpolternden Kartoffeln hatten meinen überreizten Nerven tatsächlich ein ganzes Bombengeschwader suggerieren können. Vielleicht lag diese Überspanntheit daran, daß ich vor wenigen Tagen den Brief einer Freundin erhalten hatte, wonach vier oder fünf Klassenkameradinnen am Tage unseres Schulabschlusses im Bombenhagel gestorben waren.

Etwa eine Stunde danach bog ich um die trümmerübersäte Straßenecke und erfaßte mit einem Blick jene rauchgeschwärzte Brandmauer am Ende der ausgehöhlten Fassadenreihe, so daß nicht mehr peinigende Angst, sondern himmelhoher Jubel mir fast die Brust sprengen wollte: Denn unser Haus stand noch! Auch die Mutter war wohlauf und besaß sogar einen datumsfrischen Feldpostbrief vom Bruder, so daß man sich vielleicht wenigstens diesen Tag nicht allzusehr um ihn sorgen mußte. Nur unserer bisher so unverwüstlichen Großmutter ging es schlecht. Die knapp Achtzigjährige litt noch unter dem Schock des Angriffs. Außerdem hatten die schwelenden Pappvorräte von nebenan wochenlang Giftschwaden in ihr Schlafzimmer dringen lassen. Beides zusammen verursachte anhaltendes Siechtum.

Das nächste Mal sah ich Mutter an meinem 16. Geburtstag. Obwohl sie bereits die Fünfzig überschritten und seit Jahren ein offenes Bein hatte, kam sie mit dem Rad aus der Dresdner Trümmerwüste zu mir in die Berge. Am nächsten Morgen fiel der Abschied besonders schwer. Denn die endgültige Niederlage Deutschlands war nur eine Frage von Tagen, und die Russen würden einmarschieren. Niemand wußte, was uns dann bevorstand.

Unter den Flüchtlingen führte diese Ungewißheit zu erregten Diskussionen- Selbst Frau S. schien den Glauben an die siegbringende „Wunderwaffe“ des Führers verloren zu haben und verfiel nach der Meldung über seinen Tod in düsteres Schweigen. An einem der nächsten Tage plünderte das ganze Dorf gemeinsam ein von der Wehrmacht aufgegebenes Lager. Auch ich schleppte manches weg und hatte wie jeder andere entsetzliche Angst, von der SS erwischt zu werden. Meinen guten Bauern hatte sie schon zuvor samt seinen beiden Pferden zum Gespanndienst requiriert und in Richtung Altenberg mitgenommen.

Der Einmarsch der Roten Armee vollzog sich, als ich eines späten Vormittags zufällig die Nase aus meinem Kammerfenster steckte und etwas Unbekanntes die Dorfstraße heraufrasseln hörte. Kurz danach entpuppte sich dies als langsam fahrender Panzer, auf dessen rückwärtigem Teil ein Soldat Ziehharmonika spielte. Er entschwand, hinterließ eine beträchtliche Staubwolke, und nach ihm kam - nichts.

An das nachfolgende Gespräch beim Mittagsabwasch erinnere ich mich deutlich. Die meisten waren aufgestört und beunruhigt, aber irgendwie auch schon neugierig, hoffnungsvoll oder sogar erleichtert. Vielleicht würde alles ja doch nicht so schlimm kommen, wie die Nationalsozialisten behaupteten. Dagegen malte Frau S. vor allem die weiblichen Schicksale in schwärzesten Farben und verkündete, als deutsche Frau werde sie lieber sterben als in Schande leben. Zu meinem Erstaunen meldete sich danach der stille Großvater S. zu Wort und verwies erregt auf deutsche Schandtaten. Am Schlimmsten hätten SS und Wehrmacht in Polen, Weißrußland und der Ukraine gewütet, und auch in anderen Gegenden sei kein Stein mehr auf dem anderen. Ganz abgesehen davon, was mit der Zivilbevölkerung geschehen sei und besonders den Frauen. Von Fremdarbeitern wußte ich und ebenso, daß es ihnen in Deutschland offenkundig nicht sehr gut gegangen war. Über deutsche Greueltaten hatte ich dagegen nie etwas gehört und konnte so etwas auch nicht glauben. Aber seltsamerweise widersprach niemand dem Alten, nicht einmal die Spitznasige. Dafür steuerte sie im Weiteren die Weisheit bei, man könne natürlich nicht alle Russen als Untermenschen betrachten, wirkliche Bestien seien nur die bolschewistischen Kommissare. Meine Verwirrung war derart groß, daß ich eine langgehegte Frage aussprach, die mir sonst nie über die Lippen gekommen wäre - schon gar nicht Frau S. gegenüber: Was die Kommunisten oder Bolschewisten denn eigentlich für Ziele hätten. Die Spitznasige stutzte kurz und meinte dann: Eigentlich wollten diese Leute dasselbe wie die Nationalsozialisten - nur auf anderem Wege. Danach standen endgültig alle meine Gedanken kopf, und ich zog mich in die Schlafkammer zurück.

Meine Ratlosigkeit wurde durch die Erinnerung an ein Erlebnis gesteigert, welches erst wenige Tage zurücklag. Da hatte auf unserem Holzplatz eine jener streng bewachten Kolonnen gerastet, die ich vorher nur aus der Ferne kannte. Am liebsten hätte ich den Trupp genauso wenig beachtet wie jeden anderen zuvor. Aber er kam ungelegen, denn ich wollte Holz hacken. Als ich ungeduldig aus dem Hoffenster schaute, huschte plötzlich unter mir etwas in die Stalltür. Unmittelbar danach hastete ein ausgemergelter, abgerissener Mann wieder heraus, der ein paar halb verfaulte Kartoffeln aus dem Schweinetrog an sich preßte. Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte ich ob dieses miesen Diebstahls Empörung und Verachtung, hätte vielleicht sogar im nächsten Augenblick Hilfe herbeigerufen. Aber dann sah der Mann nach oben, begegnete meinem Blick und erstarrte für einen Moment mit schreckgeweiteten Augen, bevor er geduckt zur Kolonne zurücksprang. Offenbar hatten die Wächter nichts gemerkt, und bald marschierte der Trupp ab. Erst am nächsten Morgen sprach sich herum, daß man von denen noch einige am Dorfrand erschossen habe: die vor Hunger, Schwäche und Krankheit nicht weiterkonnten. Seitdem sah ich die Augen des Kartoffeldiebes vor mir: Menschenaugen ... Und in ihnen hatte Todesangst gestanden.

Nun mußte ich auch an einen Haufen eigenartigen Uniformzeugs denken. Als unsere Klasse das Altenberger Zinnbergwerk besichtigen wollte, hatten wir es überstreifen müssen: dichtes, bräunliches Gewebe mit aufgemalten Buchstaben; wenn auch offenbar gereinigt und die eigenartigen Löcher darin zugestopft. Wir hatten damals in stiller Übereinkunft unseren Augen einfach nicht getraut. Denn anderenfalls hätten wir darüber nachdenken oder sogar sprechen müssen, wie diese Russensachen in das Bergwerk und wohin die Menschen gekommen waren, die sie doch eigentlich brauchen mußten. Oder was es mit den säuberlich vernähten Löchern auf sich haben könnte. Wie sich zeigte, wurde mir das Nachdenken nun nicht länger erspart, denn bereits die folgende Nacht sollte mir einen Denkzettel für das ganze Leben bringen.

