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Vom Jenseits

 Wer Karlsbad/Karlovy Vary sagt, meint Prominenz, die dort an Heilquellen Leberschwellungen kuriert. Wer Dvory/Meierhöfen sagt, stellt sich kaum etwas darunter vor.

In Meierhöfen konvertierte das Karlsbader Vorstadtproletariat seine Arbeitskraft in Porzellanfabriken, Glashütten, Ziegeleien zu dem wöchentlichen Inhalt schmaler Lohntüten. Die Frauen machten in den Karlsbader Kurhotels Betten, schleppten schmutzige Wäsche nach Meierhöfen, wuschen, bleichten, plätteten und trugen die frische Wäsche wieder ins Kurbad hinein.

In Meierhöfen war auch der große Karlsbader Aschenhaufen. Menschen scharrten daraus Verwertbares, zum Beispiel Rasierklingen, schärften diese nach, versuchten solcherart Aufgewertetes wieder in Umlauf zu bringen.

Meierhöfen zog sich eingeengt längs der Ohra/Eger und der Bahn von Cheb/Eger nach Karlsbad hin. Dieser schmale Industriestreifen wurde zudem längelang von der Fernstraße Eger - Karlsbad durchschnitten.

Dem Volksmunde nach bestand Meierhöfen aus den Ortsteilen „Zur Wassersuppe“ und „Auf der Not“. Porzellan- und Glaswarenhändler hatten dort Mietskasernen erbaut. Weiter westlich lag eine Pferderennbahn. Diese gehörte zum Kurbetrieb, der sich Karlsbad nannte.

Großmutter, zwei kränkelnde Tanten, ein intervallisch arbeitsloser Onkel, Vater, Mutter und ich als einziger Sproß bewohnten „Auf der Wassersuppe“ in einem Keller, der sich Souterrain nannte, zwei Gelasse. In dem vorderen bügelte Großmutter tagein, tagaus steife Hemdkragen. Dort hockten, soweit ich zurückdenken kann, sogenannte Hutzenleute herum und politisierten. Das hintere Gelaß diente als gemeinsame Schlafstube.

Von meinem Lager aus konnte ich durch vergitterte Oberlichte die Beine vorübergehender Passanten sehen. Dieses Hasten, Trotten, Schlurfen verfestigte in mir den Eindruck von Welt als fremdbestimmtes Treiben.

Wenn sich die Wohnlöcher auf der „Wassersuppe“ und „Zur Not“ einmal gleichzeitig leerten, entstand vorn auf der Straße zwangsläufig eine Demonstration, als deren einzige Farbtupfer mir rote Fahnen erinnerlich sind. Hinter den Häusern, auf dem Bahndamm, donnerten Züge.

Dieser hochaufgeschüttete Damm war zu überqueren, indem zuvor mit dem Ohr am Schienenstrang der nächste Zug geortet wurde. Der Zug bog unvermittelt um einen Felsen. Der Damm konnte aber auch durch einen schmalen Tunnel, in dem ein Bach plätscherte, unterwandert werden.

Jenseits des Dammes lag unbebaute, je nach Jahreszeit klirrende oder flirrende Weite. Dort gab es keine Schornsteine, keine Autos, kein hastendes, hustendes, Aulen spuckendes Menschengeschiebe. Besagter Felsen mit Kletterwand und windiger Aussichtsplattform bot Fernsicht über Wiesenweiten bis zum Kamm des Erzgebirges.

Auf einer dieser Märchenwiesen gab es eine „Kuhwampe“, Sumpfbeule, vegetationslos versiegelt unter wasserdichter Lettenschicht. Diese war die Attraktion meiner Kindheit. Jahrzehnte später suchte ich sie wieder auf. Die „Wampe“ war noch da, spannkräftig wie ein Trampolin. Ich hüpfte darauf herum und freute mich wie ehedem.

Diesseits des Dammes war Enge, Frust, Verzweiflung, Geschrei: „Einen Mann hat’s zerrissen!“ Man ahnte Bescheid, strampelte hinauf zu den Geleisen, schauderte vor Leichenteilen, erwog gewiß auch insgeheim Vor- und Nachteile solcher Art Problemlösung.

