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Manchmal las ich bis Mitternacht

 Im April 1945 lebte ich in Wurzen bei Leipzig, meiner Heimatstadt. Regelmäßigen Schulunterricht hatten wir keinen mehr und auch die Hitlerjugend (HJ) ließ nichts von sich hören. Alles ging drunter und drüber. Mein Vater, in Friedenszeiten Dreher, mußte noch für „Führer, Volk und Vaterland“ um den von Adolf Hitler verhießenen „Endsieg“ kämpfen. Schon lange hatten wir - Mutter, Großvater, meine beiden Schwestern und ich - nichts mehr von ihm gehört und machten uns große Sorgen. Und jeden Tag sahen wir das gleiche Elend: Endlose Flüchtlingszüge aus dem Osten bevölkerten die Straßen, dazwischen Kolonnen ausgemergelter, in Lumpen gehüllter russischer Kriegsgefangener. Nun erhielten auch wir Vierzehnjährigen einen Eindruck davon, was Krieg wirklich bedeutete. Denn mit Ausnahme einiger Bombentreffer auf dem Friedhof war unsere Stadt bisher von ihm verschont geblieben.

Meine drei Schulfreunde und ich verbrachten den ganzen Tag auf der Straße. So sahen wir auch, wie sich der Stadtkommandant mit vielen Koffern per PKW aus dem Staub machte und unsere Stadt „führungslos“ zurückließ. Auch diejenigen, die bisher das Parteiabzeichen mit dem Hakenkreuz getragen hatten, ließen es nun rasch verschwinden und mischten sich unters „leidgeprüfte Volk“.

In Wurzen rückten zunächst die Amerikaner und danach die siegreiche Rote Armee ein. Meine erste Begegnung werde ich nie vergessen: Auf dem Fahrrad kam mir ein sowjetischer Offizier entgegen und sagte in gebrochenem Deutsch, daß gleich eine Hauskontrolle nach versteckten Waffen und Nazis stattfinde. Kurz danach klopften drei Soldaten und ein Offizier mit Gewehrkolben an die Haustür, standen schon in der Wohnung, schauten in die Schränke, hinter jeden Vorhang - und nach zehn Minuten war alles vorbei.

Mir verschaffte dieses „erstaunliche“ Erlebnis den ersten Anlaß zum Nachdenken. Immerhin hatte ich wie alle Altersgefährten lange Jahre nationalsozialistischer Hetzpropaganda „genossen“ und als ehemaliger Hitlerjunge voller Überzeugung mitgebrüllt, daß uns eines Tages die ganze Welt gehören würde. Noch kurz vor Kriegsende war ein ungemein beeindruckendes Plakat erschienen: auf der linken Seite Mutter und Kind vor dem Hintergrund einer aufgehenden Sonne mit Hakenkreuz - rechts ein unrasiertes Gesicht mit Bolschewikenmütze und einem bluttriefenden Messer im Mund. Das alles unter der Überschrift: „Sieg oder Bolschewismus“. Und noch heute höre ich meinen ehemaligen Geschichtslehrer, Mitglied der NSDAP und stellvertretender Direktor der Dietrich-Eckardt-Schule Wurzen, sagen, daß wir alles, aber auch alles für den Endsieg tun müßten. Denn wenn die Russen nach Deutschland kämen, werde das keiner von uns überleben.

Ja, nun waren diese „Bolschewiken“ also bei uns und keiner wußte, wie lange sie bleiben und was sie tun würden. Erst mal hatten meine Freunde und ich zumindest weiter „schulfrei“ und waren wieder ständig unterwegs, um nichts Interessantes zu verpassen. So kam dann eines Tages mein nächstes nachhaltiges Erlebnis in Gestalt eines mit Sowjetsoldaten vollgeladenen LKW auf mich zugerollt. Er hielt genau vor uns und ein Offizier „fragte“ gestenreich nach der nächsten Tankstelle. Es gab in ganz Wurzen nur noch eine unzerstörte, die an der Dresdner Straße, und wir konnten ihm das wohl auch hinreichend erklären. Aber mich fesselte vor allem der Anblick des LKW. An ihm waren zwei große Männerportraits angebracht, die von roten Fähnchen und Feldblumen umrahmt wurden. Einer der beiden trug Schnurr- und Spitzbart und war in Zivilkleidung dargestellt, der andere mit Schnauzbart und Uniform. Auf meine Frage, wer denn diese beiden Männer seien, antwortete ein Soldat kurz und knapp: „Lenin und Stalin.“ Diese Namen kannte ich, denn unser bereits erwähnter Geschichtslehrer hatte deren Träger in Übereinstimmung mit dem „Völkischen Beobachter“ als die blutrünstigsten Tiere der Weltgeschichte bezeichnet. Danach war mein Interesse für diese beiden Persönlichkeiten geweckt, und ich begann mich mit ihrem Leben zu beschäftigen. Später sammelte ich systematisch ihre Werke sowie anderes Material und tue dies bis zum heutigen Tag, vor allem in Hinblick auf die Person Stalins. Denn trotz aller Ungeheuerlichkeiten, die ihm nun vorgeworfen werden, bleibt sein historisches Verdienst um die Zerschlagung des deutschen Faschismus unstrittig, und auch das deutsche Volk hat ihm vieles zu danken. Er war es, der die siegreichen sowjetischen Soldaten beim Überschreiten der deutschen Grenze davor warnte, für die in der Sowjetunion begangenen furchtbaren Verbrechen der Hitlerwehrmacht an der deutschen Bevölkerung Rache zu nehmen: „Rache nehmen ist ein schlechter Ratgeber in der Geschichte.“ Solche wie mein Geschichtslehrer wußten um diese Verbrechen, hatten sie mitzuverantworten und ihre Angst vor den „Russen“ war verständlich. Mein Lehrer endete deshalb durch Selbstmord. Aber Stalin hatte bekanntlich bereits im Jahre 1942 verkündet: „... Daher wäre es lächerlich, die Hitlerclique mit dem deutschen Volke, mit dem deutschen Staat gleichzusetzen. Die Erfahrungen der Geschichte besagen, daß die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt.“1 Und in seiner Ansprache aus Anlaß des Sieges über Hitlerdeutschland am 9. Mai 1945 betonte er: „Deutschland ist aufs Haupt geschlagen. Die deutschen Truppen haben kapituliert. Die Sowjetunion feiert den Sieg, wenn sie sich auch nicht anschickt, Deutschland zu zerstückeln oder zu vernichten.“ Diese Aussagen Stalins waren und blieben der Ausgangspunkt der sowjetischen Deutschlandpolitik sowie der Beziehungen zur deutschen Zivilbevölkerung nach 1945.

