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Entscheidung für das Leben

 Es war der 21. März 1945, als meine Mutter vor die schwere Entscheidung gestellt wurde, Stettin mit ihren sechs noch zu Hause verbliebenen Kindern zu verlassen. Konnte sie dieser Aufforderung der Wehrmacht ohne weiteres Folge leisten? Immerhin hatte sie ihrem Mann versprochen, auf ihn zu warten. Auch die beiden ältesten Söhne wollten nach Stettin kommen, wenn sie aus dem Krieg heimkehrten. Aber die Stadt war zur Festung erklärt worden, und so begann für uns und andere Familien bereits am nächsten Tag eine Reise ins Ungewisse. Es war der letzte Zug, der die Stadt verließ. Notdürftig richteten wir uns in den völlig verdreckten Viehwagen ein und hofften, bald an einem sicheren Ort zu sein. Aber dann wurde es eine endlose Fahrt, während der wir immer wieder anglo-amerikanische Bomben- und Tieffliegerangriffe erleben mußten. Erst im April kamen wir in Celle an, hatten jedoch auch hier gleich einen schweren Bombenangriff zu überstehen. Den Anblick der Toten und Verletzten - darunter viele Kinder und Säuglinge - werde ich nie vergessen.

Aber dann zogen britische Besatzungstruppen ein, die Flüchtlingsunterkunft in der Schule wurde geräumt, und der Unterricht begann wieder. Allerdings gestand man uns Flüchtlingskindern nicht das Recht zu, in der bereits früher erreichten Klassenstufe weiterzulernen. So gehörte ich eigentlich schon in die 4. Klasse, mußte jedoch als Neunjährige wieder mit der 1. Klasse der Volksschule anfangen.

In den folgenden Jahren ging es uns nicht anders, als den meisten Flüchtlingen: Wir lebten in Notquartieren, es fehlte eigentlich an allem, und man sah uns nirgendwo gerne. Aber immerhin waren wir wieder vereint: Meine beiden Brüder hatten uns gefunden, und Vater war endlich auch bei uns.

Von meinen weiteren sechs Jahren Schulzeit ist mir vor allem die Zeit 1950/1951 in Erinnerung geblieben. Wir hatten einen Lehrer, der selbst zugab, als SS-Offizier in Rußland gewesen zu sein. Nach den Pfingstfeiertagen 1950 ließ er uns einen Aufsatz über die schönsten Ferienerlebnisse schreiben. Da ich im März 1950 in die Freie Deutsche Jugend eingetreten war, am 1. Deutschlandtreffen in Berlin teilgenommen hatte und begeistert zurückgekehrt war, berichtete ich in meiner Klassenarbeit natürlich davon und wurde daraufhin durch den Lehrer von der Schule verwiesen. Meine Eltern setzten sich allerdings zur Wehr, und ich mußte wieder aufgenommen werden. Trotzdem wurde ich seitdem von Lehrer und Klasse geächtet. Denn ich war eine Andersdenkende: Meine Eltern gehörten der KPD an und ich der FDJ. Es schien niemanden zu interessieren, daß beide Organisationen in der BRD offiziell zugelassen waren und ihre Mitglieder sogar im Bundestag bzw. in den Landtagen saßen.

Nach dem Tod meines Vaters geriet unsere Familie in große wirtschaftliche Schwierigkeiten, denn Mutters Witwenrente reichte nicht weit. Ich war zwar inzwischen aus der Schule entlassen, fand aber weder eine Lehrstelle noch eine ordentliche Arbeit. Mein Arbeitslosengeld betrug 17,10 DM die Woche. Das reichte nicht einmal zum Überleben, und Taschengeld blieb sowieso nicht. Ich konnte nur durch Zeitungaustragen und später als Haushaltshilfe etwas hinzuverdienen. Besonders schwierig wurde es, als ich ab 1953 auch noch für ein uneheliches Kind sorgen mußte.