Mein tiefer Unschuldsschlaf wurde durch die Tritte sowjetischer Soldatenstiefel gestört. Es waren drei Mann, die das Haus nach SS- und Wehrmachtsangehörigen durchsuchten. Da die Stromversorgung nicht funktionierte, leuchtete der Offizier mit einer Kerze in jede Ecke, in den Schrank, auf den Schrank und unter mein Bett, während ich verwirrt darin hockte und mich bis zur Nase in den Federn verkroch. Dann stampfte der Trupp schweigend hinaus und den Gang entlang - um binnen kurzem erneut in meiner Tür zu stehen. Der Anführer schloß sie, nachdem er die beiden andern draußen postiert hatte, warf sein Käppi auf den Wandtisch, stellte die Kerze daneben, ließ sich auf dem Stuhl nieder und begann ein Verhör. Dabei spielte er derart auffällig am Abzug seiner Maschinenpistole, daß sich mir buchstäblich die Haare sträubten und ich mein Zähneklappern nur mit Mühe verbergen konnte. Überhaupt wirkte der etwa dreißigjährige Mann - kahlgeschoren, abgezehrt, staubig - trotz unverkennbarer Müdigkeit gefährlich. Aber er sprach einigermaßen deutsch und wollte alles über mich wissen: Eltern, Geschwister, Heimatort, Soldaten oder Kriegsopfer in der Verwandtschaft, ausgebombt oder nicht ... Die letzte Frage rührte an meiner tiefsten Wunde und löste mir die Zunge für eine schmerzliche Anklage, in der ich alle unsere Gegner für den Untergang Dresdens und anderer deutscher Städte verantwortlich machte. Als der Offizier mich harsch korrigierte, begriff ich plötzlich, daß er die Wahrheit sagte: Tatsächlich hatte ich nie von Angriffen russischer Flugzeuge auf deutsche Städte gehört. Mit Ausnahme solcher, fügte er ernst hinzu, die von deutscher Seite selbst zur Festung erklärt worden waren. Für vernünftige Überlegung war ich zu verwirrt. Aber da das Verhör durch den kurzen Wortwechsel bereits unterbrochen war, versuchte ich instinktiv die Fortsetzung des Gesprächs zu erreichen und verfiel darauf, dem unheimlichen Gast meinerseits Fragen zu stellen. Dabei griff ich nacheinander zu den scheinbar harmlosesten: Sprachkenntnisse, Heimat, Familienangehörige ... Doch bereits die erste bewirkte, daß sich die Finger während der Antwort fester um den Abzug legten. Und als ich erschreckt in die nächsten beiden flüchtete, schien ich meinen Tod herausgefordert zu haben. So daß ich schweigend den Kopf senkte und die Augen schloß. Er habe viel Grund zur Rache, hörte ich den Mann zuletzt sagen und hatte dem nichts mehr entgegenzusetzen. Aber dann ließ mich ein unerwartetes Geräusch aufblicken - und die Maschinenpistole lehnte an der Wand. Nun schien der schreckliche Bann gebrochen. Wir unterhielten uns noch einige Minuten fast freundschaftlich. Zum Abschied ermahnte mich der Soldat für die nächsten Tage zu äußerster Vorsicht. Es gebe überall gute und böse Menschen. Zu meiner unendlichen Erleichterung setzte er dann sein Käppi auf, griff nach der Maschinenpistole und stampfte zur Tür, ohne mir auch nur ein Haar gekrümmt zu haben. Und das, obwohl er geradewegs aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen kam, wo er die Ermordung Tausender sowjetischer Gefangenen nur knapp überlebt hatte. Obwohl in seiner ukrainischen Heimat Millionen Menschen dem deutschen Vernichtungsfeldzug zum Opfer gefallen und Städte wie Dörfer großflächig zerstört waren. Und obwohl deutsche Soldaten seine Mutter und die zwei Schwestern zunächst vergewaltigt und danach bestialisch ermordet hatten.

Allerdings wurde ich abschließend doch noch daran erinnert, daß es den Mann nicht nur deshalb Überwindung gekostet haben mußte, mir so lange ruhig gegenüberzusitzen. Denn plötzlich baute sich die überstanden geglaubte Gefahr nochmals hautnah vor mir auf: Während der Soldat die Schwelle überschritt, sprang ich aus dem Bett und wollte eilig hinter ihm die Tür verriegeln. Er war allerdings noch schneller zurückgetreten und preßte mich für einen wilden Kuß an sich. Dann erhielt ich einen Stoß, war endlich allein und am Ende meiner Kraft.

Der folgende Tag brachte weitere widersprüchliche Eindrücke und Erlebnisse. Auf der Dorfstraße zogen russische Panzer, Fahrzeuge und kleinere Marschtrupps entlang. Da mir der nächtliche Besuch noch zu schaffen machte, behielt ich sie mißtrauisch im Auge und bemerkte, daß sich plötzlich Erregung ausbreitete. Mützen wurden geschwenkt, Soldaten umarmten sich ... Das Radio bestätigte es: Deutschland hatte bedingungslos kapituliert - der Krieg war aus!

Doch der Wind wehte das Echo von Schüssen zu uns herüber. Im Wald sollten sich SS und versprengte Wehrmachtsteile verschanzt haben. Später führte man einen Trupp abgerissener deutscher Gefangener auf unseren Holzplatz, wo sie sich längs der Scheunenwand aufstellen mußten. Uns stockte der Atem. Die befürchtete Erschießung fand allerdings nicht statt - obwohl die Deutschen zittern mußten, bevor man hinüberging, ihnen selbstgedrehte Zigaretten anbot und freudestrahlend auf die Schultern schlug: „Krieg kaputt! Chitler kaputt!“

Wenig später saßen meine Bäuerin und die alte Mutter weinend in der Küche, weil die Remise aufgebrochen und der Ackerwagen verschwunden war. Auf der Suche nach ihm gerieten wir in den sowjetischen Troß, der hinter unserem Haus lagerte. Er bot einen Anblick, der mich an „Wallensteins Lager“ erinnerte. Den alten Wagen fanden wir nicht. Aber ein bärtiger Soldat half uns, einen besseren aus dem Gewühl heraus- und auf den Hof zu schieben.

Während des Tages drangen verschiedene Nachrichten zu uns. NSDAP-Ortsgruppenleiter Henker habe sich aus Angst vor den Russen in der Jauchegrube versteckt und sei darin jämmerlich ertrunken. Im talwärts gelegenen Nachbardorf seien zwei russische Soldaten auf Befehl ihres Kommandeurs erschossen worden, weil sie sich an deutschen Frauen vergangen hatten. Ein Kommissar habe unsere Nachbarin rund um den Tisch gejagt - was immer das hieß. Inzwischen hatten wir das Haus für einen russischen Stab räumen und mit unseren Habseligkeiten in die Scheune übersiedeln müssen. Gegen Abend versuchten fünf oder sechs ängstliche Frauen, dem unwilligen Kommandeur die Bewachung unseres Schlafplatzes abzuringen.