Diesseits war zudem Gebrüll: „Hoch!“; „Nieder!“; „Rotfront verrecke!“; „Heim ins REICH!“ Es herrschte vernehmlich ein massenhafter Klärungsbedarf. Marschkolonnen in schloddrigem Arbeiterzivil rückten immer öfter ostwärts, aber nie bis ins Kurviertel. Aufgelöst in diskutierende Gruppen kehrte man wieder zurück. Geklärt wurde nicht einmal die Frage, ob drei schräggestellte gelbe Pfeile oder Hammer und Sichel als Symbole auf den roten Fahnen voranzutragen wären.

Kolonnen in mausgrauen Hemden und mit weißen Wadenstrümpfen stampften im Gleichschritt westwärts. Wo die sich formierten blieb unklar, jedenfalls nicht in Meierhöfen. Sie trugen weiße Fahnen mit schwarzen Buchstaben: S-H-F (Sudetendeutsche-Heimat-Front). Ihr Ziel war die Rennbahn, wo Platz zum Aufmarschieren war. Dort nahmen sie prahlerische Reden in sich auf. Die Arbeiterdemonstrationen wurden stiller, kürzer; die Grauhemdkolonnen lauter, länger.

Mein Ziel war jenseits. Dort, in Lehmgruben, von den Ziegeleien ausgebaggert, entdeckte ich Frühling in den ersten Huflattichblüten und grübelte, warum die gelb und niemals blau waren. Zwischen Dies- und Jenseits hobelte die Bahn aus Eisen.

Laßt den Jungen laufen, sagte mein Vater. Was hat er hier zu verlieren.

Einmal gelangte eine AIZ (Arbeiter Illustrierte Zeitung) ins Souterrain. Bilder zeigten aufgereihte offene Särge, deren Inhalte dem „zerrissenen Mann“ glichen. Das Wort GUERNICA kam nach Meierhöfen. Ich hatte keine Schwierigkeit, Bild und Wort dem Diesseits zuzuordnen. Sarginhalte dieser Art und Menge schrieb ich dem drängenden großen Klärungsbedarf zu.

Ich lernte mäßig. In der Schule mußten wir das Lied: „Ein Jäger aus Kurpfalz“ einstudieren. Ich hatte weder Pferd noch Mantelsack noch einen Burschen, der mir diesen Sack aufs Pferd schnallen sollte. Aus der Schule heim, schob ich meinen Ranzen unters Bett und planschte durch die Unterführung ins Jenseits. Dort gab es ungeheuer große schwarze Hummeln.

Den Einfall des REICHs in das Sudetenland beobachtete ich vom Felsen aus. Luftgeschwader vom Typ HE 111 dröhnten heran. Ich sah ihre Schatten über den Bahndamm huschen. Die mausgrauen S-H-F-Scharen wurden über Nacht kackbraun, ihre weißen Wadenstrümpfe verschwanden in Lederstiefeln. Sie marschierten in diverse Kasernen und wurden dort feldgrau. Auch mein intervallisch arbeitsloser Onkel mußte zum Militär. Er verschwand ostwärts. Dort war der Klärungsbedarf am dringendsten.

Auch mein Vater verschwand, tauchte aber zum Kriegsende wieder auf, in Zebrakluft, mit einem roten Winkel auf der Brust. Die Rote Armee, massiv in den Klärungsprozeß eingeschaltet, hatte ihn uns zurückgegeben.

Heimgekehrt, ordnete sich mein Vater umstandslos, trotz zerrütteter Gesundheit, wieder in das Diesseits ein, ging arbeiten in die alte Porzellanfabrik, die ein tschechoslowakischer Staatsbetrieb geworden war.

Wieder formierten sich Kolonnen, diesmal auf Schienen, vom Alliierten Kontrollrat verordnet. Die Bahnstation Meierhöfen wurde zur Verladerampe. Die längeren Züge zielten gen Westen. Aus den offenen Schiebetüren der Güterwagen baumelten Waden in weißen Strümpfen. Aus bleichen Gesichtern maulte es: „Wir werden heimatvertrieben.“ - „Bursch sattle mir mein Pferd ...“ sang es in mir. Mit der Lokomotive gen Osten standen die kürzeren Züge. Alle Wagen waren mit Transparenten drapiert, des zusammengefaßten Inhalts: „Es lebe alles, was rot ist!“. Das Proletariat der Karlsbader Vorstädte verließ den Raum.

Bevor der Zug anruckte, band meine Mutter unserer Katze ein in Blauweißrot, den tschechoslowakischen Staatsfarben, gehäkeltes Halsband um und ließ sie davonspringen. So werden sich die Tschechen ihrer annehmen, hoffte sie. Die Katze sprang über die Gleise ins Jenseits.

