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Ein langer Weg der Erkenntnis

 Hier im deutschen Osten war immer mein Zuhause. In Gößnitz, Kreis Altenburg/Th., kam ich 1926 zur Welt, hier verbrachte ich meine Kindheit und Jugend.

Wir fünf Aurich-Kinder waren nicht auf Rosen gebettet. Bedingt durch die langjährige Arbeitslosigkeit unseres Vaters während der Weltwirtschaftskrise und seinen bescheidenen Bäckerlohn, lebten wir in Armut, auch wenn wir durch reichlich Kleinvieh, Feld und Garten nicht zu hungern brauchten.

Meine beiden älteren Schwestern machten schon während ihrer Schulzeit bei fremden Leuten „Aufwartung“, mit 14 gingen sie aus dem Haus, als Dienstmädchen.

Ich selbst arbeitete mit 10, 11 Jahren als „Laufjunge“ fürs Mittag- und Abendbrot plus 1,50 RM wöchentlich, ab 12 trug ich Zeitungen aus, später, mit 16, 17 gab ich Nachhilfeunterricht für Schüler betuchter Eltern.

Auch für meine beiden jüngeren Brüder begann das Arbeitsleben bereits im Kindesalter. Garten und Feld forderten uns zu Hause einschließlich Sonntagvormittags.

Heute mag es wie ein Märchen anmuten, daß ich unter diesen Umständen die Oberschule besuchte und zu den letzten fünf gehörte, die im Januar 1944 an der Oberrealschule (Ernestinum) in Altenburg noch alle Prüfungen zum Abitur ablegten.

Und dennoch haben wir Kinder später gern an unsere Kindheit gedacht.

Meine Jugendzeit fiel in den Krieg. Als er begann, 1939, war ich 13. Als ich ihn auf Leben und Tod leibhaftig erfuhr, 1944, war ich 18. Als ich aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft heimkehrte, 1949, war ich 23.

Der Krieg hat mich in meinem Denken stark geformt. Das um so mehr, da ich schon in der Kindheit und der frühen Jugend sehr zum Grübeln neigte, ohne mich dabei von anderen abzusondern. Mich persönlich störte relativ wenig, daß es keine öffentlichen Tanzvergnügungen gab; in meiner knapp bemessenen Freizeit zogen mich anspruchsvolle sinfonische Musik und Theater in ihren Bann. Ich musizierte auch selber gern, so als Flötist, zusammen mit Musikfreunden, Klassik. Und in froher Runde griff ich zum Akkordeon und erfreute mich und andere mit beliebten Liedern und den neuesten Schlagern.

Je länger nun der Krieg dauerte, um so mehr wuchsen meine Zweifel an der Ideologie und Politik, die sich „nationalsozialistisch“ nannte, die sich allentwegen aufdrängte, in der Schule, über Radio und Zeitung, nicht zuletzt in der Hitlerjugend, die allgemein akzeptiert wurde, an die auch ich anfangs gewisse Hoffnungen knüpfte - Hoffnung auf einen Weg aus der Not und den ärmlichen Verhältnissen, die meine Kindheit prägten. Je länger der Krieg dauerte, um so verzweifelter und intensiver bohrten die Fragen nach dem Warum, um so mehr bedrückte auch mich die Sorge um meine ganz persönliche Zukunft, um so mehr beschlichen mich pazifistische Gedanken, und um so öfter erinnerte ich mich auch daran, wie mein Vater uns Kindern seine Erlebnisse von Szenen der Verbrüderung zwischen deutschen und russischen Soldaten an der Ostfront 1917/18 erzählte.

Je länger der Krieg dauerte, um so mehr verlor ich schließlich die letzten Reste meines Glaubens an ein jenseitiges göttliches Wesen, und ein gewisses weltanschauliches Suchen begann, Suchen nach den irdischen Ursachen von Krieg und Not, nach erstrebenswerten Idealen und Moralnormen.

Ich wollte Chemie studieren. Vielleicht gab der grausame Krieg sogar den ersten Anstoß, auch darüber nachzudenken, in welche gesellschaftlichen Zusammenhänge die Naturwissenschaften eingebettet sind.

Je länger der Krieg dauerte, desto mehr wühlte er mein Innerstes auf, mein ganzes Fühlen und Denken. Das massenhafte Sterben durch Menschenhand an der Front und im Hinterland, unter Soldaten und Zivilisten, bei uns und beim „Feind“ bewegte mich zunehmend.