Da ich mich nach der vorangegangenen Nacht wohl am meisten fürchtete, stieg ich währenddessen unbemerkt auf den oberen Scheunenboden und wühlte mich seitlich einer Fensterluke, der Dachschräge folgend, tief ins Stroh hinein. Danach fühlte ich mich sicher und genoß den Anblick der an diesem Tage angekommenen Schwalben, die vor mir in der Abendsonne über das Dach segelten. Wenig später saßen drüben auf der Hausbank zwei ältere russische Soldaten, und vor ihnen standen die drei neugierigen kleinen Mädchen der Familie S. Die rauhen Krieger versuchten sich mit den Kleinen zu verständigen und zogen, da diese vorerst schüchtern blieben, einige schöne Kunstblumenzweige aus den Tornistern. Damit war der Bann gebrochen, und die Kinder saßen bald jubelnd auf den Knien der beiden Alten. Das war ein Anblick, der mir an diesem ersten Friedensabend Freudentränen in die Augen trieb und mich in der Hoffnung einschlummern ließ, daß am Ende doch noch alles gut werden könnte. Nachts erwachte ich von irgend etwas, sah den rötlichen Widerschein von Lagerfeuern am Himmel, hörte einen fremdartigen Singsang, die Rufe der Wachtposten: „Kuda?“ - und schlief seelenruhig weiter. Obwohl, wie ich am nächsten Morgen erfuhr, mich der Tod wieder mal nur knapp verfehlt hatte. Denn der doch noch erbettelte Wachtposten für die Frauen war nachts auf den Oberboden gekrochen und hatte - wahrscheinlich auf der Suche nach versteckter SS - seinen langen Säbel überall energisch ins Stroh gestoßen. Dessen ungeachtet, griff ich beim Frühstück kräftig zu. Die Bäuerin war ungewöhnlich freigiebig: Was wir nicht aßen, würden sich die russischen Soldaten erbitten oder nehmen.

Aus Angst vor Übergriffen beschlossen die Frauen danach, mit Ausnahme der Altbäuerin in eine jenseits der Landstraße versteckt liegende Talmühle zu überzusiedeln, wo die Schwester meiner Bäuerin lebte. Während sich der alte Herr S. unserem Zug anschloß, blieben Sohn, Schwiegertochter und Kinder auf dem Hof zurück. Ich hatte an diesem Morgen niemand von ihnen zu Gesicht bekommen. Wir sollten es erst später erfahren, während die Altbäuerin ihre Leichen bereits wenige Stunden nach unserem Abmarsch im Kartoffelkeller entdeckte: Die Eltern hatten zuerst die Kinder und danach sich selbst erschossen. In der Jüngsten war noch ein verlöschender Rest Leben gewesen, als man sie fand.

Währenddessen erfreute ich mich ahnungslos des herrlichen Anblicks, den das Mühlental bot. Ich hatte dergleichen nie zuvor gesehen und fühlte mich in der idyllischen Frühlingslandschaft wie in einem altdeutschen Märchen: der dunkle Wald, saftige Wiesen und ein glitzernder Bach, der sich in heiteren Kapriolen an der alten Mühle vorbeischlängelte. Aber das Schönste waren die weiten Berghänge voller unüberschaubarer Stiefmütterchenfelder, aus denen mit dem Summen unzähliger Insekten balsamische Düfte stiegen. Allerdings blieb nicht viel Zeit zum Genießen, denn meine Bäuerin und ihre Schwester hielten Kriegsrat. Und obwohl sich nach Auskunft der Müllersfrau noch kein Russe in die Mühle verirrt hatte, steckten die beiden alle Jüngeren sicherheitshalber in den Taubenschlag über dem Stall, während die Alten draußen bleiben und die Wirtschaft besorgen sollten. Großvater S. kehrte aus Sorge um seine Familie ins Dorf zurück, so daß sich etwa fünfzehn Frauen, Mädchen und Kinder in der Mühle befanden.

Wie sich am frühen Nachmittag zeigte, hatten wir uns im engen Taubenschlag ganz umsonst steife Knochen geholt. Ein offenes Auto fuhr vor, drei Soldaten in nie zuvor gesehener Uniform liefen ins Wohnhaus, verluden Schinken und Brot - und kamen danach schnurstracks zu uns. Es waren Polen auf der Suche nach versteckten deutschen Soldaten. Einer der Älteren zog sich mürrisch zurück, nachdem er durch die enge Luke gespäht hatte. Aber ein Junge von etwa sechzehn Jahren kroch, die Pistole in der Hand, herein und von einer zur anderen. Scheinbar wollte er uns nur necken, denn trotz der Pistole wirkte er sympathisch und harmlos. Um so mehr war ich erschrocken, als er plötzlich sein ganzes Interesse mir zuwandte und mich mitzunehmen gedachte: weil ich aussähe wie eine Polin und zweifellos auch eine sei. Er wolle mich beschützen und nach Hause bringen. Da hatten sie mich also eingeholt, die sorbischen Ahnen ... Glücklicherweise riefen die älteren Soldaten bald nach dem Kerlchen, das trotz meines Protestes wiederzukommen und mich zu holen schwor und noch im Wegfahren rief: „Auf Wiedersehen, Panjenka!“ Ehrlichen Herzens schickte ich dem Jungen alle guten Wünsche nach. Welcher Wahnwitz, wenn einer wie er dem angeblich noch in den Wäldern herumspukenden „Werwolf“ zum Opfer gefallen wäre. Wie mochte es bei ihm zu Hause aussehen?

Bei meinen Leidensgefährtinnen rief diese Szene eigenartige Reaktionen hervor. Man gab mir zu verstehen, daß ich im Taubenschlag nichts mehr zu suchen habe. Da sich auch die nächtliche Episode mit dem Mann aus Sachsenhausen herumgesprochen hatte, war meine Nähe den jungen Damen wohl zu gefährlich. Oder ich schien ihnen der ideale Köder, um die fremden Soldaten von ihrem eigenen Versteck abzulenken. Denkbar war auch, daß ich bereits als entehrtes „Russenliebchen“ galt, obwohl die Bäuerin mein Gespräch mit dem staubigen Soldaten im Nachbarzimmer belauscht und anderentags wahrheitsgetreu wiedergegeben hatte. Für spätere Generationen ist der muffige Moralkodex jener Zeit kaum noch in Gänze nachvollziehbar, obwohl sich seine Reste bis heute nicht nur im Bürgerlichen Gesetzbuch erhalten haben. Damals war es für mich und meine Freundinnen jedenfalls noch selbstverständlich, daß ein lediges Mädchen mit seiner Unschuld die Ehre verlor und sich fortan als minderwertig zu betrachten hatte. Ob es Opfer einer Vergewaltigung war, spielte dabei keine Rolle. Eigentlich konnte es die Schmach nur durch den Tod tilgen. Bei verheirateten Frauen urteilte die Gesellschaft etwas milder. Unter dem Einfluß der rassistischen Naziideologie neigten solche wie Frau S. allerdings zu fanatischem Sauberkeitswahn und wollten es erst gar nicht darauf ankommen lassen, „entehrt“ zu werden. Deshalb waren mir weder die Vermutungen der anderen noch meine Verbannung aus dem Versteck gleichgültig. Aber ich ließ mir nichts anmerken, ging und half den älteren Frauen in der Wirtschaft.