Raum genug gab es hier in der Ostzone. Mein Vater, der Porzellanschleifer, bekam vier Hektar Bodenreformland. Wo beim Ochsen vorn und hinten war, das wußte er zu unterscheiden. Bezüglich aller agrotechnischen Termine blieb er auf die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe angewiesen. Er starb bald in den Sielen seines neuen abenteuerlichen Diesseits.

Wurden die weltweiten Prozesse geklärt? Um dieses zu bewerkstelligen, waren im fernen Osten immerhin zwei Bomben von höchster wissenschaftlicher Konstruktion auf Menschen abgeworfen worden. Särge mit Inhalten gab es danach nicht mehr vorzuweisen. Von den Betroffenen blieben nur Schatten.

Westlich der Elbe wurde ein angeblich neuer deutscher Staat gegründet. In einem dicken Buch, dessen Lektüre mir mein Vater empfohlen hatte, entdeckte ich die Kurzformel zu dem Klärungsprozeß: WER - WEN. Die Zerschattungsbombe in den Händen bestimmter Mächte machte diese Formel ungleich. Zumindest ein Gleichstand mußte wieder hergestellt werden. Das Material zur Bombe hieß Uran. Solches Erz kam im Gebirge nunmehr diesseits des Bahndammes von Meierhöfen vor.

Ich, inzwischen Manns genug, fuhr dort ins Bergwerk ein. Glück auf! Glück auf! Im dunklen Stollen wog ich das unsichtbare strahlende Zeug auf der Hand. Uranpechblende. Die Russen, die meinen Vater befreit hatten, wenn auch nur für ein kurzes Restleben, mußten dieses Erz bekommen, des Gleichstandes wegen.

Irgendwo außerhalb der Schächte wurde im deutschen Osten ebenfalls ein Staat gegründet, ein neuer, die Deutsche Demokratische Republik. Ich arbeitete jenseits derselben hinter Stacheldraht, von sowjetischen Posten bewacht. Die ständige Erhöhung der Fördernormen akzeptierte ich. Die Zeit drängte. Ich stellte mich den Normierern zur Verfügung, was bei den Kumpeln verpönt war, und fuhr Sonderschichten. Mit der Stoppuhr maßen die Normierer meine Arbeitshandlungen. Am Ende übergab ich dem Erzsteiger vier Kisten außerhalb der Normalschicht geschlagenen Erzes der Güteklasse Talon I. „Die schenke ich euch“.

Solche Extraarbeit war mir wie ein Gang durch den leider immer nur gelb und niemals blau blühenden Huflattichfrühling jenseits des Bahndammes von Meierhöfen.

Der Steiger aber sagte: „Der Sozialismus will nichts geschenkt.“ Demnach lag ich jenseits des Sozialismus.

Als der Erzbergbau unter Tage auslief, die AG-„Wismut“ in günstigere Tagebaureviere umzog, delegierte mich die Schachtleitung zum Studium an die Bergakademie Freiberg. Ich lernte auch dort nur mäßig. Den Zwängen der Mathematik wollte mein Geist nicht gehorchen. Ich schwärmte vom Jenseits, schrieb Geschichten, verfaßte Romane.

Verlage verkauften meine Bücher. Ich mußte zur Kenntnis nehmen, daß es einen Buchmarkt gab. Markt und Ideal, wie ging das zusammen? Vom Verkauf meines Jenseits leben, was für ein Sozialismus sollte das werden?

Als das Guthaben auf meinen Girokonto sich dem Hunderttausend-Mark-Pegel näherte, schöpfte ich den Verdacht, Textlieferant für ein bürgerliches Verlagswesen zu sein. Schreiben fing an, sich zu rechnen. Damit verlor es für mich seinen Sinn. Wie frei war meine Fantasie von der Warenförmigkeit?

Ich gab meinen Status als freischaffender Schriftsteller auf und ließ mich als schreibender Angestellter im Volkseigenen Tierzuchtgut „Spreewald“ zu Radensdorf nieder. Alle meine Einkünfte aus der Buchproduktion ließ ich von den Verlagen an das VEG abführen. Dafür bezog ich ein Tarifgehalt als Angestellter. Den Ruch des kleinen Warenproduzenten war ich los. Als ich dergleichen anderen Kollegen der schreibenden Zunft empfahl, wurde mir bedeutet: Du stehst im Jenseits.