Was da in mir vor sich ging zwischen meinem 14. und 18. Lebensjahr, war kein geradliniger Prozeß, das waren Gewissenskonflikte. Hatte ich doch einst - wenn auch als Kind - ja gesagt zu dem Nazirummel, war als Zehnjähriger mit dem ‚Jungvolk’ im Pfingstlager, war ergriffen von der Mystik beim Sonnenwendfeuer, hatte andächtig zugehört und mitgejubelt, wenn im Radio der Führer sprach. Und nun wuchsen von Tag zu Tag die Zweifel, die bittere Enttäuschung, der Zorn, zunächst über dies und jenes, dann im allgemeinen, nicht als plötzliche Erleuchtung; bisweilen brachen auch die alten, verfehlten Hoffnungen wieder durch. Das Schlimmste war wohl, darüber mit keinem offen reden zu können, ohne den Partner des Vertrauens in akute Gefahr für Leib und Leben zu bringen. Dies zu spüren war bedrückend. Selbst gegenüber dem eigenen Vater, den ich sehr verehrte, wurde ich das Gefühl nicht los, daß er sich mit Politischen Äußerungen sehr zurückhielt.

Teils ahnte ich, teils wußte ich bereits, was mir blühte, wenn ich mein Herz hätte ausschütten wollen. Immerhin waren ja in mich schon bestimmte Erwartungen gesetzt, wenn ich als Kind einer kinderreichen Familie arischer Herkunft, dessen Eltern früher als Linke galten, die Oberschule besuchen durfte, schulgeldfrei.

Fehlte es mir an Mut, aufzubegehren gegen dieses Regime? Ich glaube eher: Dazu war ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht reif. Hin und her gerissen vom Konflikt des Gewissens, wurden die Beteuerungen meiner Treue zu Führer und Vaterland zunehmend verzweifelter, bewußt unwahr, unaufrichtig in der vagen Hoffnung, daß dieser ganze Schlamassel bald zu Ende gehe. Falsch Zeugnis reden wurde zur Überlebensfrage. Das mag etwa die geistige Verfassung gewesen sein, als die schlimmsten Tage für mich erst begannen.

Die schlimmsten Tage und Stunden meines jungen Lebens kamen mit Anbruch des Jahres 1945, im Kessel von Ostpreußen. Für uns vom Jahrgang 1926 war das Höllenfeuer relativ kurz, „Glück“ der späteren Geburt; es war um so verheerender, regelrecht verheizt wurden wir Jungen, wie es sarkastisch hieß. „Kampferfolge“ lernte ich gar nicht erst kennen, auch keine Ruhepause, keine Gulaschkanone - nur tagelanges Trommelfeuer, verzweifelte Gegenwehr, verlustreiche Ausbruchversuche, Rückzug. Es gibt viele Bücher über das Leben im Kessel, inzwischen auch Filme unter Verwendung von Originalaufnahmen. Und dennoch: Der penetrante Geruch von Menschenblut und lebendem Menschenfleisch, von zerfetzten Körpern und verwesenden Leichen, ihr entsetzlicher Anblick, die Schreie der gequälten Kreatur, der in vielen Fällen niemand mehr helfen kann, wenn das Chaos herrscht, wenn der Sani auch tot ist, all das ist unbeschreibbar. Vielleicht ist es sogar besser so, und die Sinneseindrücke bei denen, die das überlebt haben, mögen allmählich verblassen, vergessen kann ich sie nie.

Mitte Januar erlebte ich den Untergang der deutschen Kriegsmaschinerie auf deutschem Boden. Da gab es kein Halten irgendeiner Linie mehr.

Mein Leben hatte ich in Gedanken so gut wie abgeschlossen. Nur die Stunde galt, ob du noch lebst, schnell stirbst oder elendiglich verendest. Da kam sie, endlich, die volle Gewißheit über den Wahnsinn des Krieges, die - teils noch erschreckende - Einsicht in das Verbrecherische des Naziregimes, auf das ich einst wie so viele, wenn auch mit wachsendem Zweifel, noch manche Hoffnung gesetzt hatte. In dessen verbrecherischem Getriebe sich immer noch viele gefielen, brüsteten und weiter mitschuldig machten.