Am Abend kamen auch die jüngeren aus dem Verschlag und gerieten dadurch in ein Ereignis, nach dem wir uns wortlos gemeinsam im alten Versteck verkrochen und jede froh war, die Nähe der anderen zu spüren. Denn in der Dämmerung fuhr ein russischer Offizier im Jeep heran; sprang pistolenschwenkend heraus; zwang alle, sich aufzustellen; rannte schießend ins Haus und trieb noch mehr Frauen heraus; ging danach zweimal langsam an unserer Reihe entlang; schaute jeder ruckartig ins Gesicht; zerrte die Müllerin mit sich fort; warf sie auf den Mist; stieß haßerfüllte Schreie aus; sprang Minuten später ins Auto; schoß in die Luft; und raste davon in die Dunkelheit. Das Erlebnis war schrecklich und zugleich unerklärlich. Einzelheiten muteten wie eine Filmszene an. Außerdem gab die Auswahl des Opfers Rätsel auf: Die gute Müllerin war weit über vierzig und besaß einen schweren Augenfehler. Eine Erklärung fand ich erst lange danach, obwohl sie auf der Hand lag. Dieser Mensch vollzog, worauf der ehemalige KZ-Häftling aus Sachsenhausen verzichtet hatte: haßerfüllte Vergeltung für erlittenes Leid; und zwar dadurch, daß er die deutsche Frau der Nazigeneration auf dem Misthaufen vergewaltigte.

Vermutlich war sein Rachedurst noch nicht gestillt und er schickte uns am nächsten Tag mit dem gleichen Jeep einige junge Soldaten, die sein Werk vollenden und mit der Schändung der Töchter vor allem die verhaßten Naziväter treffen sollten. Wenn ich an die Erzählung des ukrainischen Genossen denke - denn für mich steht fest, daß er Kommunist war - hatten wir Glück, überhaupt mit dem Leben davonzukommen und konnten außerdem froh sein, daß sich kein deutscher Mann bei uns aufhielt. Es war ein Fehler gewesen, das Dorf zu verlassen. Die abgelegene Mühle erwies sich als idealer Ort für die Inszenierung derartiger Verbrechen.

Die folgenden beiden Tage waren trotzdem weniger schlimm, als ich sie mir vorgestellt hatte. Natürlich fühlten wir uns tief verletzt und erschüttert - die mittelbar Beteiligten kaum weniger als die direkt Betroffenen. Aber wir waren unter Frauen, sprachen nicht zwangsläufig über die Ereignisse, sondern ließen einander in Ruhe und taten unsere Arbeit. Das schien die natürlichste Sache der Welt und der beste Weg, darüber hinweg und mit sich ins reine zu kommen. Hochnotpeinlich wurde es nur, wenn einzeln oder in kleinen Gruppen durch das Tal heimwärts ziehende ehemalige deutsche Soldaten in unserer idyllischen Mühle Rast machten. Am ersten Tag hatten wir noch gehofft, daß der eine oder andere länger bleiben und uns beschützen würde. Nun waren wir zufrieden, wenn sie weitermarschierten. Und dies geschah zuverlässig, sobald die älteren Frauen den Wanderern reinen Wein einschenkten. Um deren forschenden Blicken zu entgehen, verdrückte ich mich jedesmal aus der Gesprächsrunde.

Es müßte am dritten Tag gewesen sein, als in der Ferne erneut Männer auftauchten. Beim Näherkommen erkannte ich in einem meinen Bruder. Er war nach den Kämpfen bei Prag mit zwei anderen Soldaten über das Gebirge gestiegen, um mich abzuholen und mit mir zum Onkel nach Wedel zu fahren - weg von den Russen. Ich war begeistert, mußte ihm allerdings vorher wohl oder übel die häßliche Begebenheit beichten, denn sonst hätte er sie gewiß von meiner Bäuerin erfahren. Das war einer der peinlichsten Augenblicke meines Lebens, da in unserer hochanständigen Erziehung derartige Fragen nie eine Rolle gespielt hatten. Allerdings rechnete ich damit, daß dem Bruder Gespräche darüber ebenso unangenehm waren und behielt recht. Er schluckte, sagte aber kein Wort. Kurz darauf holte er mein Rad aus dem Dorf, und wir fuhren zu viert los. Es war für mich eine große Erleichterung, den durch unangenehmste Erinnerungen belasteten Ort hinter mir zu lassen. Andererseits hatte ich das selbstverständliche Mit- und Füreinander der Frauen gegen fortwährende Peinlichkeiten eingetauscht. Denn mein Bruder hatte die beiden anderen informiert. Während er selbst sich in feierlicher Schonung übte, bot mir der Älteste unserer Truppe - ein Lehrer - in bester Absicht eine Art Seelsorge an. Ich mußte ihm ständig ausweichen, bevor er die stumme Ablehnung akzeptierte. Desto mehr war der Dritte, ein lustiger Tiroler, mein Rettungsanker, da er mich ganz normal behandelte.

Es wurde eine aufregende und strapaziöse Radtour quer durch Deutschland. Sie dauerte zwei Wochen, und ich behielt von ihr Eindrücke zurück, die mein weiteres Leben ebenso beeinflußten wie die zurückliegenden Ereignisse. Denn es war beispielsweise überaus lehrreich, daß im sowjetisch besetzten Territorium aus merkwürdig vielen Fenstern rote Fahnen wehten, ausgeblichen - mit Ausnahme eines leuchtenden Mittelrunds. Oder, die sympathischen Amerikaner beim Ausheben der Schützengräben für einen neuen Krieg zu sehen - selbstverständlich gegen die Russen. Oder, auf der Autobahn den LKW-Kolonnen der Buchenwaldhäftlinge zu begegnen, die mit wehenden Fahnen in die Freiheit fuhren. Besonders auch, das entsetzlich zerstörte mitteldeutsche Industriegebiet der ganzen Länge nach durchqueren zu müssen. Oder, in Gardelegen einzutreffen, nachdem die SS dort einige Tage zuvor Hunderte Häftlinge lebendigen Leibes in einer Scheune verbrannt hatte.

Da der Lehrer seinen Mund nicht hielt, erlebte ich außerdem die Reaktion unterschiedlicher Menschen auf mein sogenanntes „Pech“. Bald haßte ich derartige Situationen mehr als alles in der Welt, lehnte mich aber aus Schüchternheit nicht dagegen auf. Als wir dann endlich beim Onkel eintrafen, verhielten er und seine Frau sich nach dem ersten Schreck korrekt und sprachen in meiner Gegenwart nicht über die Sache. Allerdings glaubte ich ihre Gedanken lesen zu können und war deshalb froh, als man mir zur Entlastung der familiären Versorgungssituation Arbeit bei einem Großbauern in der Haseldorfer Marsch besorgte.