Die Genesis des Jenseits zeitigte auch andere, komische Topografien. Bei Nachtmärschen in der Kampfgruppen-Hundertschaft zogen die langen Kerls an der Spitze. Sie gaben das Schrittmaß an. Ich trabte als Kleinster unverdrossen hinterher. Am linken Arm trug ich stolz die Katzenaugenbinde. Kein Auto sollte von hinten in die Kolonne rasen.

Vertrackte Jenseitstopografie entdeckte ich in der Literatur. Alexander BLOCK läßt in seinem Poem „Die Zwölf“ zwölf bewaffnete Apostel der Revolution durch Nacht und Eis marschieren. In der Übersetzung aus dem Russischen von A. E. Thoss1 heißt es: 

... Und sie schreiten majestätisch

Hinten: Hund und Hungerleid

aber vorn: mit blutger Fahne

gegen Blick und Blei gefeit

voller Sanftheit jeder Schritt

schreitet Jesus Christus mit

 Der Philosoph Ernst BLOCH wußte in „Prinzip Hoffnung“2 dieses Voranschreiten eines bleichen Christus vor den Rotgardisten zu würdigen. Den unabweisbaren Hungerhund übersah er. Dichter BLOCK, der Bildhaftigkeit verpflichtet, kündet im Poem: 

... Dort ein Hund, das Fell voll Zecken

so steht der Bürger, hundemüde

Mit schlaffem Schwanz, ein räudiger Rüde

steht hinter ihm die alte Welt 

Nur einer von den Rotarmisten will das Phantom verscheuchen: 

... Scher dich fort, du Hungerräude

Weg vom Bajonett, es sticht

Alte Welt, Hund ohne Freude

ab mit dir, ich spaße nicht

Hungerwolf fletscht seine Zähne

kneift den Schwanz ein

geht nicht fort...

 

 Wer hätte kein Mitleid mit solcher Kreatur. Aber der Poet BLOCK eröffnet damit erstmalig einen Warnblick auf die Inkonsequenz. Der unvertriebene Bürgerhund steht heute als fettgefressene Töle in Gestalt einer Lumpenbourgeoisie breitspurig über dem russischen Volk. Die Apostel der Revolution sind abhanden gekommen. Christus ist ins Jenseits entschwunden.

Als in Berlin zweihunderttausend oder mehr Intellektuelle gegen etwas demonstrierten, aber nicht ahnten, wofür, da war der Sozialismus auch in der DDR zur „Kuhwampe“ verkommen, außen versiegelt mit einer Lettenschicht, innen gärender Sumpf, in dem der Bürgerwolf knurrte.

Zu dieser Zeit stand ich im VEG auf dem Güllerost. Unsere Zuchtrinder wollten trotz des Knurrens und Murrens umher gepflegt, gefüttert, umsorgt, getätschelt werden. Mein Sozialismus mit menschlichem Antlitz war in jenen Tagen den Tieren zugewendet, richtigen Tieren, nicht bildhaft wölfischen.

Als jegliches Angesicht des realen Sozialismus ausgetilgt war, als Funktionäre einer ostdeutschen Nachwendepartei verkündeten, Sozialismus sei nunmehr erst wieder möglich geworden (möglich, nicht nötig!), da starrte ich, zugegeben aus meinem Jenseits, auf den grinsenden Wolf, der Bananen wollte statt Brot.

Als selbige Überleitungsfunktionäre jubelten, sie seien endlich im gesamtdeutschen Rechtsstaat angekommen, da sah ich in diesem den offenen und nicht den wenigstens lettenversiegelten Sumpf - und stand jenseits, in der verleumdeten DDR.

Alexander BLOCKs ... Bürgerhund, vor Hunger schwach ... schleicht nicht mehr hinterher, er tänzelt mit steiler Rute, einen Rechenstift im Rachen, vorneweg. Seine Apologeten verkünden: Sozialismus hat dort seine Grenzen, wo die Unternehmer das Interesse an der Verwertung ihres Eigentums verlieren.

Ringsum Bombenkrachen. Nichts ist geklärt. Profitgierige Aufarbeitung der mutwillig angerichteten Schäden ist angesagt. Das Diesseits ist solange gewinnsüchtig rechenhaft, wie es vom Jenseits nicht gezähmt, gezäumt, durchdrungen wird. 

Erich Köhler


1 A. Block, Verlag Volk u. Welt, 1982, S. 207-210.

2 „Prinzip Hoffnung, Bd. I, S. 597


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