Da die Bundesregierung unsere Freie Deutsche Jugend im Juni 1951 verboten hatte, mußte ich im November 1953 mit weiteren 27 Freunden vor dem Lüneburger Sondergericht erscheinen. Die Anklage lautete auf „Geheimbündelei und Landfriedensbruch“. Welche „schwerwiegenden“ Straftaten man beispielsweise mir zur Last legte, geht aus der nachfolgend auszugsweise wiedergegebenen umfangreichen Anklageschrift hervor:

„... b) Nach ihrer Einlassung ist die Angeschuldigte Doris Zastrow im März 1950 ,   der FDJ. beigetreten. Sie will immer nur einfaches Mitglied gewesen sein ... Die Angeschuldigte Doris Zastrow hat weiter behauptet: sie habe mit dem Verbot der FDJ, dieser Organisation nicht mehr angehört; unmittelbar nach dem Verbot habe sie ihr Mitgliedsbuch abgeben müssen; sie könne allerdings nicht sagen, wem sie das Buch übergeben habe. ... Sie hat zugeben müssen, dass sie noch bis Ende 1951 das illegal erscheinende Mitteilungsblatt „Das blaue Band“ erhalten hat.

c) Die vorstehende Einlassung der Angeschuldigten Doris Zastrow über die Zugehörigkeit zur FDJ. vor dem Verbot wird ergänzt durch die von ihrer Hand stammenden Eintragungen in einem bei ihr aufgefundenen Oktavheft. In diesem Oktavheft befindet sich ein kurz gefaßter Lebenslauf der Angeschuldigten. Danach ist sie bereits im Mai 1949 den „Jungen Pionieren“ beigetreten ... Entgegen ihren Behauptungen, daß sie keine Funktion ausgeübt habe, sagt die Angeschuldigte Doris Zastrow selbst in ihrem Lebenslauf, dass sie ... als Kassiererin gewählt worden sei.

d) Die etwas unklaren Darstellungen, die die Angeschuldigte Doris Zastrow über ihr Verhältnis zur FDJ. in der Zeit nach dem Verbot gegeben hat, wird zunächst etwas aufgehellt durch die von ihr zugegebene Tatsache, dass sie das „Blaue Band“, das illegale Mitteilungsblatt des Landesverbandes Niedersachsen der FDJ. noch bis Ende 1951 erhalten hat. ... Weiter hat der Angeschuldigte R.N. sie unter den Mitgliedern der Untergruppe „Neues Leben“ aufgeführt... Diese Angaben ... werden gestützt durch den bei der Angeschuldigten Doris Zastrow aufgefundenen „Spendenblock für die Verteidigung junger Patrioten“. Dieser Block trägt oben in der linken Ecke die Buchstaben „D. Z.“ ...Schliesslich ist bei der Angeschuldigten Doris Zastrow noch ein Zettel aufgefunden worden, der folgenden Vermerk trägt: ‚Am 9.1.53 2 Karten = -.20 DM ; am 10.1.53 2 Karten = -.20 DM . Bei diesen „Karten“ handelt es sich um den Verkauf von Postkarten mit dem Bild des „Nationalhelden“ Philipp Müller1, die den FDJ-Angehörigen in erheblichem Umfang zum Verkauf ausgehändigt worden sind ...“ 

Als wir nach sechs Wochen die Urteile erhielten, lauteten sie für mehrere von uns auf Haftstrafen. Ich wurde zwar freigesprochen, allerdings nach § 51 Absatz 2. Das bedeutete: „Zeitweilig geistlich und sittlich nicht auf der Höhe“. Weil ich mit 17 Jahren schon ein Kind hatte, wurde ich sozusagen für verrückt erklärt.

Im Jahre 1956 bat ich die staatlichen Organe der DDR um Asyl und übersiedelte mit meinem inzwischen dreijährigen Sohn dorthin. Besonders anfangs war das Leben danach alles andere als leicht, und ich vergoß noch manche Träne, obwohl ich bald im VEB (K) Kartoffelstärkefarbik Neuruppin Arbeit fand und für meinen Sohn sogar einen Kindergartenplatz erhielt. Wir wohnten in einem kalten Hotelzimmer, und wenn ich zur Nachtschicht mußte, blieb mein Junge allein. So zog ich nach wenigen Wochen weiter nach Potsdam, wo zwei meiner Brüder im Arbeiterwohnheim des VEB (K) Stadtbau untergebracht waren. Mit Hilfe der dortigen FDJ- und Parteileitung erhielt ich vorübergehend Obdach in einem Büroraum und fand Arbeit als Reinigungskraft im Schlachthof. Zunächst half der VEB Stadtbau mit dem Notwendigsten aus und unterstützte mich später auch bei der Wohnraumbeschaffung. Nachdem ich eine abgeschlossene Einraumwohnung erhalten hatte, gewährte mir die Staatsbank der DDR für die Einrichtung einen zinslosen Kredit in Höhe von 500.- Mark. Das reichte wenigstens für ein paar Gebrauchtmöbel. Als Produktionsarbeiterin verdiente ich bald mehr, aber Kummer und Sorgen blieben trotzdem nicht aus, besonders wenn das Kind krank war. Allerdings gab es hilfreiche Kolleginnen und Kollegen, die im Notfall stets zur Stelle waren.