Die folgenden Monate und Jahre wurden für mich und viele meiner Altersgefährten zu einer Zeit intensiven Nach- und Umdenkens. Wir mußten mit uns „ins reine“ kommen, und unsere erste unumstößliche Erkenntnis war, daß sich das zurückliegende Geschehen niemals wiederholen durfte. Nie wieder Faschismus, und nie wieder durfte von deutschem Boden ein Krieg ausgehen! Das war auch mir das Wichtigste, und jede meiner weiteren Lebensentscheidungen ergab sich daraus - auch, daß ich nicht wie andere nach dem Westen „abhaute“, sondern in der sowjetischen Besatzungszone und später in der Deutschen Demokratischen Republik blieb.

Es war im März 1948, als ich mir das Buch von Maxim Gorki „Die Mutter“ und Nikolai Ostrowskis „Wie der Stahl gehärtet wurde“ kaufte. Danach kamen die Lenin- und Stalin-Biographien sowie die legendären Ausgaben vom „Manifest der Kommunistischen Partei“ und „Was tun?“ von Lenin. Auch auf weitere Neuerscheinungen stürzte ich mich mit Feuereifer und las manchmal bis Mitternacht. Wenn mich die Mutter nicht beizeiten geweckt hätte, wäre ich öfters zu spät zur Arbeit gekommen. Inzwischen lernte ich in einem Betrieb des Malerhandwerks, und mein Lehrmeister legte größten Wert auf Pünktlichkeit. Selbstverständlich begriff ich wie mancher andere dies oder jenes nicht gleich und biß mich immer wieder an einzelnen Sätzen fest, vor allem bei Marx und Lenin. Aber dafür hatten wir ja zweimal wöchentlich unsere „FDJ-Schulungsabende“. Dazu luden wir oft ältere Genossen ein, die uns schwierige Probleme oder Formulierungen mit Geduld und Einfühlungsvermögen erläuterten. Seit 1948 war ich auch aktives Mitglied der „Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion“2 und erinnere mich aus den folgenden Jahrzehnten mancher unvergeßlichen Begegnung mit sowjetischen Menschen. Ich bin glücklich, daß einige dieser freundschaftlichen Beziehungen noch heute Bestand haben.

Im Oktober 1949 wurde mir die Ehre zuteil, am historischen Fackelzug der Freien Deutschen Jugend zur Gründung der Deutschen Demokratischen Republik teilzunehmen. Es war ein wunderschöner Abend voller Begeisterung, begleitet von Marschmusik und vielen, vielen Scheinwerfern, die den Abend zum Tage machten. Wir Delegierten der Ortsgruppe Wurzen gehörten zum Verband Leipzig/Sachsen und gingen in Achterreihen, Arm in Arm, hinter dem legendären Transparent „Es lebe die Deutsche Demokratische Republik!“ Keinem merkte man die Strapazen der langen LKW-Fahrt an, und die Begeisterungsstürme wollten kein Ende nehmen.

 Quelle: Privatarchiv U. Münch

Wilhelm Pieck, erster Staatspräsident der DDR 

Unvergeßlich unser Vorbeimarsch an der Ehrentribüne, auf der die Mitglieder der künftigen Regierung mit unserem Ministerpräsidenten Otto Grotewohl standen. Und in der Mitte unser erster, hochverehrter Präsident Wilhelm Pieck, bereits 73 Jahre alt, aber unermüdlich zu uns herabwinkend und rufend: „Nun beginnt eine neue Zeit für uns“, „Es lebe die Freie Deutsche Jugend“, „Ihr werdet ein neues, demokratisches Deutschland errichten“, „Viel Glück euch allen!“

Nach der Demonstration dachte keiner daran, sich zur Ruhe zu legen. Wir diskutierten bis in die frühen Morgenstunden über dieses Ereignis und beschlossen danach, freiwillig am Aufbau Berlins teilzunehmen. So kehrte ich bald in die Hauptstadt der DDR zurück und gehörte für ein Jahr zur FDJ-Aufbaubrigade „Ernst Thälmann“, die mit anderen das „Walter-Ulbricht-Stadion“3 erbaute.

 Horst Lohse


1 Befehl Nr. 55 vom 23.2.1942 zum 24. Jahrestag der Roten Armee

2 1949 umbenannt in „Gesellschaft für Deutsch-sowjetische Freundschaft"

3 später umbenannt in „Stadion der Weltjugend“ - nach 1990 (bisher immer noch ersatzlos) abgerissen


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