Tatsächlich spürte man auf diesem Hof nichts von Not und Hunger. Im Vorratskeller sammelte sich die Sahne, und die Eierberge wuchsen. Wir arbeiteten schwer und erhielten ausreichend Essen, obwohl die Speisenfolge eintönig war. Aber was bedeutete das schon, wenn man um den schrecklichen Hunger der Städter wußte. Mein Bruder kam manchmal von Wedel heraus und erhielt einige Speisereste, bevor diese an die Schweine verfüttert wurden. Die Bauern waren geizig und auf weitere Mehrung ihres Wohlstandes bedacht. Wer an ihre Tür klopfte und um Nahrungsmittel bat, mußte schon etwas Wertvolles zum Tauschen anbieten können. Auch mit der nahegelegenen britischen Militärfliegereinheit trieben sie einen schwunghaften Tauschhandel.

Manchmal begegnete ich einem der sehr zivilisiert wirkenden Offiziere und überlegte, ob er vielleicht den Angriff auf Dresden mitgeflogen hatte. Er lag noch kein halbes Jahr zurück, und die Erinnerung daran schmerzte mich mehr als alles andere. Deshalb war ich tief erschüttert, als die Nachricht von den amerikanischen Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki zu uns drang. Die übrigen Landarbeiter reagierten ähnlich. Einer meinte, es sei leicht, solch ein Riesending irgendwo auszuklinken, wenn man noch keine einzige Bombennacht am eigenen Leibe erlebt habe. Anderenfalls würden die Amis nicht derart unbeschwert damit umgehen. Von den Russen wußten und hielten die Leute aber noch weniger, und die immer wieder auftauchenden Gerüchte über ihren bevorstehenden Einmarsch in Schleswig-Holstein riefen bei den Frauen jedesmal Panik hervor. Während unserer Pausen am Feldrand führte ein erfahrener und auf dem Hof unentbehrlicher Landarbeiter das Wort. Gegenüber dem Bauern leistete er sich manche Widerborstigkeit, sprach von Ausbeutung und meinte, daß man nun ja auch wieder mal an Streik denken könne. Davon hatte ich noch nie gehört und bewunderte den Mann. Ich selbst war viel zu ängstlich, obwohl man mich zweifellos ebenfalls ausbeutete. Denn abgesehen vom Essen - das in dieser Zeit natürlich das Wichtigste war - erhielt ich monatlich nur 30 Mark für schwerste und zum Teil sogar ekelhafte Arbeit. Wir Mädchen hatten nicht nur direkt auf der Weide zu melken, Feld- und Küchenarbeit zu leisten, sondern beispielsweise auch die intimste Schmutzwäsche der Bauern zu waschen. Mir als der Geringsten von allen oblag außerdem die Reinigung ihrer „Toilette“. Diese bestand nur aus Sitzgelegenheit und untergestelltem Eimer, der bestialisch stank und in dem fette Maden wimmelten. Ich konnte weder den Geiz und die Unkultiviertheit dieser reichen Leute begreifen noch das, was sie anderen zumuteten.

Ohnedies fiel mir das Einleben auf dem Hof schwer. Das Plattdeutsche lernte ich erst nach Wochen mühsam verstehen, und ich hatte niemand zum Reden. Meine Schlafgelegenheit befand sich in der Kammer einer Zwanzigjährigen, die stellvertretend für die kränkelnde Bäuerin das Kommando in der Hauswirtschaft führte. Verständlicherweise waren ihr die Einquartierung und mein Sachsendeutsch eher lästig. Aber die für ihre Neugierde bekannte Bäuerin hatte meine Zimmergenossin offenbar beauftragt, mich auszukundschaften. Nachdem diese mir mein Geheimnis endlich abgeluchst hatte, begann sie deutlich ihren Ekel zu zeigen, und außerdem sprach sich die Sache herum. Vor allem das Verhalten des Bauern war mir danach nicht mehr geheuer. Die Bäuerin schätzte das wohl ebenso ein. Denn ich spürte die Kontrolle und mußte ihr im Grunde noch dankbar sein.

Unter diesen Umständen war Heimweh unausweichlich. Es packte mich mit verheerender Kraft, als mein Bruder aus Sorge um die Mutter die Heimreise nach Dresden angetreten hatte. Danach meldete er per Postkarte seine glückliche Ankunft und versprach mich nachzuholen, sobald es die Verhältnisse erlaubten. Allerdings schien ich sogar der Mutter im britisch besetzten Holstein bis auf weiteres besser aufgehoben zu sein als in der sowjetischen Besatzungszone. Deshalb beschloß ich, auf eigene Faust zu handeln und fuhr wöchentlich einmal mit dem Rad nach Uetersen oder Pinneberg, um den zuständigen Behörden eine amtliche Erlaubnis für meine Heimkehr abzuringen. Denn zunächst zeigte man sich dazu keineswegs bereit, suchte Ausflüchte, vertröstete auf baldige Sammeltransporte und warnte die Sechzehnjährige mit unheilverkündender Miene vor den schlimmen Russen. Ich ließ mir dies so lange gefallen, bis mich jener alte Landarbeiter darüber aufklärte, daß die Behörden der Westzonen kein Interesse daran hatten, den „Sowjets“ deutsche Menschen zukommen zu lassen und irgendwelche Sammeltransporte nach „drüben“ zu organisieren. Danach nahm ich allen Mut zusammen, haute beim nächsten Mal ordentlich auf den Amtstisch - und hatte meine Genehmigung in der Tasche. Onkel und Tante entsetzten sich wegen meines Vorhabens und gaben der Unbelehrbaren als düstere Prophezeiung mit: „Du fährst in dein Unglück!“ Sie sind längst verstorben, sähen ihre Voraussage aber wahrscheinlich durch die weitere Entwicklung bestätigt. Ich dagegen weiß, daß die erste wirklich selbständige Entscheidung meines Lebens auch die allerglücklichste war.

Mein Rad ließ ich in Wedel und pferchte mich nach halbtägigem Warten auf dem Hamburger Hauptbahnhof mit Tausenden in einen offenen Güterzug, der tatsächlich nach weiteren Stunden des Ausharrens abfuhr - wenn auch mit unbekanntem Ziel. Ich hatte Glück, landete in Lehrte und - nach zweimaligem Umsteigen und mit verstauchtem Knöchel - schließlich in Bad Harzburg. Dort verlief die von den Besatzungsmächten beiderseits streng bewachte Demarkationslinie, und eigentlich war ab hier kein Weiterkommen. Wer beim illegalen Übertritt erwischt wurde, hatte mit empfindlicher Bestrafung zu rechnen - auf russischer Seite vermutlich gleich mit „Sibirien“, sagten die Einheimischen. Schon deshalb hätte ich den Marsch niemals allein gewagt. Aber zu meinem Glück war mir unterwegs ein „Schutzengel“ in Gestalt des ehemaligen deutschen Soldaten Helmut L. begegnet, der ebenfalls heimkehren wollte und mein brüderlicher Begleiter wurde.