Es muß ein Ende haben, es wird Zeit, sagte ich mir, vielleicht ergibt sich eine Chance! Da kam sie wieder, die Erinnerung an Vaters Erlebnis der Verbrüderung mit den russischen Soldaten im ersten Weltkrieg. Sind nicht die Russen auch Menschen? Und plötzlich ein Flugblatt des Nationalkomitees Freies Deutschland! Sollte denn alles Lüge sein, wie uns eingehämmert wurde?!

Und da kam meine Chance: Der Befehl zum erneuten Rückzug ab 19. Januar 1945. Wir mögen eine Gruppe von etwa 30 Mann gewesen sein, als wir mit unserem Gepäck und primitiver Landserausrüstung - Karabiner 98 und scharfer Munition, MG’s und manchem unsinnigen Kram, wie einer Kiste voller Seitengewehre u. ä. - die Landstraße entlangzogen. Vor uns ein brennendes Dorf, Granateinschläge ringsum. Auf einmal rauschte ein Troß von 8,8-Geschützen an uns vorbei. „Aufspringen“ kam der Befehl. Ein wagehalsiges Ansinnen. Unter die Räder zu kommen, war das qualvolle, aber sichere Aus. Einige traf dieses Los, anderen gelang es, sich an den stählernen Kolossen irgendwie festzukrallen. Mein Kamerad Erwin und ich zögerten, wir sprangen nicht. Vorbei war der Zug. Glück gehabt, daß uns kein Vorgesetzter erwischte und uns wegen Feigheit vorm Feind abknallte.

Wir sahen uns an. Es bedurfte nicht vieler Worte. Schluß machen mit dem Krieg, in Kriegsgefangenschaft gehen und vielleicht überleben, das sollten die nächsten Schritte sein Aber es erwies sich als gar nicht so einfach und verdammt riskant, in Gefangenschaft zu gelangen. Im offenen Kampf ‚Hände hoch!’ konnte bedeuten, von Kugeln durchsiebt zu sein, noch bevor das Gegenüber unsere Absicht wahrnimmt. So suchten wir nach der günstigen Gelegenheit und bewegten uns tagelang zwischen den Fronten, eine brisante Situation. Auf Plakaten war deutlich zu lesen: Wer sich länger als 24 Stunden von seiner Truppe entfernt, wird ohne jegliches Verfahren mit dem Tode bestraft.

Und da geschah es auch schon: Vor uns stand plötzlich ein Doppelposten von der Feldgendarmerie, ‚Kettenhunde’ nannten sie die Landser wegen ihrer metallenen Kette um Hals und Brust mit Metallschild ‚Feldgendarmerie’. Sie mißtrauten natürlich unseren Beteuerungen, daß wir erst seit ein oder anderthalb Tagen ‚versprengt’' seien, eifrig unsere Einheit suchten und infolge wundgelaufener Füße nur schwer vorankamen. Ab ging’s zum Verhör in der ehemaligen Panzerkaserne Zinthen. Auf dem Wege dorthin sahen wir die ersten gehenkten deutschen Soldaten, an Bäumen längs der Straße, wohl zur Abschreckung gedacht. Die Drohung auf den Plakaten war also bitterer Ernst. Uns befiel unbeschreibliche Angst.

Verhört wurden wir einzeln. Ein Versprecher konnte den Tod bedeuten. Wir spielten unsere Rollen, so gut es ging, Todesangst im Nacken. Beweisen konnte man uns die Desertation nicht. Das Mißtrauen aber blieb: Immerhin hatten wir ja unseren Karabiner ‚verloren’ und nur noch eine 08-Pistole bei uns. Daß uns das nicht zum Verhängnis wurde, glich einem Wunder. Wir durften zunächst auf einem nahe gelegenen Hauptverbandsplatz drei Tage lang Tote schleppen, vom ersten Obergeschoß einer Schule ins Massengrab - zerfetzte Körper, bestialischer Gestank, grauenhaft.

Schließlich neuer Befehl: Empfang eines Karabiners K 98 und ab an die HKL1. Dort empfing uns ein Leutnant mit offenen Armen, denn die Kompanie zählte nur noch 7 Mann. Von nun an dauerte für uns der Krieg nur noch wenige Tage. Der Rest unserer Kompanie und Soldaten einer anderen Einheit mögen zusammen an die 40 Mann gezählt haben, die innerhalb des großen Ostpreußenkessels nochmals abgeschnitten waren. Ein Stoßtrupp nach dem anderen wurde losgeschickt mit dem Befehl, auszubrechen. Es war kein Durchkommen, nur wenige kehrten zurück. Viele ertranken im eiskalten Wasser eines Kanals oder Mühlgrabens oder wurden im Scheinwerferlicht vom gegnerischen Kugelhagel getroffen. Am Abend des 9. Februar 1945 waren wir noch 9 Mann, die sich in einem Keller im Dörfchen Cavern zwischen Kreutzburg und Zinthen befanden und sowjetische Soldaten herbeiriefen, um sich zu ergeben. Das war der Rest, auch mein Kamerad Erwin war nicht mehr dabei. Ich war dem Inferno entkommen.