So bekam ich mein Leben allmählich in den Griff. Nach der Geburt meines zweiten Sohnes war ich zunächst als Reinigungskraft bei der Konsumgenossenschaft Potsdam Stadt tätig und wechselte später als Facharbeiterin in den Spezialitätenbetrieb. Was in der BRD nicht möglich gewesen war, wurde für mich in der DDR Wirklichkeit: Ich konnte einer geregelten Arbeit nachgehen und mein Wissen erweitern, so daß ich bald als Verkäuferin und Objektleiterin einsetzbar war.

Denn wir waren nicht faul, wie es nun von Besserwissern behauptet wird. Wenn ich heute aus dem Fenster schaue, dann denke ich: „Da, am Platz der Einheit oder dort, am Kanal, hast du auch beim Wegräumen der Trümmer geholfen.“

Gewiß war nicht alles Gold, was glänzt, aber mit Geduld und Ausdauer konnte man doch etwas erreichen. Manchmal denke ich daran, wie ich als Vertrauens„mann“ der Gewerkschaft so manche Schlacht für bessere Arbeitsbedingungen schlagen mußte. Denn da waren jedesmal harte Debatten mit der Betriebsleitung nötig.

Meine beiden Söhne entwickelten sich gut. Beide haben einen ordentlichen Schulabschluß und eine gute Berufsausbildung. Keiner von ihnen mußte nach der Lehre Angst um seinen Arbeitsplatz haben. Und selbstverständlich wurden sie auch nicht - wie gegenwärtig gern behauptet wird - in Kindereinrichtungen und Schulen zum Fremdenhaß erzogen. Ganz im Gegenteil. Niemand hat sie gezwungen, in die FDJ oder die SED einzutreten - etwa, weil ich Parteimitglied war. Wir hatten dadurch auch keine Vergünstigungen, sondern für uns galt dasselbe wie für andere Bürger.

Als am 13. August 1961 die Grenze „dichtgemacht“ wurde, war das für uns nicht einfach - immerhin lebte meine restliche Familie in der BRD. Besonders schmerzten uns die geltenden Reisebeschränkungen nach dem Tod meiner Mutter im Jahre 1969. Wir empfanden es als Hohn, daß wir mit der Reise an ihr Grab bis zur Erreichung des Rentenalters warten sollten.

Als in den Jahren 1974/1975 die Häuser der Brandenburger Straße rekonstruiert wurden und man vierzehn Mieter ohne Strom und Wasser im Dreck sitzen ließ, legte ich mich mit den Potsdamer Behörden an. Wir konnten unser Haus ja nicht einmal auf sicherem Wege verlassen. Ich fuhr nach Berlin zum Staatsrat und zum ZK der SED, kam stets mit einem Sieg zurück und erlebte sogar, daß sich jedesmal etwas zum Besseren änderte - nur eben leider nicht schnell genug. Doch als mir die Stadtverwaltung eine Neubauwohnung anbot, um mich zufriedenzustellen, lehnte ich ab. Denn das wäre gegenüber den anderen Mietern ungerecht gewesen. Ich wollte nicht anders als meine Nachbarn behandelt werden. Sie hatten immer Angst, daß ich mich in Schwierigkeiten bringen könnte. Aber ich hielt mich nur an die gesetzlichen Bestimmungen und erwartete in der DDR eine größere Rechtssicherheit und Meinungsfreiheit, als ich sie in der BRD erfahren hatte.

Meine Übersiedlung in die DDR habe ich nicht bereut. Wir hatten zwar niedrige Löhne, aber der Arbeits- und Gesundheitsschutz wurde gewährleistet und unser Lebensstandard war insgesamt nicht schlecht. Ich bekam zweimal eine Erholungskur, ohne daß ich davon einen finanziellen Ausfall hatte. Die Kinder fuhren für wenig Geld ins Ferienlager und kamen gut erholt und braungebrannt wieder nach Hause. Das kollektive Leben war hervorragend, wenn es auch hier und da Auseinandersetzungen gab. Doch die meisten Probleme wurden in kameradschaftlichen Aussprachen zufriedenstellend geklärt. 

Doris Zastrow


1 Anmerkung der Redaktion: Philipp Müller aus München-Neuaubing - einer von 30.000 Teilnehmern an einer „Friedenskarawane“ der westdeutschen Jugend gegen den geplanten Generalvertrag. Am 11. Mai 1952 wurde sie in Essen von der Polizei gewaltsam aufgelöst und der 21jährige Philipp Müller dabei erschossen.


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