Der Zweiundzwanzigjährige kümmerte sich um den verstauchten Knöchel, beobachtete mit mir zwei Tage die Grenze, stellte Kontakt zu einer gemischten Heimkehrertruppe her, bezahlte meinen Anteil am „Bärenführer“ und trug das Gepäck, als wir mit den anderen im Stockdusteren über die Grenze tappten und die Ilse überqueren mußten. Drüben stießen wir auf einen stillgelegten Schienenstrang, dessen seitliche Signaldrähte allerdings noch hervorragend funktionierten, wenn auch in ungeahnter Weise. Denn als jemand über sie stolperte, lief ein schrilles Scheppern an ihnen entlang und ließ eine russische Streife aus dem Wald auftauchen. Wir wurden in die Mitte genommen und mit unbekanntem Ziel abgeführt. Während ich ängstlich, aber ahnungslos dahintrabte, schätzte mein Begleiter die Situation richtig ein. Außer dem Waldesdunkel bewahrten mich dies und mein Reaktionsvermögen vor einer Wiederholung des Mühlenszenarios. Denn Helmuts Befehl hören und zur Seite springen, war für mich eins. Dann preßte ich das Gesicht in den Waldboden, bis die Nachhut vorüber und ringsum alles still war. Anschließend verbrachte ich im Angesicht des mondbeglänzten Brocken eine kalte Nacht auf freiem Feld. Immerhin waren bereits die letzten Augusttage angebrochen, und ich besaß nur leichte Kleidung. Meinen Beschützer und die anderen sah ich am Morgen auf dem Stapelburger Bahnhof wieder. Ein Blick auf die Frauen bestätigte, daß sich mein Risiko gelohnt hatte. Am Nachmittag des gleichen Tages erreichten mein Reisegefährte und ich Leipzig, wo wir uns zu meinem größten Bedauern trennen mußten, denn Helmut stammte aus Gera.

Da die sowjetischen Sperren an der Mulde offenbar seit kurzem aufgehoben waren, gelangte ich zwar nicht besonders schnell, aber sonst problemlos nach Dresden, wo ich im Wartesaal des Neustädter Bahnhofs die Nacht verbrachte und am nächsten Morgen nach Hause fand, obwohl ich die altvertrauten Brücken und Straßen inmitten aller Trümmer oft vergebens suchte. Als ich dann an der Haustür mein Sturmsignal klingelte und die Treppen hinauf in die Arme der fassungslosen Mutter flog, war der II. Weltkrieg endlich auch für mich zu Ende.

Wie ich danach verstehen mußte, hatte er allerdings im Lande und besonders in den zerstörten Städten Probleme zurückgelassen, die denen der Kriegszeit nicht nachstanden, sondern sie oft noch übertrafen. Der Winter kam rasch näher, und die neuen Behörden machten in ihrer Zeitung keinen Hehl daraus, daß er nicht leichter, sondern schwerer als die Gegenwart und alle vorangegangen Winter sein werde. Als ich dies las, überkam mich ein Gruseln. Mir reichten bereits die bei der Heimkehr vorgefundenen Schwierigkeiten. In Dresden waren sie derart gravierend, daß die Stadt nicht einmal ihren heimgekehrten Kindern - und auch mir fehlten noch viereinhalb Jahre zur Volljährigkeit - eine ständige Aufenthaltserlaubnis erteilen konnte. Immerhin erhielt ich nach einiger Zeit wenigstens die Nichtarbeiter-Lebensmittelkarte und hatte mich regelmäßig auf dem Arbeitsamt zu melden. Dort wurde mir schließlich eine angebliche Lehrstelle als Technische Zeichnerin bei einem Blasewitzer Architekten vermittelt, der mich aber überwiegend als Bürohilfe und „Mädchen für alles“ einsetzte. Da mir jede zeichnerische Begabung fehlte, konnte ich ihm das nicht verübeln. Ich war eigentlich mit der etwas höheren Lebensmittelkarte und den gewohnten 30 Mark monatlich bereits ganz zufrieden.

Es wurde tatsächlich ein sehr harter und für Großmutter wie für manch anderen Dresdner der letzte Winter. Auch wir hungerten sehr. Mutter gab uns beiden „Kindern“ - mein Bruder war ja auch erst neunzehn - heimlich von ihrer schmalen Ration ab, mußte sich an weit zurückliegende Tricks zur „Streckung“ bereits fabrikmäßig gestreckter Nahrungsmittel erinnern oder neue erfinden und tagtäglich nach irgendwie Verwertbarem Ausschau halten.

Ich versuchte ihr zu helfen, indem ich zweimal zu meinen Bauern ins Gebirge fuhr und danach jeweils einen prall mit Kartoffeln gefüllten Rucksack zu Hause ablieferte. Das war ein äußerst strapaziöses und durchaus nicht ungefährliches Unternehmen. Es begann lange vor Tagesanbruch mit dem mehr als einstündigen Marsch durch die unbeleuchteten und unsicheren Trümmerfelder bis zum Hauptbahnhof. Nach etwa zweistündiger Bahnfahrt mit Umsteigen in Edle Krone langte ich in Frauenstein an und hatte bis zum Bauernhof knapp zwei Stunden zurückzulegen. Dies alles war mit leichtem Gepäck kein Problem, wohl aber der Rückweg. Da lasteten dann ein halber Zentner oder mehr auf den Schultern, und die Züge waren derart überfüllt, daß man sich sogar das Trittbrett mit anderen teilen mußte. Während der ersten Reise zog der Rucksack im Fahrtsog mit derartigem Gewicht nach unten, daß ich mein letztes Stündlein gekommen glaubte. Beim zweiten Mal konnte ich die Last wenigstens neben mir auf dem Fußgitter unterbringen und diesen Platz sogar gegen Nachdrängende verteidigen. Dafür endete die Fahrt auf freier Strecke, ich zerschlug mir beim Hinunterspringen auf den Schotter das Knie und mußte - da die Straßenbahnen ebenfalls nicht planmäßig fuhren - mit dieser Verletzung und der schweren Last etwa zweieinhalb Stunden durch die dunklen Trümmerstraßen heimmarschieren. Aber ich hätte nicht eine der unersetzlichen Kartoffeln hergegeben, die sehr lange ausreichen mußten und einschließlich der Schalen in vielfältigsten und sparsamsten Varianten verwertet wurden.

Unser Wiedersehen war für meine Bauern und mich eine große Freude gewesen. Im Dorf herrschte Ruhe, die sowjetischen Truppen waren längst abgezogen, und auf dem Grab der Familie S. lag der erste Schnee. Mein guter Bauer war aus den erbitterten Kämpfen um Altenberg unverletzt zurückgekehrt, allerdings ohne seine beiden prächtigen Pferde, die von Granaten zerrissen worden waren, dafür aber mit einem schweren seelischen Trauma. Mir schien er nur noch ein Schatten seiner selbst. Und tatsächlich sollte er danach nicht mehr lange leben.