Das waren Erlebnisse, bei denen in mir maßgeblich folgende Überlegung reifte: Wenn du hier mit dem Leben davonkommen solltest, dann kann der tiefere Sinn deines weiteren Lebens nur darin bestehen, alles zu tun, um beizutragen, daß sich so etwas wie dieser wahnsinnige Krieg nie wiederholen kann. Das war keine fixe Idee. Dieser Gedankengang ließ mich nie wieder los. Ich habe ihn nur selten gesprächsweise anklingen lassen, er kam mir zu theatralisch vor. Und dennoch biß ich mich an ihm fest. Er wurde mir mehr und mehr Leitlinie, von niemandem besonders empfohlen oder gar ‚verordnet’. Er wuchs und reifte in mir - durch das Erlebte bedingt - wie ein heiliger Schwur, ein Schwur, den ich mir selber gab.

Ich hatte Glück und kam mit dem Leben davon, nicht nur an jenem 9. Februar 1945, sondern auch danach, in manch kritischer Situation, von denen hier nur die folgenden erwähnt seien:

Ich überlebte etwa fünf bis sechs Wochen Aufenthalt in einem riesigen Durchgangslager auf dem ehemaligen Gestüt Georgenburg bei Insterburg, wo die Ruhr grassierte und täglich Dutzende von Toten forderte, wo mancher auch vor Schwäche in die blutige Kloake der riesigen Freiluftlatrine abstürzte und darin verschwand, wo ich zu einer Gruppe gehörte, deren dürftige Kleidung im Entlausungsofen verbrannte und wir viele Stunden splitternackt im kalten Gemäuer eines Stalles hockten, ungewiß, ob es den sowjetischen Wachmannschaften gelang, in dem kriegszerstörten Umfeld für uns, die vom lebensbedrohlichen Pech verfolgten Nackedeis, ein paar brauchbare Klamotten aufzutreiben.

Ich überlebte auch, als mich über ein Jahr später im normalen Arbeitslager die Ruhr erwischte. Von der Aufnahme im Lazarett und den ersten Krankheitstagen weiß ich nichts mehr, weil ich mit über 40 Grad Fieber so gut wie im Koma lag. Meine Stubengefährten frotzelten nur: „Hast Du vielleicht Chancen. Zweimal nachts wollte die hübsche sowjetische Ärztin wissen, wie’s Dir geht, hat Deinen Puls gefühlt, und Du hast nicht mal reagiert.“ Sechs Wochen verbrachte ich im Lazarett, weil nach den üblichen drei Wochen die Stuhlanalyse noch nicht befriedigte und ich die ganze Diätkur noch mal durchlaufen mußte.

Ich verlebte die Kriegsgefangenschaft in Estland, der damaligen Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Nach dem Aufenthalt im Durchgangslager bei Insterburg ging der Transport bis Jövi im Ölschiefergebiet um Kohtla-Järve. Genau am 5. April 1945 kamen wir dort an. Das war mein Geburtstag, der 19., und das war zugleich der Silberhochzeitstag meiner Eltern, den sie zu Hause im Splittergraben verbrachten, drei Monate vor dem frühen Tod meines Vaters. Als wir in einer zugigen, dunklen Baracke saßen und unseren Schlag dicker Graupen mit einem Kanten Brot verzehrten - ausnahmsweise dicke Graupen, um wieder auf die Beine zu kommen - da war das für mich das schönste Geburtstagsgeschenk, wie ich damals bemerkte, das schönste Geschenk in der Hoffnung nämlich, daß sich nun die Lage für uns allmählich stabilisieren möge, um am Ende überleben zu können.