Der Hunger war nur eines, wenn auch das schwerwiegendste, der zahllosen Alltagsprobleme, die sich auch auf die Psyche der Menschen auswirkten. Ein weiteres war, daß man in den großräumig zerbombten Städten selbst im sogenannten „Frieden“ sehr gefährlich lebte. Abgesehen von Kriminalität und lebensgefährlichen Erkrankungen, hatte man sich besonders vor Blindgängern und zusammenbrechenden Häuserruinen zu hüten. Es wurde vorausblickend viel zum Abbau von Gefahrenherden getan, aber jeder mußte stets auf alles gefaßt sein. Beispielsweise wäre ich eines Tages beinahe ebenso von einem Schornstein erschlagen worden, wie es einem alten Mann neben mir geschah. Mich rettete auch diesmal nur mein Reaktionsvermögen: Die Leute an der Haltestelle gegenüber rissen plötzlich die Arme hoch; ich drehte mich um, sah den Schlot zusammenbrechen - und raste zur anderen Straßenseite, während die Brocken den Mann verschütteten und hinter mir herpolterten.

Das Schlimmste war aber die anfängliche Hoffnungslosigkeit. Es schien unvorstellbar, daß sich unser tristes Leben voller Not und Kummer jemals ändern oder gar die Stadt aus all den unübersehbaren Trümmerbergen neu erstehen würde. Allein sie wegzuräumen, schien eine nicht von Menschenhand zu leistende Titanenarbeit. Jeder einigermaßen erhaltene Wohnraum war überbelegt, denn zu Recht operierten die staatlichen Stellen mit Zwangseinweisungen. Auch in unserer kleinen Wohnung lebten inzwischen einige Personen mehr, und ich mußte mir mein Bett jeden Abend auf dem Fußboden richten. Andererseits erhielt mein Architekt bereits Aufträge zur Vermessung und Projektierung zerstörter Blasewitzer Prachtvillen, deren Absender meist außerhalb Dresdens nicht schlecht lebten. Denn Fabrikanten und Geschäftsleute, die noch irgend etwas „bieten“ konnten - und die meisten hatten für alle Fälle Vorräte aufs Land ausgelagert - hungerten oder froren keineswegs, während ich die Wintertage mit knurrendem Magen, klammen Händen und nassen Füßen bei Vermessungsarbeiten auf ihren Grundstücken verbringen mußte. Ich haßte den Gedanken, daß diese vornehmen Villen wiedererstehen sollten, während die Wohnviertel der einfachen Leute noch in Schutt und Asche lagen. Glücklicherweise würden die Sowjets und die von ihnen eingesetzten deutschen Verwaltungen das nicht zulassen - da war ich ziemlich sicher.

Daß ich diesen Institutionen zunächst trotzdem keine Sympathie entgegenbrachte, konnte mir nach meinen Erlebnissen keiner verübeln. Der alltägliche Kampf um die nackte Existenz rückte diese zwar zeitweise etwas in den Hintergrund, aber danach standen sie wieder vor mir und mündeten stets in langen, einsamen Grübeleien. Denn nach Konsultation einer Blasewitzer Ärztin hatte ich mir geschworen, mit keinem Erwachsenen mehr über meine Probleme zu sprechen. Immerhin war selbst diese zunächst sehr freundliche Dame angeekelt vor meiner Offenbarung und mir zurückgewichen. Wahrscheinlich hatte sie in ihrer Praxis noch keinen derartigen Fall erlebt, da in Dresden kaum Übergriffe stattgefunden hatten. Ein anderes „Opfer“ kannte ich allerdings, und es wohnte sogar direkt über uns. Die Russen waren auch hier von Haus zu Haus gegangen, ohne jedoch in unserer Wohngegend irgendwelchen Schaden anzurichten. Frau M. geriet trotzdem derart in Panik, daß sie bei der Hausdurchsuchung aus dem 2. Stock in die Tiefe sprang. Glücklicherweise lag Mutters breites Blumenbrett dazwischen, und sie brach sich auf dem Hofpflaster nur ein Bein. Nun lachte das ganze Wohnviertel über ihre Hysterie.

Von Schandtaten war eigentlich nur im Zusammenhang mit der SS die Rede. Sie hatte unter anderem jenen Arzt erschossen, dem mein Bruder vormals die Befreiung vom Geländedienst des Jungvolks verdankte. Dr. Rainer Fetscher war der Roten Armee mit einer weißen Fahne entgegengefahren, um Kampfhandlungen und damit weitere Opfer unter der Zivilbevölkerung zu verhindern. Mein geliebtes „Blaues Wunder“ war von der SS zur Sprengung vorbereitet worden, die nur durch das beherzte Eingreifen eines Anwohners vereitelt wurde. Geradezu ekelhaft fand ich Berichte, wonach sich in der nahegelegenen Schule eine ganze Schar Nachrichtenhelferinnen oder ähnlicher Dämchen beliebigen SS-Leuten hingegeben hatte, um nicht von Bolschewisten entehrt oder vielleicht sogar Mütter ihrer „Bastarde“ zu werden.

Das Wichtigste an diesem ersten Nachkriegswinter war für mich aber das „Große Nachdenken“. Unsere Generation hatte im Krieg mehr gelitten als jede andere zuvor und stand nun vor den verheerenden Folgen einer Politik, die sie zum großen Teil in blindem Vertrauen mitgetragen hatte. Während manche insgeheim weiter den verhängnisvollen Theorien und Feindbildern anhingen, leiteten andere aus dem Mißbrauch ihrer jugendlichen Begeisterung den Vorsatz ab, künftig unpolitisch zu bleiben. Weitere Teile nahmen eine skeptisch-abwartende Haltung ein, während mein Bruder und ich zu den Aufgeschreckten und Ungeduldigen gehörten, die stürmische Fragen stellten und für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Antworten suchten; die entschlossen waren, ihr weiteres Schicksal künftig in die eigenen Hände zu nehmen. Zunächst interessierten wir uns für die Ziele der LDPD, die sich auf dem Papier nicht schlecht ausnahmen und unserer kleinbürgerlichen Mentalität entsprachen, zumal die Partei zu den Russen spürbar auf Distanz ging. Allerdings merkten wir trotz unserer geringen Politikerfahrung, daß sich in LDPD und CDU nicht nur integere bürgerliche Persönlichkeiten, sondern eine ganze Menge übler reaktionärer und revanchistischer Kräfte sammelten, die aus der Vergangenheit nichts gelernt hatten. Zu ihnen zählten jener Blasewitzer Architekt und sein engster Mitarbeiter, mein unmittelbarer Vorgesetzter. Beide gehörten der LDPD an. Damals war ich noch alles andere als eine Freundin der Sowjetunion, aber mir lag zutiefst an Wahrheit und Gerechtigkeit. So konnte ich nicht umhin, die unwiderlegbaren Resultate der faschistischen Eroberungs- und Ausrottungspolitik zur Kenntnis zu nehmen. Dagegen erklärten meine beiden Chefs derartige Verlautbarungen zu „infamen bolschewistischen Lügen“. Und als wir in einer Diskussion auch auf die „Neger“ zu sprechen kamen, empörten sich beide über meine Anteilnahme für diese minderwertigen „Kreaturen“, die in ihren Augen keine Menschen waren. Mein unmittelbarer Vorgesetzter äußerte sogar: „Die hätten wir am besten mit den Juden zusammen vergasen sollen.“ Das Verhalten der beiden neuliberalen Altnazis wirkte auf mich beinahe noch überzeugender als die inzwischen veröffentlichten Schreckensstatistiken. Mit solchen Menschen wollte ich nichts gemein haben, und schon gar nicht die Parteizugehörigkeit.