Die Sommermonate 1945 waren vor allem mit Arbeit zur Instandsetzung des Barackenlagers selbst angefüllt. Die inzwischen halb verfallenen Baracken waren einstige Unterkünfte, die die deutschen Besatzer für sowjetische Kriegsgefangene errichten ließen. Reguläre Arbeitseinsätze hatten die meisten von uns zunächst noch nicht, da unser Gesundheitszustand - OK war die russische Bezeichnung - nur 4 Stunden leichte Arbeit pro Tag zuließ. So gab es viel Zeit zum Erzählen. Thema 1 war selbstverständlich Essen und Trinken, nicht etwa wie einst Sex, ein Thema, das vorerst merklich in den Hintergrund getreten war. Aber es gab auch andere Möglichkeiten der Betätigung. Kaum zu glauben, es gab eine Art Bücherausleihe, Bücher in deutscher Sprache, wer weiß, auf welche Weise aus welchen Bibliotheken vor der Verwüstung bewahrt. Das war wieder eine Gelegenheit für mich, Antworten auf offene Fragen zu suchen. Die ersten Bücher, über die ich mich hermachte, waren Werke von Puschkin und Lermontow, dann auch Gorki. An politischer Literatur fiel mir als erstes Plechanows „Über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte“ in die Hände, danach verschiedene Schriften Lenins und dann auch das Kommunistische Manifest von Marx und Engels. So war etwa die Reihenfolge. Endlich erfuhr ich erste Antworten auf so manche Fragen, die mich schon lange bewegten. So etwa waren meine Eindrücke, wie ich sie damals in Gesprächen mit anderen äußerte. Als dann im Sommer einige Absolventen der Antifa-Zentralschule in unser Lager kamen und Vorträge hielten, war ich ein wissensdurstiger Zuhörer. So begann es, mein zunehmendes Interesse an politischen und gesellschaftswissenschaftlichen Fragen.

Der 7. Oktober 1945 wurde zu einem markanten Ereignis in meinem Leben. Die Antifagruppe des Lagers, bestehend aus 13 ‚Aktiven’, lud mich ein zu einem Gespräch. Es ging um meinen Wunsch, eventuell auch Mitglied dieser Gruppe zu werden. Das ging gar nicht so reibungslos. Immerhin brachten alle bisherigen 13 Mitglieder schon so etwas wie linke Erfahrung mit. Ich aber war nicht bereits vor 1933 Mitglied der KPD oder SPD gewesen, dafür war ich damals ja noch zu jung. Aber ich war in der Hitlerjugend, in der Nachrichten-HJ aktiv bei der vormilitärischen Ausbildung. Ist das trotzdem einer für uns, mag es in den Köpfen vor sich gegangen sein. Man ging folglich streng ins Gericht mit mir; so hatte ich jedenfalls den Eindruck. Ich erlebte also gewissermaßen ein Beispiel für die damals oft anzutreffende Enge der Auffassungen über das Anliegen des Antifaschismus, das ja nicht auf die Ziele der Arbeiterparteien zu reduzieren ist, eine Enge, über deren Tragweite wir damals nicht debattierten. Die bitteren Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus schienen die besondere ‚Wachsamkeit’ und die damit verbundene Enge zu rechtfertigen, natürlich auch verbunden mit dem Hinweis auf die notwendige Breite des antifaschistischen Bündnisses.

Ob ich es auch ehrlich meine mit meinem Wunsche, aktive antifaschistische Arbeit zu leisten, wurde ich gefragt. Ein anderer sagte: „Jetzt wären wir mit dir 14, vielleicht sind wir zum Jahreswechsel 20. Traust du dir zu, in irgendeine Baracke zu gehen und mit unserer Kriegsgefangenenzeitung in der Hand Agitation gegen Faschismus und für die Aufklärung der Kriegsursachen zu machen?“ - Ich wollte es zumindest versuchen, sagte ich, und ich hielt mein Wort.

Die Freizeit war nun ausgefüllt mit dem Besuch von Vorträgen, mit Lesen, mit Diskussionen in den Unterkünften und oft auch mit Diskussionen im Kreise älterer Kameraden, eben vor allem ehemaligen KPD- oder SPD-Genossen, mitunter bis in die halbe Nacht. Ich suchte ja Antwort auf viele Fragen, und auch Antwort auf manche Schmähungen, die mir an den Kopf geworfen wurden. Wie oft stand ich da in Diskussionen und mußte sagen: ‚Das weiß ich nicht’ und mußte manch hämisches Lachen einstecken, wenn ich sagte, ich wolle mich mit Erfahreneren beraten und morgen wiederkommen. Dennoch brachten mir das Wiederkommen, bescheidenes Auftreten und ernsthaftes Suchen nach eigenen Antworten allmählich einen gewissen Respekt ein, beförderten das Nachdenken bei manchen meiner Gesprächspartner und bei mir selber.

Viele Fragen betrafen natürlich unser eigenes Lagerdasein, beginnend bei der Verpflegung. Dreimal täglich einen Schlag Suppe, bei der mehr Augen hinein- als herausguckten, und einen Kanten Brot, kein Brotaufstrich, kein Belag, kein Gemüse, kein Obst und dabei arbeiten, und das jahrelang ohne zu wissen, wann es nach Hause geht, das war gewiß hart, gelinde ausgedrückt, auch ohne nur zu erahnen, welche gesundheitlichen Spätfolgen das für den einzelnen haben konnte und schließlich hatte. Das ist wahr. Zur Wahrheit gehörte natürlich ebenso, daß Deutschland in die Sowjetunion eingefallen war, ihr unsagbare Verwüstungen und Menschenopfer zufügte, daß wir Deutschen ebenfalls millionenfach diesen Wahnsinn mit unserem Blut und Gut zu bezahlen hatten. Aber Tatsache war: Wir Kriegsgefangenen lebten, entgegen der faschistischen Prophezeiungen, die Russen würden alle umbringen. Wir bekamen unsere 600 Gramm Brot (russisches Kastenbrot) und dreimal Suppe täglich, Rationen laut Genfer Konvention, das, was wir zum bloßen Überleben brauchten. Das hatte bei weitem nicht jeder Sowjetbürger. Hungersnot, auch vor unseren Lagertoren, besonders 1947, forderte ihre Opfer.

Was sie von uns verlangten: Arbeit zur Wiedergutmachung, so hieß das. Das wollte ich. Was sie forderten: Nachzudenken über Charakter und Ursachen der Nazidiktatur und des von ihr entfachten Krieges und darüber, wie wir beitragen können, daß unser Volk eine Tages wieder einen geachteten Platz unter den friedliebenden Völkern einnehmen kann. Das entsprach dem Gebot der Potsdamer Konferenz. Das wollte ich, Deutschland und mir selbst zuliebe. Dies war in etwa die große Linie unseres Auftretens als Antifaschisten.

Aber das Leben ist bekanntlich sehr konkret. Konkret war unser aller Sehnsucht nach der Heimat. Konkret gab es so manche schlimme Depressionen - Lagerkoller hieß es beim Landser - und manchmal kurzschlüssige Verirrungen wie Fluchtversuch u. ä. Einige unserer Kameraden dachten auch so: Vorerst gehen Transporte in die Heimat nur mit Kranken. Wer weiß, wann und ob überhaupt du an der Reihe sein wirst. Vielleicht könnte man dem Krankwerden etwas nachhelfen? Brot gegen Salz, Brot gegen Machorka tauschen. Dafür gab es doch durchaus Interessenten. Das bedeutete, der Wassersucht ein bißchen nachhelfen. Bei der nächsten Arztvorstellung, die ja monatlich schon wegen der Arbeitsfähigkeit stattfand, auf das Leiden mit Nachdruck aufmerksam machen!? Um diesen Fragenkreis gab es sehr harte Auseinandersetzungen. Nicht weniger zu Fragen der Kriegsschuld Deutschlands und zu den Verbrechen des Faschismus. Von Monat zu Monat mehr war die Ungewißheit über das Ende der Kriegsgefangenschaft und unsere Heimkehr Brennpunkt der Diskussion. Das waren Fragen, auf die wir meist auch keine Antwort hatten als unsere persönliche Hoffnung.

Während all der Jahre ließ mich die Frage nach den tieferen Ursachen menschlichen Elends und gesellschaftlicher Katastrophen nie mehr los und es reifte die Erkenntnis, die ich, freilich sehr vereinfacht, mir etwa so zusammenfaßte: Dieser verheerende, grausame Krieg hat seine Wurzel, wie auch schon der erste Weltkrieg, im Imperialismus, und der Faschismus war eine besondere Herrschaftsform des Imperialismus. Damit sich so etwas nicht wiederholen kann und die Menschheit fortan in Frieden, ohne Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen leben kann, gelte es, das Übel an der Wurzel zu packen. An der Wurzel, das hieß zunächst, Nazi- und Kriegsverbrecher zu bestrafen, die großen Monopole zu enteignen und schließlich, in einer späteren Etappe den Kapitalismus überhaupt zu beseitigen, eine sozialistische Revolution durchzuführen, deren Notwendigkeit Marx und Engels begründeten. Ich wurde also Marxist und Sozialist.