Auch mein Bruder ging inzwischen andere Wege. Sie führten ihn unerwartet zum Antifaschistischen Jugendausschuß, wenig später zur Kommunistischen Partei und danach sogar als hauptamtlichen Jugendfunktionär in einen anderen Kreis. Mir war dies derart unverständlich, daß ich mich nun selbst in marxistische Broschüren sowie die Angebote der Antifajugend vertiefte - und noch vor Jahresende ebenfalls zu dieser gehörte. Denn hier trafen sich Mädchen und Jungen, die nicht nur allesamt Ähnliches erlebt und erlitten, sondern wie ich mit dem Nachdenken begonnen hatten. In unseren Heimabenden wurde gelacht und gesungen, aber vor allem um Wahrheiten gerungen. Oft diskutierten wir noch stundenlang vor der Haustür weiter und konnten die Zeit bis zum nächsten Treff kaum erwarten. Im Gegensatz zu heutigen Behauptungen hat uns niemand „eingefangen“, und wir sind auch nicht prinzipienlos von den Nationalsozialisten zu den „Roten“ übergelaufen. Unsere „Geburtshelfer“ waren allerdings in der Mehrzahl erfahrene Genossen der KPD und SPD. Sie traten der nazistisch erzogenen Jugend zwar kritisch, aber nicht abweisend gegenüber.

Inzwischen veränderte sich meine Einstellung zur Sowjetunion und ihrer Roten Armee allmählich. Denn ich mußte zunächst wenigstens theoretisch akzeptieren, daß der Krieg von Deutschland seinen Ausgang genommen und in der Sowjetunion sowie anderen Ländern Entsetzliches verursacht hatte. Das danach dem deutschen Volk und auch mir zugefügte Leid war Folge und Rückwirkung dieser Verbrechen. Außerdem bestand die erklärte Absicht zumindest der Sowjetunion darin, die deutsche Zivilbevölkerung nicht für faschistische Untaten büßen zu lassen, und aufgeklärte Übergriffe wurden drastisch geahndet. Meine emotionale Annäherung brauchte etwas länger, sollte sich danach jedoch desto herzlicher und dauerhafter entwickeln.

Das Wichtigste aber bleibt noch heute für mich, daß ich dem für die Niederlage Hitlerdeutschlands ausschlaggebenden Sieg der Sowjetarmee nicht mehr und nicht weniger als meine Menschwerdung verdanke. Denn nicht nur der Blick zurück in die faschistische Vergangenheit machte mich schaudern, sondern auch die Vorstellung, zu welchen Schandtaten ich wie jeder andere im Geist des Nationalsozialismus erzogene Jugendliche bei Fortdauer der faschistischen Herrschaft noch fähig gewesen wäre.

Es begann für mich und Abertausende Jugendliche trotz Hunger und Not schon damals - das neue Leben in einem besseren Land. Auch ich habe mich danach noch jahrelang ehrlichen Herzens für die antifaschistisch-demokratische Einheit Deutschlands eingesetzt. Aber nach Bildung des Bonner Separatstaates begrüßte ich voller Begeisterung die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik, die ich fortan als mein Heimatland betrachtete. Am historischen Fackelzug der Freien Deutschen Jugend hätte ich nur allzu gern teilgenommen. Doch an eben diesem Tag legte ich die Begabtenrüfung für das Hochschulstudium ab und erhielt wie viele andere danach - darunter später auch meine Kinder - die Möglichkeit, mich unbeeinträchtigt von materiellen Sorgen zu bilden und meinen Fähigkeiten entsprechend zu entwickeln. Das war all die Jahrhunderte zuvor noch keinem aus meiner Familie vergönnt - und ist es in der Gegenwart wiederum nicht.

Doch mehr noch als die Existenzprobleme meiner Familie im heutigen Deutschland beunruhigen mich die durch staatliche Maßnahmen begünstigte Ausländerfeindlichkeit im Innern sowie eine Außenpolitik, die unter dem Deckmantel von Friedensmissionen nicht vor militärischen Aggressionen zurückschreckt. Ich sehe dadurch Geisteshaltung wie Leben meiner Enkel unmittelbar gefährdet.

Als der letzte „heiße“ Krieg hinter uns lag, statt dessen aber der Kalte Krieg begonnen hatte und erneut in einen Weltenbrand umzuschlagen drohte, schrieb Ernst Fischer einen Liedtext. Er wurde von Hanns Eisler vertont und brachte damals die Empfindungen von Abermillionen Menschen zum Ausdruck. Angesichts der aggressiven NATO-Strategie erscheint er mir aktueller denn je. Deshalb hielte ich es für angebracht, ihn in den Lehrplan der deutschen Schulen aufzunehmen.

 

Der Blitz schlägt ein und der Regen fällt

und der Wind hat die Wolke gebracht;

doch den Krieg trägt nicht der Wind in die Welt,

den Krieg haben Menschen gemacht.

Es dampft die Erde im Frühlingsrausch

und der Himmel wird hoch und still,

doch der Friede grünt nicht wie das Gras und der Strauch,

Er blüht, wenn der Mensch es will.

 

Und wenige sind’s, die haben den Stahl,

und es lohnt sich für sie nicht der Pflug,

und den wenigen wird die Erde zu schmal,

und nichts ist ihnen genug.

Sie zählen die Menschen, sie zählen das Geld

und Krieg ist die letzte Bilanz.

Die wenigen sind zu viel auf der Welt.

Macht Schluß mit dem Totentanz!

 

Mutter, es geht um dein eigen Kind,

wehr dich und laß es nicht zu,

und ob wir Millionen mächtiger sind

als der Krieg, das entscheidest du.

Und das ist jedermanns großer Entscheid

und sagen wir alle: nein!

dann wird der Krieg die Vergangenheit

und der Frieden die Zukunft sein.

 

Völker, ihr selbst seid das Schicksal der Welt,

eurer Kraft werdet eingedenk.

Der Krieg ist kein Gesetz der Natur,

und der Friede ist kein Geschenk.

Es gilt den Krieg zu schlagen,

den Frieden gilt es zu wagen,

den Mördern gilt es jetzt zu sagen: nein, nein, nein!

Das Leben lassen wir nicht,

den Hetzern die Faust ins Gesicht!

Dann wird der Krieg nicht sein,

dann wird der Krieg nicht sein.

Johanna Zimmermann


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