Diese Erkenntnis war alles andere als ein glatter Prozeß, vielmehr von manchen Enttäuschungen und Konflikten begleitet. Das lange Lagerdasein hinterließ auch bei dem Häuflein Antifaschisten seine zermürbenden Spuren und plagende Zweifel. Gewiß, bei denen, die sich dem Leben und der Vernunft nicht verschlossen, setzte sich mehr und mehr die Einsicht in das verbrecherische Wesen des Faschismus durch, zerriß der Lügenschleier der faschistischen Ideologie. Das hatte eine große befreiende Wirkung vor allem auf die Jungen unter den Suchenden nach einem Ausweg aus Not und Elend, das gab uns moralische Kraft. Das machte mich auch wißbegierig nach dem Sozialismus.

Was mich von Anfang an am Sozialismus so faszinierte und immer wieder fasziniert, das war und ist, eine Vision zu haben von einer für das einfache Volk erstrebenswerten Zukunft, eine Alternative zum Kapitalismus zu sehen, der die längst anstehenden Existenzfragen der Menschheit nicht zu lösen vermag. Wieviele dogmatische Verzerrungen der Aussagen von Marx und Engels und der Kampferfahrungen der Arbeiterklasse haben wir dabei leider in Kauf genommen und erschienen uns damals sogar als Leuchtfeuer menschlicher Erkenntnis! Hinzu kam die Ahnungslosigkeit vom Ausmaß des Mißbrauchs sozialistischer Ideale innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung und von den Verbrechen am Sozialismus und an aufrechten Sozialisten in der Sowjetunion selbst. Das trug gewiß dazu bei, daß schon hier die Quelle reichlich floß für die Vertrauensseligkeit und Leichtgläubigkeit, mit der ich damals die ‚Unbesiegbarkeit’ des Sozialismus sowjetischer Prägung aufnahm. Ja, ich wurde Marxist - leninistischer und zunächst auch stalinscher Prägung und Verzerrung und habe ein Leben lang gebraucht, um Schritt für Schritt hinter die Verfälschungen durch die Parteioberen zu kommen, wobei auch die bürgerliche Ideologie stets das Ihre tat, um Marx in ihrem Sinne zu verfälschen und zu verteufeln. Es ist schon eine Tragik, wie auf diese Weise die Ideale des Sozialismus und die Ideen von Marx und Engels in Mißkredit gebracht wurden.

Und trotz alledem: Marx lebt! Er gehört für mich zu den ganz Großen der Geschichte, und er wird uns auch in Zukunft sicher noch viel zu sagen haben. Er hat mir in meinem denkendem Leben viel geholfen. Hätte ich ihn nur noch besser gelesen und durchdacht, wäre mir wahrscheinlich mancher bittere Irrtum erspart geblieben!

Anfang Februar 1948 begann der erste Vierteljahreslehrgang an der neu gegründeten Antifa-Gebietsschule in Tallinn, und ich war unter den Delegierten. Das war ein tiefer Einschnitt in meinem Leben. Ende April war der Lehrgang zu Ende, und seine Teilnehmer wurden in die Heimat entlassen. Ich allerdings wurde gebeten, als einer der drei Seminarlehrer zu bleiben. Ich blieb, bis Ende November 1949, als wir mit dem letzten Lehrgang dieser Schule und mit einem der letzten Transporte deutscher Kriegsgefangenen aus Estland nach Hause fuhren.

Als ich nach Hause kam, war die DDR acht Wochen alt. Diesem Staat fühlte ich mich von Anfang an voll zugehörig. War doch meine Tätigkeit als Lehrer an der Antifagebietsschule in Tallinn seit 1948 nicht zuletzt darauf gerichtet, daß wir uns - Lehrer wie Kursteilnehmer - mit der Volkskongreßbewegung für Einheit und gerechten Frieden näher vertraut machten. Kreisten doch unsere Gedanken in den abendlichen Diskussionsrunden immer wieder um die Frage, wie wir uns selbst nach unserer Rückkehr in diese Bewegung einbringen könnten. Unser letzter Lehrgang - ein Kurzlehrgang Oktober/November 1949 - war sogar gruppenweise spezialisiert, indem sich die einen mit Fragen der Jugendarbeit in Ost oder West befaßten, andere mit Fragen der Industrie. Ich selbst war mit Vorlesungen und speziellen Seminaren zu Fragen der Landwirtschaftsentwicklung beauftragt.

Mit der Gründung der DDR verbanden sich meine Hoffnungen auf eine Zukunft in Frieden und Freundschaft mit allen Völkern. Nach jahrelangem Kampf für Einheit und gerechten Frieden, nach der separaten Staatsgründung im Westen mit einseitiger Bindung an die Westmächte und deren Wirtschaft und Politik war für mich wie für viele andere die Gründung der DDR mit deutlicher Zielsetzung einer antifaschistischdemokratischen Ordnung die notwendige Alternative.

Die deutsche Zweistaatlichkeit war zugleich Ausdruck des bereits begonnenen Kalten Krieges zwischen den beiden Weltsystemen, und darin eingebettet begann auch bald das deutsche Sozialismusexperiment, dem mein Wirken fortan galt. An diesem Stück deutscher Geschichte habe ich bewußt und engagiert teilgenommen. Darin sehe ich nichts Ehrenrühriges und zu Bereuendes. Was ich allerdings bereue, ist, so spät und zu langsam die sukzessive Pervertierung unserer sozialistischen Ideale erkannt zu haben und nicht entschieden dagegen aufgetreten zu sein. Zu spät und zu langsam habe ich erkannt, daß es so nicht geht mit der Alternative, daß wir so den Idealen des Sozialismus nicht näher kamen, daß sich unser Konzept und der eingeschlagene Weg als unausgereift und ungeeignet erwiesen, um solche gesellschaftlichen Triebkräfte zu entfachen, die dem Kapitalismus eindeutig überlegen gewesen wären, daß sich folglich die anfängliche Begeisterung für den Sozialismus immer mehr in Grenzen hielt und zu versiegen begann, daß wir ohne Entwicklung echter sozialistischer Demokratie unfähig zu notwendigen Reformen waren.

Aber war denn ein demokratischer, reformierter Sozialismus überhaupt noch möglich? Waren echte Umbrüche in diese Richtung überhaupt jemals möglich in dieser DDR? Aus heutiger Sicht meine ich: Nein! Unsere gesellschaftlichen Verhältnisse, die wir Sozialismus nannten, entsprachen bei aller Spezifik in ihren Grundzügen dem sowietischen Modell. Wir konnten als DDR nur an der Seite und mit der Sowjetunion existieren und eine solcherart nichtkapitalistische Entwicklung nehmen. Eine ernsthafte Reformierung in Richtung demokratischer Sozialismus wäre durch die Sowjet-nion, unter Umständen mit Gewalt, verhindert worden oder umgehend in eine Rückkehr zu kapitalistischen Verhältnissen umgeschlagen.

Erst die tiefe Krise in der Sowjetunion selbst und die unter Gorbatschow eingeleitete Perestroika machte die friedliche Revolution' in der DDR möglich, deren Ergebnis der Zusammenbruch des Staatssozialismus der DDR und das Ende der DDR war, in engem Zusammenhang mit dem Ende der Sowjetunion und der anderen Staaten Europas, die den Sozialismus auf ihre Fahnen geschrieben hatten.

Es kann natürlich nicht Anliegen dieses Beitrags sein, eine Art Wertung der 40jährigen Existenz der DDR vornehmen zu wollen, auch wenn dies nur aus ganz persönlicher Sicht und partiell möglich wäre, so wie ich sie erfahren, erlebt und mitgestaltet habe. Zu einer ernst zu nehmenden Wertung wird es, so glaube ich, noch vieler derartiger spezieller Beiträge bedürfen. Aber bei allem Nachdenken darüber scheint mir folgender Tatbestand ein unverzichtbarer Ausgangspunkt zu sein: Deutsche Geschichte wurde über 40 Jahre lang von zwei deutschen Staaten gemacht, die sich wechselseitig stark beeinflußten, und auch nicht nur allein von diesen beiden deutschen Staaten. Ein bedeutender Fakt ist nicht zuletzt, daß weder die DDR noch die BRD während dieser Zeit in Kriege gegen andere Völker verwickelt waren.

Von deutschem Boden darf nie wieder ein Krieg ausgehen! Dem Faschismus, Rassismus und Völkerhaß keine Chance! Für Frieden und Völkerfreundschaft!

Dafür habe ich in der DDR gelebt und gewirkt. Diesem Anliegen gilt mein ganzes Sinnen und Trachten heute nicht weniger.

Prof. Dr. Johannes Aurich


1 HKL - Hauptkampflinie


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